Poesie & Prosa

Das Leben in Fetzen

Philippe Lançon: «Le lambeau»

Wenige Minuten dauerte das Attentat auf die Redaktion des französischen Satiremagazins «Charlie Hebdo». Ein Überlebender berichtet vom Moment des Schreckens – und seinen Folgen.

Von Barbara Villiger Heilig, 20.09.2018

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Philippe Lançon, aufgenommen zwei Jahre vor dem Anschlag. Hannah Assouline/Opale/Laif

Am 7. Januar 2015 erledigte Philippe Lançon bei laufendem Radio seine Gymnastikübungen, trank Kaffee, checkte Mails: Morgenrituale. Die Radiosendung betraf Michel Houellebecq, dessen Roman «Soumission» an jenem Tag in die Buchhandlungen kam. Als Kulturredaktor bei «Libération» hatte Lançon den Roman bereits rezensiert. Demnächst sollte er ein Gespräch mit Houellebecq moderieren. Dazu machte er sich Gedanken.

Wir denken immer an die Zukunft, als könnten wir sie vorwegnehmen.

Nicht nur in Paris bestimmte Houellebecq die Tagesaktualität. Ein Vorabexemplar von «Unterwerfung», der deutschen Übersetzung seines Romans, lag auch in meinem Büro. Soumission, Unterwerfung: Das ist es, was «Islam» bedeutet. In seiner provokativen Fiktion fantasiert Houellebecq die baldige Islamisierung Frankreichs herbei. (Nach den Ereignissen des 7. Januar zog er sich zurück und verweigerte jeglichen Kommentar.)

Lose Zähne

In Paris fuhr Philippe Lançon auf dem Velo an die Arbeit. Direkt zu «Libération» oder zuerst zu «Charlie Hebdo»? Er entschied sich für das Satiremagazin, zu dessen Mitarbeiterstamm er als Kolumnist zählt. Rund um den Redaktionstisch frotzelte man über Houellebecq: Im Gewand eines Zauberers zierte der verhutzelte Schriftsteller das Titelblatt der druckfrischen «Charlie»-Ausgabe. Unter den Prophezeiungen, die er in Sprechblasen von sich gab, besagte eine: «2015 verliere ich meine Zähne.»

Was im Sitzungszimmer von «Charlie Hebdo» ab 11.25 Uhr passierte, verfolgte dann die gesamte Welt. Eilmeldungen in kurzen Abständen brachten das Attentat aus der Pariser Innenstadt auf meinen Bildschirm. Ich las von Toten – und einem Schwerverletzten, dem das Kinn weggeschossen worden sei.

Eine der ersten Wahrnehmungen dieses Schwerverletzten waren die losen Zähne in seinem Mund, wie wir in «Le lambeau» erfahren. Le lambeau, der Fetzen – der Titel dieses Buchs spielt auf zerfetzte Körper an, sein Inhalt befasst sich in ausufernder Detailversessenheit mit Chirurgie. Trotzdem wendet es sich nicht an ein medizinisches Spezialistenpublikum. In Frankreich wurde es zum Bestseller.

Doch auf der soeben veröffentlichten Liste mit den Anwärtern auf den Prix Goncourt fehlt es: Laut Statuten gebührt er ausschliesslich fiktionalen Prosawerken. Ein Entrüstungssturm geht durch die sozialen Medien. Für einmal übersteigt die Schilderung der Realität jede Fantasie – und verpasst, weil sie nicht erfunden ist, den wichtigsten französischen Literaturpreis.

Auch mich hat «Le lambeau» fasziniert. Warum?

Vorher/nachher

Lançon schildert die Attacke aus der Perspektive desjenigen, der sie erlebt und überlebt hat. Sein Zeugenbericht umfasst rund fünfhundert Seiten. Zehn davon beschreiben das Attentat, dreissig weitere die Sequenz danach, als «les tueurs», wie die Täter genannt werden, abgezogen waren. Ein Blutbad.

