Zecihnung aus dem Film zeigt eine verlorene Figur von hinten inmitten einer zerstörten Strasse.
«Chris the Swiss»: Szenen, die in Jugoslawien spielen, werden in Animationssequenzen erzählt.

Film

Spiel mir das Lied vom Krieg

Anja Kofmel: «Chris the Swiss»

Ein junger Schweizer wird Söldner, gerät zwischen die Fronten des Balkankriegs, wird ermordet. Eine verstörende Geschichte – die ein Film rekonstruieren will.

Von Ekkehard Knörer, 17.09.2018

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Es wird die Neugier gewesen sein, Draufgängertum, und Ehrgeiz war es sicherlich auch. Christian Würtenberg ist ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren, er ist Schweizer, und er zieht 1991 nach Jugoslawien in den Krieg. Als Journalist für das Zürcher Radio 24, zunächst jedenfalls, aber doch sehr auf eigene Faust.

Er kommt in Zagreb an, einer Stadt im Fieber des Kriegs, trifft im Hotel Intercontinental auf Reporter und Fotografen, Männer vor allem, aber auch Frauen, eine Clique von Veteranen, Verschworene der Arbeit in Lebensgefahr. Chris the Swiss, wie er bald heisst, ist neu unter ihnen, findet aber rasch Anschluss.

Chris, Chico und Carlos

Chris lernt unter anderem Eduardo Rózsa-Flores kennen, Chico genannt, eine Figur wie aus einem Agententhriller: Er ist in Bolivien geboren, hat in Chile und in Ungarn gelebt, wo er Ilich Ramírez Sánchez begegnete, besser bekannt als Terrorist «Carlos». Anfang der Neunziger war Chico noch Mitglied der katholischen Hardcore-Truppe Opus Dei, konvertierte später zum Islam und starb 2009 bei einem Polizeiangriff in einem bolivianischen Hotelzimmer: Er hatte mutmasslich die Ermordung von Präsident Evo Morales geplant. Kein Wunder, dass es vor «Chris the Swiss» einen Film über ihn gab, «Chico», den die ungarische Regisseurin Ibolya Fekete 2001 gedreht hat – ein kaum beachtetes, aber faszinierendes Werk.

Für Christian Würtenberg endet die Bekanntschaft mit Chico fatal. Der nämlich wechselt im Herbst 1991 die Seiten, wird vom Berichterstatter zum Kämpfer, als erster Ausländer Teil einer privaten Söldnerarmee, die für Kroatien kämpft und vom kroatischen Militär inoffiziell unterstützt wird. Er sammelt weitere Söldner um sich, teilweise Journalisten, vor allem Männer aus Lateinamerika. Auch Chris ist darunter.

Stark stilisiert: Die Protagonisten des Films.

Die Truppe beteiligt sich an ethnischen Säuberungen, terrorisiert und vertreibt Serben, mordet wohl auch. Chris the Swiss ist immer dabei. Er macht kein Hehl daraus, dass er ein Buch über das schreiben will, was er erlebt. Ein solcher Zeuge ist nicht erwünscht: Chris Würtenberg stirbt auf einem kroatischen Acker nahe Osijek, erwürgt mit seinem eigenen Schal. Alles deutet darauf hin, dass Chico den Mordauftrag gab.

Eine ratlose Familie

Für die Regisseurin Anja Kofmel ist das nicht irgendeine Geschichte. Chris war ihr cooler, bewunderter Cousin, zehn Jahre alt war sie, als er starb. Mit ihrem Langfilmdebüt «Chris the Swiss», das im Mai an der «Semaine de la Critique» in Cannes gezeigt wurde, rührt Kofmel diese Familiengeschichte nun wieder auf.

Sie spricht für den Film mit Chris’ Eltern und seinem Bruder, die auch nach all den Jahren noch mit dem Geschehenen ringen. Was hat der Sohn, was hat der Bruder sich bei diesem Irrsinn gedacht? Entscheidende Aufzeichnungen sind verschwunden, nach dem Mord wohl vernichtet. Was bleibt, sind seine Radioberichte, ein paar Fotos und Filmaufnahmen. Was ausserdem bleibt, ist Ratlosigkeit. «Er war schon ein Arschloch, oder?», ist der letzte Satz, den der Bruder im Film sagt.

Historische Aufnahme: Radiojournalist Christian Würtenberg.

Talking-Heads- und Presenter-Manier

Die Gespräche filmt Kofmel in gewöhnlicher «Talking Heads»-Dokumentarfilm-Manier. Ebenso die mit Kolleginnen und Kollegen von Chris, die sich an ihn und die finsteren Tage erinnern. Das ist aber nur eine Ebene des Films. Es kommen die – leider recht wenigen – historischen Aufnahmen von damals dazu. Besonders unvermittelt und krass allerdings: Fotos von Leichen.

Ausserdem ist immer wieder – nach Art der heute allzu beliebten Presenter-Reportagen im Fernsehen – die Filmemacherin selbst im Bild: mit fragendem, nachdenklichem Blick, im Gespräch oder für sich. In der Sache fügt das wenig hinzu, vom eigentlichen Gegenstand lenkt es ab. Noch dazu ist sie auf der Tonspur ohnehin ständig präsent. Erzählend, kommentierend, mal naiv, mal bedeutungsschwanger mit nicht unbedingt tiefschürfenden Fragen.

Spuren führen ins Private

Manche Spur, der Kofmel folgt, führt auf Abwege oder ins Nichts. So hat Chris eine kurze Notiz zu Chicos Carlos-Connection gemacht. Kofmel fährt daraufhin nach Paris, wo der Terrorist einsitzt. Er weiss von nichts, redet aufschneiderisch daher, aber auch das muss mit rein in den Film.

