Maurizio di Iorio

Die Modedroge, von der niemand spricht

Betablocker machen leistungsfähig und helfen gegen Angst und Lampenfieber. Musiker schlucken die Pillen genauso wie Ärzte und Anwältinnen. Nur  – was ist der Preis?

Von Simon John, 20.12.2018

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Ich bin Arzt. Bis heute erinnere ich mich mit Schrecken an meine Examen. Eine praktische Prüfung gegen Ende des Studiums, ich im weissen Kittel, vor mir der Professor, daneben Patientin Hugentobler, die eigentlich Schauspielerin war und eine Krankheit vorspielte – und ich stand da und wusste gar nichts. Ich setzte ein Pokerface auf, versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber innerlich war ich wie gelähmt. Tunnelblick, Denkblockade, leerer Kopf. Wirre, im Kreis rasende Gedanken. Derweil sich Frau Hugentobler schmerzverzerrt an den Bauch fasste.

Meine Prüfungsangst war extrem: Schon beim Üben in der Gruppe wollte mir nicht einfallen, was bei einem Bandscheibenvorfall zu tun ist, so verkrampft war ich. Das sprach sich herum: Als es ans Staatsexamen ging, meldete sich eine Mitarbeiterin des Dekanats bei mir und fragte mitfühlend, ob ich psychologische Beratung brauche. Ich lehnte ab.

Ich weiss, ich bin nicht der Einzige. Fahrprüfung, Bewerbungsgespräch, Auftritt: Es muss kein Säbelzahntiger sein, es reicht ein Fahrprüfer mit dem Mundgeruch eines Raubtiers, schon wird der Darm trockengelegt, werden die Muskeln angespannt und mit Blut geflutet, als müssten wir zuschlagen oder wegrennen, stundenlang, über Sand oder Schnee, um unser Leben zu retten, unser mickriges, kostbares Leben.

Frau Hugentoblers Bauchproblem löste das allerdings nicht.

Wie alles begann

Wir schreiben die 1960er-Jahre. Rausch, Aufruhr, Experimente, und der Mediziner James W. Black tüftelt an einem Wirkstoff, der gestresste Herzen beruhigen soll.

Bis dahin sind viele bedeutende Medikamente durch Zufall entdeckt worden, Penicillin etwa, indem ein Forscher den Inhalt einer Petrischale verschimmeln liess und nach den Sommerferien bemerkte, dass sich ein Bakterienstamm darin nicht ausgebreitet hatte. James W. Black aber geht methodisch vor. Er weiss um Betarezeptoren am Herzen und vermutet: Wenn man diese blockiert, dann können Adrenalin und Noradrenalin dort nicht mehr andocken. Dann kann sich ein rasendes Herz erholen.

Er entwickelt einen ersten Betablocker, Propranolol heisst er, und tatsächlich: Weil er den rastlosen Herzmuskel langsamer schlagen lässt und damit schont, verlängert er das Leben unzähliger Menschen mit Herzversagen und Bluthochdruck. 1988 erhält James W. Black den Nobelpreis in Medizin für seine Entdeckung.

Doch Propranolol kann noch mehr. Denn es wirkt im ganzen Körper, auch im Gehirn. Mit einem bald höchst erwünschten Nebeneffekt: Angst, Nervosität und Lampenfieber verschwinden. Und damit das Zittern in der Stimme, der Nebel im Kopf und der Schweiss an den Händen. Und das spricht sich bald herum.

Tablettenhandel im Orchestergraben

Als Erstes lassen sich die Musiker verführen. Man schätzt, dass heute mindestens ein Drittel aller Profimusiker gelegentlich Betablocker nehmen. Eine von ihnen soll hier Carla Negrón heissen, ihren richtigen Namen will sie nicht veröffentlicht sehen.

Negrón ist die erste Musikerin, die ich in meinem Bekanntenkreis anfrage, als ich in Sachen Betablocker recherchiere. Die Antwort kommt sofort: «Betablocker? Ja, habe ich schon genommen.»

