Das Leben spielt

Warum so pessimistisch?

Von Olivia Kühni, 13.02.2018

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Die Belege sprechen eine deutliche Sprache: In Bezug auf viele wichtige sozioökonomische Kriterien geht es den meisten Menschen auf der Welt heute besser als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Kindersterblichkeit, Armut, Bildung, politische Mitbestimmung, Gesundheit, Gewalt, Ungleichheit – vieles ist viel besser geworden, deutlich und weltweit. Gerade arme Länder in Asien und Afrika haben eine beeindruckende Aufholjagd hinter sich.

Es gibt Gegentrends und Ausnahmen. Die Einkommensungleichheit in den USA beispielsweise, die seit Jahren zunimmt – und das teilweise noch politisch unterstützt. Und es gibt ein wichtiges Gebiet, das wirklich Grund zur Sorge bietet: Während es den Menschen immer besser geht, bleibt der Rest des Ökosystems stark belastet. Vieles, was wir tun, geht auf Kosten der natürlichen Ressourcen und anderer Spezies. (Hier ist ein legitimer Einwand für nichtgläubige Menschen allerdings der, warum eine Spezies zwingend überleben muss – das gilt auch für Homo sapiens –, aber verzeihen Sie, das geht jetzt hier wirklich zu weit.) Ebenfalls wichtig ist der Hinweis: Die Tatsache, dass etwas für Vergangenheit und Gegenwart gilt, bedeutet nicht im Geringsten, dass es in Zukunft so weitergeht.

Dennoch. Ich stelle mir wiederholt die Frage, warum bei solch überwältigender Beweislast stets allerorten das Gegenteil behauptet wird: nämlich, dass alles «immer schlimmer» geworden sei und werde. Nicht ein paar Dinge an ein paar Orten, was zweifellos zutrifft, sondern als Trend: Die Welt werde ein schlechterer Ort, und der Kapitalismus bzw. die technologischen Innovationen oder der Fortschritt richteten uns langsam und systematisch zugrunde.

Ich habe anschliessend auch einen kleinen Einwand gegen mich selber, warum ein gewisser Pessimismus durchaus wichtig und richtig sein kann. Dazu gleich mehr. Zunächst: Warum haben so viele Menschen in Europa trotz aller Gegenbeweise das Gefühl, alles gehe vor die Hunde?

  • «Negativity bias»: Wir können nicht anders. Wir sind so gebaut, dass uns schlechte Neuigkeiten oder schmerzhafte Erlebnisse viel stärker beeindrucken und uns viel besser im Gedächtnis bleiben als positive.

  • Egozentrismus und Kurzfristigkeit: Ebenfalls sehen wir die Welt immer nur als die, die wir sind, aus dem Moment heraus, in dem wir leben. Individuell ist es natürlich sehr gut möglich, dass sich manches in den letzten Jahren nicht verbessert hat. Ausserdem fühlen sich langfristige Trends in der kurzen Frist oft anders an: Berufsleute in einer untergehenden Branche sind selbstverständlich keine Gewinner, selbst wenn es der Welt als Ganzes, vielleicht sogar ihrer Region oder Familie, auf lange Frist besser gehen sollte. Genau das lässt sich zurzeit in verschiedenen europäischen Staaten wunderbar beobachten: Der unfassbare Vorsprung zu anderen Weltregionen nimmt ab, der unvergleichliche Aufstieg der europäischen und der US-amerikanischen Mittelschicht stagniert, manche Gruppen verlieren tatsächlich – da kann schnell der Eindruck entstehen, alles laufe ganz grundsätzlich falsch.

  • Relativismus: Eine Aufholjagd ist nämlich oft nur etwas Schönes aus der Sicht von dem, der hinten war. Das sind unsympathische Gefühle, aber menschliche. Ein Angestellter in Europa, dessen Lohn in den letzten Jahren nur leicht gestiegen ist oder gar stagnierte, mag sich verständlicherweise nicht darüber freuen, dass es Hunderttausenden Menschen auf der Welt viel besser geht als noch vor einer Generation, sie mit ihrem bescheidenen Vermögen nun nach Europa reisen und – Gott bewahre – ihre Kinder dort an die Universitäten schicken können. Unsympathisch, wie gesagt, aber menschlich.

  • Nullsummenspiel: Ein Grund für diese Angst, Missgunst und im schlimmsten Fall diesen Hass gegen Aufsteigerinnen ist die in vielen Köpfen – auch in meinem ab und zu – intuitiv verankerte Vorstellung, Wirtschaft sei ein Nullsummenspiel: Wenn es anderen besser geht, werde ich verlieren. Meist ist das Gegenteil der Fall: Je reicher, vernetzter, produktiver mein Umfeld und meine Geschäftspartnerinnen, desto besser für beide. Es gibt wenig, was in den Wirtschaftswissenschaften so unumstritten ist wie die Tatsache, dass Kooperation und Handel eine lukrative Sache sind. Wie die daraus erwirtschafteten Gewinne verteilt werden, das ist ein anderer und sehr wichtiger Punkt. Dass es insgesamt Gewinne gibt, ist jedoch – bislang, muss man immer sagen – unumstritten.

  • Profiteure: Manche Menschen wüssten eigentlich sehr gut, oder könnten wissen, dass nicht alles immer schlimmer wird, streiten es aber trotzdem ab. Sie haben zu viel Herzblut in diese Erzählung investiert, sie haben ihr Leben danach ausgerichtet, ihre Karriere basiert darauf oder gar ihre ganze Existenz, beispielsweise als Hassprediger, politische Populistinnen allerlei Couleur, Seelenfängerinnen oder einfach überzeugte Misanthropen. Auch viele Journalistinnen gehören manchmal, wenn wir ehrlich sind, zu diesen Profiteuren. Beziehungsweise: Wir müssen uns meines Erachtens besonders gut bemühen, die menschlichen Reflexe und Denkfehler 1 bis 4 zu hinterfragen. Und wir tun es allzu oft nicht – weil es eben so schön ist, sich apokalyptisch zu gruseln.

So, jetzt aber noch ein versöhnliches Wort für freundlich gesinnte Pessimisten. Liebe Griesgrame, Klageweiber, Übelgelaunte, Dauerskeptikerinnen, Grummler und Spielverderberinnen: Es braucht Sie auch. Bleiben Sie aufmerksam! Aber bleiben Sie auch ehrlich. Ich habe sogar noch eine kleine Liste für Sie: Dinge, die die Welt tatsächlich zerstören könnten.

Ich wünsche erfreuliches Missvergnügen bei der Lektüre.

P.S. – Lesetipps:

  • Der Blog «Our World in Data».

  • Dieses Interview zu Globalisierungsverlierern, das ich mit der Politikwissenschaftlerin Stefanie Walter führte.

  • Bald mehr – Spoileralarm! – hier bei uns.

  • Nachtrag auf Hinweis eines Verlegers, 14.02.18: «Enlightenment Now», das soeben neu erschienene Buch von Steven Pinker.

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