Das Leben spielt

Warum so pessimistisch? Teil II

Von Olivia Kühni, 14.03.2018

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Eine beachtliche Zahl von Ihnen, liebe Verlegerinnen, liebe Verleger, hat mir nach der Publikation von «Warum so pessimistisch?» geschrieben. Einige waren wütend: Wie ich bitte sehr angesichts all des Leidens auf der Welt darauf käme, so einen Text zu verfassen? Andere waren freundlich und nachdenklich. Sie sähen das auch an sich selber, dass sie oft negativ und bitter auf die Welt blickten. Ob sich das denn ändern liesse? Ohne gleich naiv zu werden? Dieser Verweis auf die Naivität scheint mir bezeichnend. Aber dazu gleich.

Zunächst: Es gibt viele Situationen und Erlebnisse, die schwer traumatisierend und kaum zu bewältigen sind. Jeder Mensch hat mit Schicksalsschlägen zu kämpfen, und sehr viele Menschen erleben Krieg, Unfreiheit, Armut, politische Verfolgung und Gewalt. Ein Leben in Frieden und Wohlstand, wie es viele Menschen in diesem Land kennen, ist ein glücklicher Ausnahmefall, keine Selbstverständlichkeit. Ich habe das letztes Mal schon erwähnt: Nur weil die Welt insgesamt in vielen Bereichen eine bessere geworden ist (es sterben beispielsweise auch weniger Menschen im Krieg), ist sie deswegen lange nicht frei von Schmerz. Nicht für ganze Gruppen von Menschen und auch nicht im individuellen Erleben jedes Einzelnen. Dass es viel Leid gibt – viel vermeidbares Leid auch –, ist unbestritten.

Darum geht es mir nicht und ging es mir nie. Sondern um etwas anderes: Warum richten wir unseren Blick so oft auf dieses Elend statt auf das, was gut läuft? Was zwar nicht perfekt, aber einigermassen funktioniert? Das frage ich mich, gerade weil ich möchte, dass die Welt eine bessere wird. Das Studium dessen, was gut läuft (und was nicht), hilft uns zu lernen, zu handeln und die Welt zu verbessern – ständiger Weltschmerz hingegen kann oft lähmen. Warum halten wir es also für eine Tugend, an der Welt zu leiden? Warum finden wir es naiv, herzlos gar, Gelungenes ebenso anzuerkennen und daraus lernen zu wollen?

Ich glaube: Es ist weder Zufall noch gottgegeben, dass wir so denken. Die Art und Weise, wie wie wir seit einigen hundert Jahren in Europa den Menschen sehen – insbesondere im kontinentalen Protestantismus –, ist nicht besonders geeignet dazu, Menschen im Umgang mit dem Chaos der Welt zu unterstützen. Wir halten Ambivalenz nicht gut aus. Bevor ich mich aber weiter an den Versuch einer Antwort wage, muss ich in aller Demut warnen: das hier ist eine der ältesten Fragen der Menschheit; ich werde sie nicht annähernd abschliessend beantworten können. Alles, was ich bieten kann, sind ein paar Gedanken dazu.

1. Leben ist eine furchterregende Sache

Auch wenn wir das immer übersehen, weil wir egozentrische Wesen sind und das eigene Erleben stets für einzigartig halten: Die Welt hat den Menschen schon immer Angst eingejagt. Zu Recht. Leben an sich ist eine furchterregende Sache. Es ist unberechenbar, willkürlich, grausam, ungerecht, sinnlos, dann wieder wunderbar, kunterbunt, kompliziert. Kurz: Leben ist schwierig. Selbst dann noch, wenn vieles verhältnismässig gut läuft. Und oft tut es das nicht.

Menschen fürchten verständlicherweise ihre eigene Ohnmacht. Sie fürchten die ständige Beweglichkeit und Vergänglichkeit von allem, was ist. Sie fürchten Armut, Krankheit und Tod. Viele Menschen fürchten auch unsere unberechenbaren, archaischen Körper – vor allem die der Frauen –, die wilden Kapriolen unserer Gefühle, die Dämonen, die jeden von uns heimsuchen. Und vor allem, wie letztes Mal unter dem Punkt «negativity bias» erwähnt: Wenn wir uns nicht bewusst anders trainieren, neigen wir auch noch dazu, schlimme Erlebnisse viel stärker zu gewichten und besser zu erinnern als schöne Erlebnisse. Das ist etwas, was im banalen Alltag auch die Paartherapie weiss: Es braucht bis zu fünf Komplimente, um in unseren Köpfen eine einzige schmerzhafte Kritik auszugleichen.

Der Mensch ist nicht besonders talentiert darin, zuversichtlich zu sein. Entsprechend haben sich in der Geschichte der Menschheit zahlreiche Denker, Geistliche und Philosophinnen darüber Gedanken gemacht, wie Menschen anders mit ihrer Angst umgehen könnten, als daran zu verzweifeln.

2. Eine ganze Reihe von Methoden

Es gibt entsprechend eine ganze Reihe von Methoden, die sich Menschen ausgedacht haben, um mit den Unwägbarkeiten von Leben und Tod umzugehen. Die jeweils eigenen und neusten sind keineswegs zwangsläufig die besten. (Dasselbe gilt allerdings für die jeweils fremden und ältesten.) Interessant für diesen kleinen Essay und meinen eingangs eingeleiteten Antwortversuch ist nun, was für einen Weg die Gelehrten in dieser Weltregion und Zeit uns nahegelegt und gepredigt haben: die Denker des Protestantismus, die Philosophen der Aufklärung, die Intellektuellen der Neuzeit.