Wir treffen uns abends in einer Bar in Basel. Draussen ist es dunkel, drinnen gedimmtes Licht. Ein Scheinwerfer würde besser zu Negrón passen. Denn auch wenn sie leise spricht: Sie geniesst es, wenn man ihr zuhört – auf der Bühne wie im Leben. Doch dieses Thema ist ihr unbehaglich: Der Betablocker ist ein Makel in ihrer Karriere als Pianistin. Also versucht sie ihn kleinzureden.

«Ein Wunder bewirken Betablocker nicht», sagt sie. «Dein Spiel wird ein bisschen lasch. Man spielt damit schlechter, denn wenn du nicht mehr richtig fühlst, wirds flach. Die Nervosität ist zwar weg mit dem Betablocker, aber man braucht etwas Nervosität, um sich konzentrieren zu können.»

Als sich Negrón um den Studienplatz an der Hochschule Luzern bewirbt, ist der Druck gross. Denn in Basel ist sie schon abgelehnt worden. Monatelang hat sie Beethovens Sonate pastorale Nr. 15 geübt. Der Lauf mit der linken Hand muss um jeden Preis gelingen in diesem kurzen Moment, in dem nur zählt, was zwischen ihr und den Tasten entsteht. Sie hat Angst vor einem Blackout, davor, den Einsatz nicht zu finden und sich vor der Prüfungskommission zu blamieren.

Doch Hilfe ist greifbar: eine Tablette, die ihr eine Freundin an der letzten Probe zusteckt. Negrón nimmt sie, ist begeistert, nimmt eine zweite an der Aufnahmeprüfung – und legt los. Unvermittelt bricht die Jury ab, noch ehe Negrón den gefürchteten Lauf anspielt. Die Entscheidung ist schon getroffen: Sie bekommt den Studienplatz.

Dank dieser einen Tablette? Bis heute hat Negrón Gewissensbisse: «Betablocker fühlen sich wie eine Lüge an. Man sollte einen Weg ohne sie finden. Ohne kann es zwar passieren, dass man viele Fehler macht, dafür ist das Spiel ausdrucksvoller. Das kann man verzeihen. Aber ohne Ausdruck zu spielen? Das ist für nichts.»

Betablocker, findet sie, seien unfair. Und man rede kaum darüber unter Musikern. Weil niemand eine Schwäche zeigen wolle.

Ich stelle eine letzte Frage: «Würdest du wieder Betablocker nehmen für ein wichtiges Konzert?»

Sie überlegt kurz und sagt dann leise: «Ja, vielleicht.»

Und dann lehnt sie sich vor und fragt, was mich alle Musiker fragen werden, wenn ich in den kommenden Wochen das Thema anschneide: «Hast du mit anderen gesprochen? Nehmen viele Betablocker?»

Der Konkurrenzkampf macht argwöhnisch. Und erklärt das Tabu, das auf den Tabletten lastet. Das Verhältnis der Musiker zum Betablocker gleicht dem der Mönche zum Onanieren: Viele tun es, aber keiner spricht darüber.

Frage an eine Professorin – was weiss sie über Betablocker? Barbara Doll unterrichtet an der Musikhochschule Basel Violine. Ja, auch sie hat eine Bekannte, die auf Betablocker schwört, während sie andere Medikamente meidet wie eine Katze den Regen. Die erste Tablette sei eine Offenbarung gewesen, seither nehme sie regelmässig die Pillen – und spiele deutlich besser. Nicht ohne Gewissensbisse.

«Wenn man als Musiker die Leistung nur unter Betablockern bringen kann, ist das ein Tatbestand, mit dem man sich erst mal anfreunden muss», sagt die Professorin.

Doll hat Verständnis dafür, dass junge Musiker und Musikerinnen gelegentlich zum Betablocker greifen. «Wenn sie sich um einen Platz im Orchester bewerben, entscheiden die drei Minuten des Probespiels über das zukünftige Leben», sagt sie. Ein zitternder Bogen wird zur Tortur, und manche Jury provoziere gezielt die Ausnahmesituation: «Sie wählen manchmal absichtlich einen langsamen Satz mit hohen Tönen.»

