Der digitale Diktator

Die 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo versprach vor neun Jahren die radikale digitale Demokratie. Das Resultat ist ein autoritärer Kontrollapparat. Ein Blick in die digitale Anatomie der populärsten Partei Italiens.

Von Adrienne Fichter (Text) und Andrea Ventura (Illustration), 01.02.2018

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Der digitale Diktator
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Er ist Gründer des MoVimento 5 Stelle und der erfolgreichste digitale Politiker Italiens: Beppe Grillo. Doch mit dem zunehmenden Erfolg seiner Bewegung wuchs auch seine Paranoia.

«Dies ist nicht nur einfach ein Telefon. Wir haben damit die Welt in unserer Hand!», sagte Beppe Grillo im Gespräch mit dem Social-Media-Forscher Jamie Bartlett 2016. Während er redete, schüttelte er immer wieder sein Smartphone. «Das ist es, was alles verändern wird, die Politik, die Kultur, die Gesellschaft!»

Das Smartphone verändert also die Welt. Und Beppe Grillo, ein 70-jähriger Comedian, verändert damit Italien. Ausgerechnet er, der einst Computerbildschirme aus seinen TV-Shows verbannte, ist der erfolgreichste digitale Politiker Italiens. Grillo ist Gründer, Vater und Galionsfigur der 5-Sterne-Bewegung, des MoVimento 5 Stelle (M5S). Einer Bewegung, die nach eigenen Angaben unideologisch, direktdemokratisch und 100 Prozent digital funktioniert. Und die am 4. März gemäss Umfragen als Siegerin der nationalen Wahlen in Italien hervorgehen wird.

Allein schon der Name des M5S ist eine einzige Provokation. Das grosse V von MoVimento steht für «vaffanculo», zu Deutsch: Leck mich am Arsch. Gemeint sind damit Politiker der etablierten Parteien wie des Partito Democratico und von Forza Italia. Sie sind für Grillo die Wurzel allen Übels, des Zerfalls der italienischen Werte. Die italienische Politik ist korrupt, elitär und abgehoben. «Tutti a casa!» Die Parteien müssten verschwinden, fordert Grillo.

Und er weiss auch, wie: mit dem Internet. Denn das Netz ist nicht nur irgendeine Infrastruktur, ein Werkzeug für mehr Information, Mitbestimmung oder Gleichberechtigung. Es ist nicht einfach eine Technik. Das Internet ist laut Grillo das Synonym für Demokratie und Transparenz. Das Internet ist «die» Demokratie.

Der MoVimento 5 Stelle steht für radikale Mitbestimmung und eine hundertprozentige digitale DNA. Direkt, digital, transparent.

So lautete von Anfang an das Versprechen.

Und heute? Der MoVimento 5 Stelle ist in der Tat eine richtige Internetpartei, eine der erfolgreichsten in Europa. Wie die FPÖ, die AfD, die Podemos oder der Front National gehört sie zu den Magneten auf den Social-Media-Plattformen. Ihre Anhängerschaft übertrumpft diejenige einer jahrhundertealten CDU oder eines Parti Socialiste bei weitem.

Doch der M5S nutzt das Netz nicht nur als Propagandakanal. Er ist im Netz geboren. Er fällt Entscheidungen digital. Er rekrutiert seine Kandidatinnen und Kandidaten online. Er kommuniziert mit seinen Mitgliedern via Facebook, mit «Rousseau» (so der Name der zentralen Abstimmungs- und Beteiligungsplattform des M5S), via Beppe Grillos Blog und in den verschiedenen M5S-Foren. Doch hier endet bereits die Liste der obigen Versprechen.

Denn die Demokratie hat sich nicht wirklich durchgesetzt. Die Realität ist eine andere, die des Internetprangers, des Onlinemobbings, des digitalen Tribunals, der anonymen Blogbeiträge und des stillschweigenden Auslöschens.

Die Bewegung wird von Mailand und Rom aus zentralistisch regiert. Ein paar wenige Männer bestimmen über das Schicksal von Tausenden von Mitgliedern. Jede vierte Abgeordnete oder Senatorin hat die Bewegung seit 2013 entweder verlassen oder wurde ausgeschlossen. Was ist passiert?