Und der Rest?

Der Rest dreht sich in Endlosschlaufen darum, wie ein Leben durch das Attentat entzweigeschnitten wird – definitiv. Vorher/nachher: Der knappe Einschnitt dazwischen lässt für «fast nichts» Platz. «Aber dieses ‹fast nichts› hört nie auf. Alles, was kommt, wenn man überlebt, wird von ihm bestimmt.»

Davon handelt Lançons Buch.

«Le lambeau» zeichnet eine doppelte Rekonstruktion nach. Sie kann nicht gelingen: Weder ist das Kinn nach annähernd zwanzig chirurgischen Eingriffen einwandfrei wiederhergestellt, noch ist die existenzielle Verwundung verheilt. Philippe Lançon verschriftlicht den zermürbend langwierigen Prozess in den wechselnden Rollen des Opfers, des Selbstbeobachters, des Journalisten. Kapitel für Kapitel, Seite für Seite protokolliert er, was mit ihm passiert, wie er auf wen reagiert, welche Reminiszenzen und Assoziationen sein Zustand hervorbringt. Ist er ein survivant oder ein revenant? Beides: ein gespenstischer Überlebender.

Stimmen, Schreie, Schüsse

Die Schilderung des Attentats erfolgt in Slow Motion. Plötzlich dringt ein Geräusch in die Redaktionssitzung, undefinierbar, uninterpretierbar – oder setzt das Denken aus? Stimmen, Schreie. Blicke zwischen den Kollegen, die mehr sehen als Lançon. Schüsse. Eine Gestalt durchschreitet den Raum, schiesst und wiederholt: «Allahu Akbar.» Da liegt Lançon schon am Boden, weshalb er das, was er wahrnimmt, aus der Froschperspektive und wie in einem Manga-Comic wiedergibt: zwei schwarze Beine und einen Gewehrlauf.

Wenige Minuten dauert der Überfall. Schon ist der Spuk vorbei. Eine Farce? Ein Tarantino-Film? Eine Karikatur? Nur widerstrebend bahnt sich das Bewusstsein seinen Weg. Stille liegt über allem. «Die Toten hielten sich fast bei den Händen»: Nach der action, die uns beim Lesen den Atem raubt, das Requiem, sanft, zärtlich, intim. Worte aus einem Zwischenreich, in dem sich Leben und Tod vereinen. Ein Augenblick der Unendlichkeit.

Die Aussenwelt

Draussen bricht Hektik los. An jenem graukalten Januartag – von dem Lançon nichts mitbekommt – übernehmen Nachrichtenprofis das Feld. News-Redaktionen geraten ins Fieber. Das übliche Muster: Die Ohnmacht in Anbetracht einer Katastrophe führt zu journalistischem Aktivismus. Er verleiht einem das heroische Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Den brutalen Lauf der Dinge eindämmen zu können. Zu helfen. Helfen?

Bald darauf war auch ich in Paris. Sah die Anhäufung von Blumen rings um die abgesperrte Rue Nicolas-Appert, den Sitz von «Charlie Hebdo». Hörte den internationalen Fernsehleuten zu, deren Open-Air-Studios wie Pilze aus dem Boden schossen. Besuchte einen Kollegen bei «Libération», wo, abgeschirmt in einer Ecke, das Grüppchen der dislozierten «Charlie»-Überlebenden sass. Ihr Anblick war ein Schock. Was mochten sie fühlen?

«Le lambeau» gibt eine Antwort auf diese Frage.

Während der Lektüre des Buchs bestätigte sich mehr und mehr meine Vermutung, dass die in unmittelbarer Folge des Attentats veröffentlichten Artikel, Analysen, Reportagen, Interviews und Debatten einer Bewältigungsstrategie gehorcht hatten, die sich nur auf einen Teil der Wahrheit richtete. Den anderen Teil erzählen Bücher wie «Le lambeau».