Jung, erfolgreich, nervös

Seit je experimentieren Menschen mit stimulierenden, beruhigenden, berauschenden Substanzen. Die Unterscheidung, ob ein Wirkstoff ein Medikament ist oder eine Droge, ist oft zufällig.

Kokain wurde früher gegen jedes Zipperlein verschrieben. Amphetamine helfen Schulkindern heute, sich besser zu konzentrieren, putschen aber auch auf, im Nachtclub oder im Kampfjet. Schilddrüsenhormone, künstlich zugeführt, führen zur Wunschfigur. Hustensirup sorgt für gute Hip-Hop-Partys. Mit Viagra können auch junge, gesunde Männer vögeln wie Pornostars. Cortison hilft alten Menschen gegen Rheuma, aber auch Radrennfahrern, um im Endspurt das letzte bisschen Energie aus den Oberschenkeln rauszuquetschen.

Nur die Betablocker, nicht als Medikament, sondern als Konzentrationsförderer genommen, sind bisher kaum beachtet worden. Vielleicht, weil sie im Vergleich zu anderen Mitteln kaum Schaden anrichten. Sie töten keine Nervenzellen, würgen keine Herzen ab. Machen nicht süchtig und spülen keine Geldscheine in die Koffer von Kartellen.

Vielleicht fallen sie deshalb nicht auf, die Menschen, die mithilfe von Betablockern das Beste aus sich herausholen. Die Anwälte, Musikerinnen, Börsenhändler. Was sie verbindet: Sie sind jung und hoch qualifiziert. Sie haben viel: Intellekt, Ehrgeiz, Disziplin. Sie gehen raus, mit einem unstillbaren Hunger auf die Welt – die sie das Fürchten lehrt. Es braucht Mut, um zu den Besten zu gehören. Also helfen sie nach.

Lieferung aus dem Darknet

Manuel Hartmann holt mit weiter Geste aus, bevor er die Hand reicht. Der Dreissigjährige ist in der Schweiz aufgewachsen und forscht seit drei Jahren an der Universität Stanford – mit guten Aussichten auf einen Professorentitel, vielleicht in Zürich, vielleicht in Genf. Hartmann arbeitet an seinem PhD in Wirtschaft und muss regelmässig Forschungsergebnisse präsentieren. Zuletzt in Barcelona, vor 200 Fachkollegen.

Auch Hartmann und ich haben gemeinsame Bekannte. Es ist nicht schwierig, einen aufsteigenden Wissenschaftler zu finden, der Propranolol nimmt. Hartmann empfiehlt es seinen Freunden ausdrücklich. Er ist ein richtiger Fan davon. So kam ich mit ihm in Kontakt. In der Republik lesen möchte er seinen richtigen Namen aber auch nicht. Nicht weil er sich dafür schämt, sondern weil es seiner Karriere schaden könnte.

Gerade ist er in Zürich, um seine Familie zu besuchen. Wir sitzen im Volkshaus. Hartmann hat einen Unterkiefer wie ein Amboss. Er lacht viel, und dabei erzählen Fältchen unter seinen Augen von pausenloser Arbeit.

Worauf man erst mal nicht kommt: Hartmann hatte schon immer starkes Lampenfieber. Schon als Kind, wenn er in der Schule einen Vortrag halten musste. Daran hat sich bis vor kurzem nichts geändert: Er zittert, es verschlägt ihm die Stimme, er wird durstig. Sobald er spürt, wie gestresst er ist, wird er gleich noch gestresster.

Er nimmt einen Schluck Apfelsaft. Er trinkt keinen Kaffee, weil der süchtig mache. Weil man dann jeden Tag Kaffee trinken müsse. Anders als beim Betablocker.