Die Garderobe

Giuseppe «Beppe» Grillo wurde 1948 in Genua geboren. Schon früh machte er sich einen Namen als Stand-up-Comedian. Als Jugendlicher spielte er Gitarre in Bars, doch das Publikum mochte seine Zwischenansagen mehr als seine Musik. In den späten 70er-Jahren erhielt er eine Prime-Time-Show beim öffentlich-rechtlichen Sender RAI. Seine Witze waren von Anfang an kontrovers und politisch.

Doch im Jahr 1986 ging er zu weit. Immer wieder spottete er über den amtierenden sozialistischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi und seinen innersten Führungszirkel. Irgendwann sagte Grillo, Italien werde von einer korrupten Kleptokratie regiert. Das reichte. Man setzte ihn ab. Es war eine Demütigung.

Beppe Grillo im Jahr 1983 als Comedian. Angelo Deligio/Mondadori Portfolio/Getty

Sechs Jahre später folgte dann die Rache. Eine Schuldenkrise und serienweise Korruptionsskandale der regierenden sozialistischen Partei führten zum Zusammenbruch der Ersten Italienischen Republik. Ministerpräsident Craxi sowie Dutzende von Abgeordneten wurden vor Gericht verurteilt. Wegen Schmiergeldern und anderer Straftaten. Craxi flüchtete danach nach Tunesien, wo er im Exil starb.

Beppe Grillo hatte also recht. Er kehrte 1993 zurück ins Fernsehen. Sein Comeback war ein einziger Triumph. 16 Millionen Zuschauer verfolgten seine Sendung auf RAI 1. Grillos Show wurde immer schärfer, immer politischer. Er machte sich lustig über die Businesswelt, die anhaltende Korruption der Parteien und kritisierte das fehlende Umweltbewusstsein der Politik.

2004, mitten in der Ära Berlusconi: Ein gross gewachsener Mann namens Gianroberto Casaleggio sucht den Comedystar nach seinem Auftritt in seiner Garderobe auf. Er ist ein IT-Spezialist, der mit mässigem Erfolg eine eigene Webconsulting-Firma betreibt. Casaleggio will mit Grillo über eine Idee sprechen, eine Idee, die später zum entscheidenden ideologischen Fundament der 5-Sterne-Bewegung wurde. «Das Internet», sagt Casaleggio zu Grillo, «könnte die Lösung für all die Probleme sein, die du in deiner Show ansprichst. Die Lösung für alles, worüber du dich seit Jahrzehnten aufregst.»

Grillo reagiert ungläubig. Das Internet, im Ernst? Casaleggio redet weiter. Er schlägt vor, einen Blog aufzubauen. «Ich setze einen Blog für dich auf und mache ihn zur erfolgreichsten italienischen Website innerhalb von zwei Jahren.» Dieser Blog werde Italiens Politik verändern, sagt Casaleggio, das Parteiensystem von innen revolutionieren. Das Angebot stand – er offerierte seine Dienste für 250’000 Euro. Der Komiker lehnte höflich ab. «Ich dachte, er spinnt», erinnerte sich Grillo später.

Das Internet soll politische Probleme lösen? Im Jahr 2004 klang das noch nach Utopie. 2004, das war vier Jahre nach dem Platzen der Dotcom-Blase. Und es war erst das Geburtsjahr des heute grössten sozialen Netzwerks, Facebook. Das Mitmachnetz, das sogenannte Web 2.0, war damals ein Embryo.

Casaleggio meldete sich wieder, eine Woche später, und versuchte es erneut. Dieses Mal bot er an, die Website gratis aufzusetzen, wenn er dafür im Gegenzug auf der Seite Werbung schalten durfte. Beppe Grillo willigte dieses Mal ein.

www.beppegrillo.it ist geboren. Grillo und seine Ghostwriter des Casaleggio-Teams schreiben, was sie umtreibt. Sie schreiben über die Schulden Italiens, über Finanzspekulationen, über Korruption, Sozialpolitik, erneuerbare Energien, Nachhaltigkeit und – immer mehr – über die Macht des Web. Der Blog gehörte zu den fünfzig einflussreichsten politischen Blogs der Welt. Er wurde zum Ventil für viele aufgebrachte Italiener.