Das kaputte Jetzt

Im Krankenhaus hört Lançon weder Radio, noch schaut er Fernsehen. Er kehrt sich nach innen. Hass empfindet er keinen. Hingegen ein Leid, das ihn komplett ausfüllt: «Je ne souffrais pas, j’étais la souffrance.»

Der verwundete Körper, die einsetzenden Schmerzen. Kapriziöse Apparaturen. Künstliche Ernährung. Vollnarkosen. Verstörte Angehörige: Bruder, Eltern, Ex-Frau. Die Freundin, samt Beziehungskrise. Der Besuch von François Hollande (sogar Humor darf sein, vorzugsweise schwarzer). Bewaffnete Polizisten vor der Zimmertür, vor dem Operationssaal. Pflegerinnen und Pfleger. Eine Chirurgin, deren Präsenz weit über die Eingriffe hinausgeht: Sie erscheint als eigentlicher Schutzengel.

Träume, Albträume, Morphiumträume. Erinnerungen, die sich neu einfügen ins Puzzle des kaputten Jetzt. Oder Fotos, die Lançon realisieren lassen, dass seine Beziehung zur eigenen Vergangenheit am 7. Januar abgebrochen ist.

Was Kunst vermag

Ausserdem: Literatur, Musik, Malerei. Lançon macht kein Geheimnis aus seiner bürgerlichen Herkunft. Als junger Journalist muss er eine Mischung aus Wunderkind und Musterschüler gewesen sein, später wurde er ein Star. Zu seinem Gepäck gehört ganz selbstverständlich die klassische Bildung.

Bei der Schilderung, wie ihn nach dem Massaker Sanitäter über die Leichen seiner Kollegen hinwegtragen, findet er in Baudelaire ein spontanes Echo. Zu verlässlichen Begleitern in den Operationssaal werden Kafkas «Briefe an Milena» oder Thomas Manns «Zauberberg». Wieder und wieder liest Lançon eine Passage aus Prousts «Recherche»: den Tod der Grossmutter.

Linderung spendet ein Ghettoblaster, aus dem «Die Kunst der Fuge», «Das Wohltemperierte Klavier», die «Goldberg-Variationen» erklingen. «Bach senkte sich herab auf das Zimmer und das Bett meines Lebens», schreibt Lançon, dessen Horizont sich monatelang auf die Krankenhauswelt beschränkte. Ein Kokon, Schutz und Bedrohung zugleich – denn irgendwann muss sich der Patient wieder der Aussenwelt stellen.

Ein erster Versuch glückt dank Velázquez. Der Grand Palais widmet dem Maler eine Schau. Von ihrem Besuch, zweieinhalb Monate nach dem Anschlag, macht Lançon seine «Wiedergeburt» abhängig. Nicht nur, weil er sich mit einer Ausstellungsbesprechung in der Öffentlichkeit zurückmeldet.

Der 13. November

Mit den Mitteln der Sprache unternimmt «Le lambeau» die Überwindung einer existenziellen Erschütterung. Wie trügerisch die Annahme ist, das Vorhaben führe zum Erfolg, beweist der Schluss des Buchs. Am 13. November spaziert Philippe Lançon gegen Abend mit seiner Freundin durch Manhattan, als ihn per Telefon die Nachricht des Anschlags auf den «Bataclan» erreicht. Der Terror holt ihn ein. Der Horror ist wieder da.

«Le lambeau» ist ein unergründliches, unerschöpfliches Buch. Und ein unbedingt lesenswertes: Es spricht für all jene Opfer in der heutigen Welt, denen die Worte fehlen. Es spricht zu uns allen.

Der Link zum Buch

Philippe Lançon: Le lambeau. Gallimard, Paris 2018. 510 S., ca. 21 Euro. Im März 2019 erscheint das Buch auf Deutsch beim Tropen-Verlag. Hier gehts zur Leseprobe der französischen Ausgabe.

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