An die erste Einnahme kann sich Hartmann nur ungenau erinnern, zu viele Vorträge liegen dazwischen. Wahrscheinlich bekommt er die erste Pille von einem Freund. Die Wirkung ist eine Erlösung. «Huere geil!» Ein Segen – er steht vorn und ist entspannt.

Also will er mehr davon. Er bestellt die Tabletten im Darknet, dem anonymiserten Teil des Internets, wo Spuren im digitalen Sand verlaufen und billig produzierte Generika aus Indien zum Verkauf stehen. Er könnte es wahrscheinlich einfach verschrieben bekommen, aber im Darknet geht es schneller. Dass es sich dabei immerhin um ein verschreibungspflichtiges Medikament handelt mit möglichen Gefahren und Nebenwirkungen, beeindruckt Hartmann nicht: Gemäss seiner Erfahrung ist es kaum schädlich. Nach den Vorträgen ist er für einige Stunden sehr erschöpft. Eine Nebenwirkung? Wenig später geht es ihm wieder gut.

Über die nächsten zwei Jahre braucht Hartmann das Medikament weniger oft. Es steht als Back-up zur Verfügung, schon das beruhigt. Bis dahin war er schon den ganzen Tag nervös, wenn abends ein Vortrag anstand. Jetzt weiss er: Eine halbe Stunde bevor er auf die Bühne tritt, könnte er Propranolol einnehmen und wäre locker. Das entspannt ihn.

Einmal muss er einen Starprofessor in einer beliebten Vorlesung vertreten. Die Studierenden erwarten Charisma und Unterhaltung. Hartmann nimmt die Maximaldosis. Er überzeugt. Er redet geistreich und amüsant. Noch Tage später erhält er lobende Zuschriften.

Die Betablocker seien ein Teil seines Lebens geworden, sagt Hartmann. Warum solle er darauf verzichten?

Wenn die Hand zittert

Als Martin Feigenwinter, ein befreundeter Mediziner, als Student im Operationssaal antreten muss, versucht er es gar nicht erst ohne. Die Deckenleuchte strahlt auf einen Körper, der erschlafft daliegt und nur von einer Beatmungsmaschine am Leben gehalten wird. Wenn er die klaffende Haut mit einem Haken offen hält, wenn er die Nadel führt, sind nicht nur viele prüfende Augenpaare auf ihn gerichtet, auch das Wohlergehen eines Menschen liegt in seiner Hand – die ruhig bleibt, Propranolol sei Dank.

Feigenwinter, damals 26 Jahre alt, bekommt das Medikament von seinem Vater. Der ist Hausarzt und nimmt es auch, wenn er eine Wunde nähen muss. Das Zittern, erklärt er seinem Sohn, liege bei ihnen in der Familie.

Feigenwinter probiert es – und es gefällt ihm. Sofort merkt er, wie er lockerer wird und ruhiger. Also nimmt er die Pillen weiter ein, in den nächsten zwei Monaten regelmässig. Doch mit dem Praktikum in der Chirurgie hört es nicht auf. Mehrere praktische Prüfungen und ein Vorstellungsgespräch meistert er auf Betablockern. Sie verhindern ein Sich-Hineinsteigern in die Nervosität, bringen Entspannung und Beruhigung, ohne benebelt oder müde zu machen.

Wer damit anfängt, bleibt dabei

Wie viele Menschen nehmen heute Betablocker? Wann hat der Konsum zugenommen? Die Zeitschrift «Nature», hauptsächlich von Wissenschaftlern gelesen, erhob 2008 eine Umfrage. Das Ergebnis: 15 Prozent der 1400 Befragten aus sechzig Ländern gaben an, schon einmal Betablocker aus nicht medizinischen Gründen eingenommen zu haben.

Im Rahmen der Global Drug Survey, einer weltweiten Umfrage im Internet, berichteten 1,2 Prozent der Befragten, im vergangenen Jahr Betablocker «zur Leistungssteigerung» eingenommen zu haben. Über die Wirkung sind sich knapp zwei Drittel der Konsumenten erstaunlich einig: funktioniert.