Der «Vaffanculo-Day»

Dann geschah etwas, was es in der italienischen Parteiengeschichte zuvor nicht gab. Die Bürgerinnen und Bürger Italiens versammelten sich auf der Strasse. Tausende von Menschen – sie nannten sich «Freunde von Beppe Grillo» – begannen sich zu organisieren. Plötzlich wurde Politik «von unten» gemacht. Mit der Plattform Meetup.com.

Meetup wurde zum Herzstück des M5S, zum Motor von Grillos Bewegung. Meetup war ursprünglich ein Portal, mit dem sich Subkulturen, die Medienszene und Techkonferenzen organisierten. Nun wurde es zum politischen Werkzeug, mit dem man Gleichgesinnte traf, später politische Listen bildete und über Umweltsünden diskutierte.

Diese Grassroots-Politik war neu in Italien. Die «Freunde von Beppe Grillo» begannen in ihren Dörfern die lokalen Regierungen zu beobachten, sie koordinierten Kampagnen in Palermo, Florenz und Rom. Es waren die Blogposts von Beppe Grillo, die sie inspirierten. Die wenigsten von ihnen hatten sich davor für Politik interessiert. Eine neue Bewegung war entstanden, sie war lose und ohne politische Agenda. Und sie wartete – auf ein Signal ihres Leaders.

Am 8. September 2007 rief Grillo den «Vaffanculo-Day» – kurz V-Day – auf seinem Blog aus. Er forderte seine Leserinnen auf, auf die Strasse zu gehen. Sie sollten für die Entfilzung der Politik kämpfen. Eine mitgelieferte Petition verlangte, dass Vorbestrafte kein passives Wahlrecht mehr haben sollten, Politiker nur für zwei Legislaturperioden gewählt werden sollten – und das direkt statt über Parteilisten. Es war ein grosser Erfolg. Der «Vaffanculo-Day» wurde an 200 Orten durchgeführt. Mit gerade mal einem einzigen Blogpost und der Plattform Meetup hatten die «Freunde von Beppe Grillo» zwei Millionen Leute mobilisiert und 336’000 Unterschriften für ihre Petition gesammelt.

Beppe Grillo hoffte, dass der Sammelerfolg die politische Elite zu Veränderungen zwingen würde. Oder zumindest zum Zuhören, zu einer Debatte. Doch das Establishment schwieg. Niemand äusserte sich. Und die Medien waren entsetzt. Sie hatten diese Grossdemonstration nicht kommen sehen. Und sie lehnten sie ab. Eugenio Scalfari, der Gründer der Tageszeitung «La Repubblica», schrieb einen Leitartikel mit dem Titel «Die barbarische Invasion von Beppe Grillo».

Das Schweigen schmerzte Grillo. Doch der «Vaffanculo-Day» zeigte ihm, was möglich war. Und dass Casaleggio recht hatte. Mit dem Internet liessen sich die Dinge ändern.

Und das nicht nur in Italien. Im Jahr 2008 begann die Piratenpartei eine Erfolgsserie bei den Wahlen in Deutschland, Schweden und Island. Barack Obama, in den Vorwahlen bei den Demokraten noch ein Aussenseiter, setzte sich gegen Hillary Clinton durch – nicht zuletzt dank einer konsequenten Social-Media-Strategie. Und wurde im November 2008 Präsident. Die Presse taufte ihn den «Facebook-Präsidenten».

Clay Shirky publizierte im selben Jahr das Buch «Here Comes Everybody». Seine These darin lautete: Dank Facebook, Flickr und Blogs werde es bald keine grossen formalisierten Organisationen mehr brauchen. Das Internet verringere die Kosten, sich zu organisieren und zusammenzuarbeiten. Casaleggio und Grillo lasen beide das Buch.