Es wäre selbstverständlich vermessen, den ganzen Kanon hier zu referieren, und die meisten von Ihnen dürften ihn kennen. Erstaunlich viele Werke aber haben eine Grundaussage gemein: Sie lehren uns, dass der Mensch das Zentrum seines eigenen Lebens ist. Sie lehren uns auch, dass wir Willkür nicht akzeptieren sollten. Stattdessen ist es an uns, das Leben zu zähmen und zu kontrollieren – mithilfe unserer angeblich göttlichen menschlichen Vernunft. Kurz: Wir lernen, einen Damm zu bauen. Einen trotzigen und strengen Damm gegen die Unberechenbarkeit des Lebens, die den Menschen schon immer Angst einjagte.

3. Ein Damm gegen die Unberechenbarkeit

Die Idee eines Gottes haben viele der Gelehrten entsprechend ins Private verbannt. Sie predigen vielmehr die individuelle Vernunft als wichtigstes ethisches Leitprinzip, möglichst befreit von jeglichem Gefühl, das sie ablenken könnte. Sie vertrauen auf den Segen technokratischer Systeme, die jegliche menschlichen Anfälligkeiten, Gelüste und Schwächen ausmerzen sollen. Überzeugte Protestantinnen meiden auch möglichst alle Rituale, Floskeln, Schleier und Heucheleien. Stattdessen wollen wir komplette Authentizität, Rechenschaftspflicht und möglichst messbare und absolute Gerechtigkeit. Der Mensch, nackt vor der Wahrheit. (Und wehe, er lächelt.)

Spielarten des protestantischen Denkens gibt es übrigens nicht nur im «christlichen Westen», wie wir in typischem Ethnozentrismus meinen, sondern in unterschiedlichen Variationen zu verschiedenen Zeiten. So berichten etwa Michael Puett, Harvard-Professor für chinesische Geschichte, und Co-Autorin Christine Gross-Loh in ihrem gemeinsamen Buch vom altchinesischen Philosophen Mozi und seinen Anhängern, den Mohisten, deren Überzeugungen manchen von uns vertraut vorkommen dürften.

Die Mohisten, so Puett und Gross-Loh, glaubten an die Bedeutung eines universellen moralischen Codes. Nur ein solcher allgemeingültiger Leitfaden würde den Menschen helfen, ein ethisch gutes Leben zu führen. Als gut galten für die Mohisten Taten, die einer grösstmöglichen Anzahl von Menschen nützen würden (Utilitarismus). Wahre Liebe sollte nach ihnen keine Abstufungen kennen – Menschen sollten Fremden mit der gleichen Fürsorge zu begegnen versuchen wie den eigenen Angehörigen. Kommt Ihnen bekannt vor? «Mit ihrer Betonung eines aufrichtigen Glaubens, ihrer Abneigung gegen Rituale und ihrer Überzeugung, dass die Welt als kohärenter und berechenbarer Ort von einer guten Gottheit geschaffen wurde, ähnelten die Mohisten stark den frühen Protestanten», schreiben Puett und Gross-Loh.

Der Schmutz der Welt

Um hier endlich etwas abzukürzen: Die aufklärerische Sicht vom Menschen hat viel Gutes und Wichtiges gebracht. Insbesondere säkulare Institutionen, wissenschaftlichen Fortschritt und Wohlstand für viele Menschen. (Davon habe ich ja letztes Mal etwas berichtet.) Vieles davon ist schützenswert und wert, es mit aller Kraft zu verteidigen.

Ich glaube allerdings, dass dieses Denken Menschen gleichzeitig nicht besonders gut dazu ermächtigt, mit Chaos, Leid und Komplexität umzugehen – also mit dem Normalzustand der Welt. Viele von uns sind schlecht darin, Ambivalenz und Unberechenbarkeit auszuhalten. (Kein Wunder, ohne die Hilfe von Heucheleien.) Wir hadern mit dem Schmutz der Welt, und immer wieder andere Gruppen von sozialistischen Bürokraten über libertäre Tech-Utopisten bis zu Blut-und-Boden-Faschisten bieten sich lautstark an, jetzt endlich alles in Ordnung zu bringen. Dass jeder solche Versuch in der Hölle enden muss, schreckt die Prediger aller Art leider nicht ab: Ihrer Ansicht nach wurde einfach jeweils nicht gründlich genug gearbeitet.

Ich halte das ständige Eingeständnis, dass manches gut läuft und manches nicht, manchmal sogar gleichzeitig, dass vieles ambivalent ist und fast alles komplex, für eine essenzielle Notwendigkeit. Erstens, wie gesagt, um zu lernen und Dinge besser zu machen. Und zweitens, weil es nichts Gefährlicheres gibt als die Überzeugung, Leiden gehöre abgeschafft, und mit Hilfe einer Universaltheorie könne das gelingen. Wer das Paradies schaffen will – und alles darunter als gescheitert betrachtet – , bewegt sich auf potenziell tödlichem Terrain.

P. S. Einige wenige Lesetipps.

  • Diese «Coursera»-Vorlesungsreihe von Yale-Professor Ian Shapiro über das moralphilosophische Fundament unserer heutigen (westlichen) Vorstellungen von Politik. Shapiro zeigt auch gut auf, wie sowohl klassisch liberales wie auch marxistisches Denken in der Aufklärung wurzeln – und sich damit ähnlicher sind, als das viele vielleicht glauben würden. Auch in ihrer Strenge.

  • «The Path» von den oben erwähnten Michael Puett und Christine Gross-Loh. Lassen Sie sich vom kitschigen Titel und der leicht amerikanisierten Sprache nicht abschrecken: Das Buch bietet einen fruchtbaren und gut verständlichen Einstieg in die chinesische Philosophie.

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