So gut, dass man darauf nicht mehr verzichten kann. Larissa Maier koordinierte als Psychologin die Umfrage und sagt: «Leute, die das entdecken und gut finden, bleiben dabei.»

Gemäss Umfragen leiden rund 30 Prozent der Menschen an Lampenfieber und 5 Prozent an einer sozialen Phobie – Gruppen bereiten ihnen Unbehagen.

Vielen von uns steht gelegentlich der Angstschweiss auf der Stirn. Wenn wir uns verkaufen müssen, eine Gehaltserhöhung fordern oder mit dem Weinglas in der zittrigen Hand eine Ansprache halten müssen. Wir alle sind potenzielle Konsumenten. Die Frage liegt auf der Hand: Werden wir uns künftig alle dopen? Stehen Betablocker – eine Packung mit 50 Tabletten kostet 5.80 Franken – bald in jedem Badezimmerschränkchen?

Folgt man den Gesetzen des Marktes, müsste jemand Werbung dafür machen, es vielleicht ein bisschen teurer verpacken und bei der richtigen Zielgruppe platzieren. Als Zaubertrank, als Verheissung auf ein besseres Leben. Und dieser Jemand scheint nun da zu sein.

Das Geschäft mit der Angst

Mit seiner Idee hat Justin Ip viel Wut auf sich gezogen. Der Unternehmer will Propranolol in Form von Fruchtbonbons anbieten, zum Beispiel mit Wassermelonengeschmack. Bestellt werden kann über eine App, nachdem man kurz über Videochat mit einem Arzt gesprochen hat. Dazu hat Ip im Silicon Valley das Start-up-Unternehmen Kick Health gegründet.

Psychiater und Therapeuten in den USA laufen dagegen Sturm. Eine schreckliche Idee sei das, so würden Angststörungen und die dazugehörigen Medikamente trivialisiert. Diese sollten nicht ohne Untersuchung verschrieben werden, schon gar nicht übers Internet.

Doch Justin Ip rechnet mit reger Nachfrage. Bald soll die App live gehen, zuerst in Kalifornien. «Angst hindert dich daran, dein volles Potenzial zu entfalten, das Leben zu leben, das du leben willst», sagt Ip.

Warum ist gerade jetzt die Zeit dafür gekommen, den alten Betablocker wiederzubeleben? Haben Menschen mehr Angst? Hat der Druck zugenommen? Sind wir leistungshungriger geworden? Offener für Experimente und Substanzen?

«Es sind viele Faktoren», schreibt Ip per E-Mail, «grundsätzlich hat das Stigma gegenüber cognitive enhancement nachgelassen.» Auf Deutsch wird das häufig übersetzt mit «Hirndoping» und beschreibt den Versuch, unsere Leistungen mit allerlei Mittelchen zu optimieren. Früher, führt Justin Ip aus, hätten sich Menschen vor allem mit Krankheiten beschäftigt. Heute interessiere sie, welche Ressourcen noch in ihnen steckten.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille, und das weiss er: Zugleich haben auch Angststörungen zugenommen. Mindestens jeder zehnte Mitteleuropäer leidet im Verlauf seines Lebens darunter. Seit den 1950er-Jahren schätzt man eine Zunahme um 35 Prozent.

Der deutsche Soziologe Heinz Bude ging so weit, eine «Gesellschaft der Angst» auszurufen, so der Titel seines 2014 veröffentlichten Buches. Bude beschreibt, wie der Sozialstaat einmal allen Aufstieg und Integration versprach. Während heute zunehmend Konkurrenzkampf und Exklusion das gesellschaftliche Klima bestimmen – und damit die Angst vor Verlust und Abstieg.

Und die Gefahren?

In der Schweiz sind Betablocker zugelassen für die Behandlung von Angststörungen. Ein Rezept ist bei den meisten Ärzten einfach zu bekommen. Zum Beispiel beim Psychiater Bruno Kägi. Er verschreibt oft Betablocker. «Häufig sind es die besten Studenten, die in der Prüfung versagen, weil sie nichts mehr abrufen können.» Der Betablocker sei für sie die beste Lösung: «Wieso soll ich jahrelang in die Psychoanalyse, wenn ich das Problem mit einem Medikament sofort lösen kann?»