Aus Jux beschloss Beppe Grillo, für das Amt des Parteivorsitzenden des Partito Democratico zu kandidieren. Er sagte voraus, dass die Parteiführung seine Kandidatur verhindern werde. Die Absage gab ihm dann recht: In Italiens Establishment war kein Platz für Aussenseiter wie ihn vorgesehen. Er musste etwas Eigenes gründen.

Im September 2009 kündigte Grillo auf seinem Blog an: «Am 4. Oktober 2009 wird eine neue politische Bewegung im Netz geboren … denn die Parteien sind tot. Ich möchte keine Partei gründen, keinen Apparat, keinen Mittelbau. Ich möchte eine Bewegung lancieren.»

Doch wofür steht diese Bewegung? Für eine Mischung aus klassischen linken und rechten Elementen. Grillo forderte die Beseitigung der Telecom Italia und anderer Monopole, die Verpflichtung zur Umsetzung des Kyoto-Protokolls, die Einführung obligatorischer (Gratis-)Kurse für Ausländer und natürlich das Ausmerzen der Korruption. Das waren die wenigen ideologischen Eckpfeiler. Über den Rest des Programms, so lautete die Idee, sollten die Mitglieder abstimmen – und zwar digital.

Von diesem Moment an wurde Grillo der Botschafter für Casaleggios Vision. Wo immer er unterwegs war, pries er das Netz als Lösung für eine bessere Politik. Nur mit dem Internet liessen sich eine vollständig direkte Demokratie und radikale Transparenz verwirklichen. Nur mit dem Internet gelange die Wahrheit ohne Filter zu den Menschen. Ohne Störfaktoren wie Medien oder Politik.

Grillo nannte das Smartphone die Befreiungstechnologie des 21. Jahrhunderts. Immer wieder redete er von der anthropologischen Entwicklung – dass die Menschen mit dem Netz verschmölzen und eines Tages mit ihm eins würden.

Wer der 5-Sterne-Bewegung beitritt oder sie wählt, der delegiert seine Stimme nicht irgendeinem Parteiapparat, nein, er gibt seine Stimme einer Idee, einem Projekt. Er entscheidet mit, wie das Budget ausgegeben wird, erfährt, was mit seinen Steuern passiert, und gibt an, wie viel er in Zukunft arbeiten möchte.

Sollte der M5S in Ämter oder Parlamente einziehen, so entscheidet die Basis über die Politik. Die gewählten Politikerinnen sind nur die Vollzugsvollstrecker des Willens ihrer Wähler. Es war der perfekte Marketingslogan von Grillo und Casaleggio mitten in der Krise der repräsentativen Demokratie.

Die Kampfansage an das italienische Establishment kam gut an. Der neue Aktivismus gab allen Unzufriedenen endlich eine Möglichkeit, etwas zu tun. Immer mehr Menschen lasen Beppe Grillos Blog. 2010 waren es 60’000, 2011 100’000 und im Jahr 2012 bereits 255’000 Abonnenten.

«Was könnte erfrischender sein als eine Partei von enthusiastischen jungen Newcomern, mit null politischer Erfahrung, angeführt von einem Komiker? Die ‹vaffanculo› schrien und die Politiker zum Teufel wünschten?», umschrieb Jamie Bartlett die Atmosphäre in seinem Buch «Radicals».

Tausende hörten Beppe Grillo stundenlang zu, wie er die italienische Politik von der Bühne aus sezierte. Endlich sagte jemand öffentlich, woran Italiens Politik krankte: an Privilegien, Vetternwirtschaft, Korruption, der Inkompetenz vieler italienischer Politiker. Zu dieser Zeit sassen im Parlament in Rom über 100 Abgeordnete und Senatoren, die rechtskräftig verurteilt waren oder unter Anklage standen.