Andererseits erfährt man wenig über die Verwicklungen des Jugoslawienkriegs. Ein paar Schulbuchsätze über die Ustascha, die kroatische Geschichte, mehr nicht. Kofmel macht das Schicksal ihres Cousins nicht zum Ausgangspunkt einer Recherche, die wirklich ins Politische vordringt. Stattdessen führen alle Spuren zuletzt wieder zurück ins Private.

Dokumentarszene: Bild aus der Kriegszone.

Es ist eine weitere Ebene, die «Chris the Swiss» letztlich dominiert. Mit dem Mangel an dokumentarischen Aufnahmen will Kofmel nicht leben. So hat sie sich selber Bilder gemacht, aber nicht etwa Spielfilmszenen gedreht. Fast alles, was sich in Jugoslawien zuträgt, wird in Animationssequenzen erzählt. Eigentlich ist das auch der Ausgangspunkt von «Chris the Swiss». Schon in ihrem sieben Minuten kurzen Filmhochschul-Abschlussfilm «Chrigi» von 2009 hat Kofmel die Geschichte von Chris als sehr persönlichen Animationsfilm erzählt.

Grosse Vorbilder

Eine ungewöhnliche Form, aber so ganz neu ist die Idee nicht. Im Comic gibt es die Reportageform schon seit Jahrzehnten. Einer ihrer wichtigsten Pioniere, der US-Amerikaner Joe Sacco, hat Anfang der Nullerjahre mehrere Bände über den Krieg in Jugoslawien veröffentlicht. Sacco war als Reporter vor Ort, in Bosnien, Mitte der Neunzigerjahre, und versteht sich ausdrücklich als in Comicform arbeitender Journalist. Entsprechend realistisch, sachlich und klar ist sein Stil, wenngleich es gelegentliche expressionistische Einsprengsel gibt.

Um den Nahostkonflikt dreht sich der bekannteste Film, der den Geist des Dokumentarischen mit animierten Bildern verbindet. Regisseur Ari Folman berichtet in «Waltz With Bashir» (2008) halb autobiografisch von traumatisierenden Erlebnissen im ersten Libanonkrieg Anfang der achtziger Jahre. An diese Vorgänger schliesst Kofmel nun einerseits durchaus an. Chris ist der Protagonist in den animierten Passagen, die viele Lücken schliessen und zu illustrieren versuchen, was man über Chris’ Erlebnisse und Begegnungen in Zagreb wissen oder plausibel mutmassen kann.

Andererseits entfernt sich Kofmel in der Animation recht weit von Reportage und Dokumentation. Chris, Chico und die anderen Figuren sind alles andere als realistisch gezeichnet, sondern zu stark stilisierten Strichgesichtern reduziert. Auch die Animationen insgesamt sind vom sachlichen Stil Saccos so weit entfernt wie vom süffigen farbsatten Hyperrealismus von «Waltz With Bashir».

Ästhetisch gewagt und gekonnt

Kofmels Animationen sind angenähert an die kindliche Perspektive, schwarz-weiss und flächig getuscht, dabei unstet beweglich. Sie wollen nicht den konkreten historischen Ort, sondern die Stimmung des Kriegs einfangen. Wieder und wieder rutscht die Darstellung aus den realen Räumen ins Phantasmagorische: Schwarze Flecken werden zerfetzt zu Tausenden Krähen, Tausende Krähen verschmelzen zu schwarzen Flecken. Aus dem Boden spriessen Pfähle oder Lianen. Gewalt und Gefahr sind allegorisch gewendet. Das Bedrohliche wird gegenwärtig in der Atmosphäre der Bilder.

Das ist ästhetisch zunächst einmal gewagt und gekonnt. Gerade neben den grisseligen, sehr nüchternen Videoaufnahmen aus dem Krieg leuchtet das als künstlerisches Kontrastmittel ein. Es ist ja die Frage, ob sich das stumpfe Grauen des Kriegs mit realistischen Mitteln überhaupt angemessen darstellen lässt.

Künstlerisches Kontrastmittel: Animationen stehen Videoaufnahmen aus dem Krieg gegenüber.

Je länger die Animationen allerdings dräuen, noch dazu von wehklagender Musik unterlegt, desto mehr stellt sich die Gegenfrage, ob die starke Stilisierung, ob die auf Dauer doch eintönigen Phantasmagorien das Problem nicht auf die andere Seite verschieben. Die übermässige Entfernung von den Realien wird der Gewalt, wie man hier sieht, ästhetisch auch nicht gerecht.

Ambivalente Figur, ambivalenter Film

«Chris the Swiss» ist auf keiner Ebene ein ganz gelungener Film. Für die Filmkünstlerin Anja Kofmel ist die Mischung der persönlichen Formen und Bilder wohl der einzige Zugang, der ihr gemäss war. Als Zuschauer wünscht man sich, sie hätte den Blick etwas geweitet und versachlicht und die Ebenen besser verknüpft.

Ein Faszinosum bleibt dieser Chris aber doch, ein Abenteurer, der nicht ohne eigene Schuld auf die falsche Seite gerät. Eine ambivalente Figur, Täter und Opfer in einem Krieg, dessen allzu nahen Schrecken Europa schon längst wieder verdrängt hat.

Dies ist ein Vimeo-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Vimeo Sie tracken.
CHRIS THE SWISS - Swiss Trailer

Zum Autor

Ekkehard Knörer ist Kulturwissenschaftler und Filmkritiker. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redaktor der Zeitschrift «Cargo», Redaktor und seit 2017 Mitherausgeber der Zeitschrift «Merkur». Für die Republik hat er sich bereits mit Terry Gilliams Don-Quijote-Film beschäftigt.

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