Er hat es selbst ausprobiert, an einem Wettschiessen im Militär: «Ich war dann ziemlich gut. Kein Wunder, dass Sportler das Medikament nicht nehmen dürfen. Es steht seit langem auf der Dopingliste.»

Sollten Betablocker auch für Studierende verboten werden? Als unfaires Hirndoping? Martin Feigenwinter, der Medizinstudent, verneint: «Ich bin nicht besser oder schlechter mit Betablockern. Ich habe einfach weniger Stress, wie mit einem Beruhigungstee.»

Auch Manuel Hartmann, der Wissenschaftler, findet den Griff zum Betablocker unproblematisch: «Wenn sich Leute in irgendeiner Art unangenehm fühlen, wenn sie angespannt oder nervös sind, gibt es nichts dagegen einzuwenden – solange es nicht schadet.»

Und es stimmt. Es schadet nur wenig. Eine körperliche Abhängigkeit gibt es nicht. Doch sehr wohl eine psychische.

So wie vielleicht bei Negrón, Feigenwinter, Hartmann, den Protagonisten dieses Artikels. Sie alle wollen nicht mehr auf Betablocker verzichten. Müssten sie es, es würde sie einiges kosten. Auf alle Drogen folgt ein Kater. Auch Betablocker haben ihren Preis. There is no free lunch. Sie nehmen es in Kauf.

Nicht eine Sekunde

Würde Frau Hugentobler, die vermeintliche Patientin, die mir in meinem Staatsexamen gegenübersass und sich den Bauch hielt vor Schmerzen, heute zu uns in die Praxis kommen, ich würde wahrscheinlich das Richtige tun: ihren Bauch abhorchen, die verdächtigen Stellen drücken, Blutwerte checken, um herauszufinden, ob es ein Magen-Darm-Infekt ist oder eine Blinddarmentzündung.

Damals, im Staatsexamen, war ich nicht so cool. Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was ich tat, so gelähmt war ich von der Angst und dem Stethoskop um meinen Hals. Auch wenn mir manche Prüfer aufmunternd warme Blicke zugeworfen haben: An mehreren Posten bin ich durchgefallen. (Trotzdem habe ich knapp bestanden und das Diplom bekommen.)*

Hätte ich damals von Betablockern gewusst, ich hätte nicht eine Sekunde gezögert, sie einzunehmen.

Und Sie?

Selbstoptimierung per Pille: Ein ethisches Problem?

Wann hätten Sie zuletzt Betablocker brauchen können in Ihrem Alltag? Sind diese Momente am Zunehmen? Würden Sie Betablocker nehmen beim nächsten Bewerbungsgespräch? Wenn nein, warum? Fänden Sie es fair, wenn es Ihre Konkurrentin täte und den Job bekäme? Wie weit darf Selbstoptimierung per Pille gehen? Heute von 16 Uhr bis 19 Uhr werden sich unsere beiden Experten in die Debatte einschalten: Simon John ist Arzt und Autor des Textes. Lorenz Schmid ist Apotheker und Zürcher Kantonsrat. Hier gehts zur Debatte.

Zum Autor

Simon John, Jahrgang 1990, ist Arzt in Zürich. Sein Traum: Zum Mars fliegen und eine autarke Zivilisation gründen, so wie Elon Musk es plant. Wer kommt mit?

*Korrigendum: In der ursprünglichen Version schrieb der Autor, er sei an der mündlichen Prüfung durchgefallen und habe mit der schriftlichen kompensieren können. Tatsächlich ist das nicht möglich, wie ein Verleger aufzeigte. Der Autor konnte die einzelnen Posten der mündlichen Prüfung untereinander kompensieren. Die mündliche Prüfung als Ganzes hatte er so bestanden.

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