Die Trainerhosen

Dann folgten die nationalen Wahlen, es war der erste grosse Test. Am 24. und 25. Februar 2013 wählten ein Viertel aller Italienerinnen und Italiener die gerade mal vier Jahre alte Bewegung, es war der beste Start einer Partei in der Nachkriegszeit. Der M5S wurde damit zweitstärkste politische Kraft im Parlament. 2014 gewann die Bewegung 21 Prozent der Stimmen bei den Europawahlen. Plötzlich sassen 17 Europaabgeordnete in Brüssel. Abgeordnete, deren Hauptprogramm Kritik an der Europäischen Union war. Beppe Grillo hatte das italienische System gecrasht. «Nichts wird mehr gleich sein», sagte ein erstaunter «Repubblica»-Journalist.

Gianroberto Casaleggio an einer Wahlkampfveranstaltung 2013. Er war der Denker hinter dem MoVimento 5 Stelle. Sein Kontrollwahn führte zu zahlreichen Ausschlüssen von Mitgliedern. Laura Lezza/Getty Images

Der M5S versprach, anders zu werden. Und er war es auch. Plötzlich sassen nicht nur Juristinnen und Unternehmerinnen, sondern auch Studenten, Hausabwarte, Hausfrauen und Arbeitslose in der Abgeordnetenkammer. Der 34-jährige Aktivist, der vorher im Kongo und in Chile für Menschenrechte unterwegs war, die 26-jährige Beach-Entertainerin oder die 29-jährige Easyjet-Stewardess. Sie alle hatten sich auf Grillos Blog in einer Vorauswahl online zur Wahl gestellt.

Auch optisch fielen die M5S-Parlamentarier auf. Sie erschienen in Trainerhosen und Sneakers. Sie waren fast alle unter 35 Jahre alt. Ein Drittel davon waren Frauen.

Und sie brachen mit allen Konventionen. Sie weigerten sich, ihre Abgeordnetenreden mit der förmlichen Anrede «Sehr verehrter ...» zu beginnen. Sie besetzten aus Protest das Dach des Parlaments, wenn ihnen ein Gesetz nicht passte. Sie streamten ihre Sitzungen live. Und sie benutzten hin und wieder ihre Fäuste, wenn sie sich mit den anderen Fraktionen stritten.

Die italienischen Medien versuchten, das Grillo-Phänomen zu verstehen. Zu verstehen, wie es möglich sein konnte, dass sich in der politischen Elitegesellschaft Italiens so etwas wie eine Zivilgesellschaft entwickelt hatte, dass Aktivisten sich in ihrer Freizeit trafen, organisierten, Piazzen füllten. Und das nur dank des Internets.

Sie fragten die M5S-Leader für Interviews an. Und stiessen auf Schweigen. Sie zerlegten jeden Blogpost in diskursive Einzelteile. Doch auch Grillo liess sie zappeln. Wenn er etwas noch mehr hasste als das politische Establishment, waren es die italienischen Medien. Interviews gibt er aus Prinzip keine. Lieber begab er sich auf die «Tsunami-Tour», wo er wütende Reden auf überfüllten Piazzen hielt. Lieber sprach er mit den Zehntausenden. Lieber diktierte er dem Casaleggio-Team seine Gedanken für den Blog.

Die Meetup-Bewegung war ein anhaltender Erfolg. Bis heute ist sie das wichtigste Gefäss für den Austausch zwischen Gewählten und Wählerinnen.

Doch die Meetups waren in den Augen des Strategen Casaleggio nur ein Etappensieg. Sie waren für ihn lediglich ein Werkzeug, damit Politik offline besser funktionierte. Aber das war nicht genug: Politik muss im Netz mehr als kommuniziert werden – sie muss dort entstehen. Erst dann ist das Problem der Intransparenz gelöst, erst dann bestimmt die Bevölkerung wirklich, welche Politik in Rom gemacht wird. Alles soll debattiert, alles sichtbar gemacht werden. Wenn alle Entscheidungen direkt im Netz getroffen werden, braucht es auch keine «Zwischenhändler, keine Parteifunktionäre» mehr.

Technologie eliminiert also Politiker. Gemäss dieser libertären Philosophie dürfte es politische Führungspersönlichkeiten wie Grillo oder Casaleggio eigentlich gar nicht mehr geben. Es war dieser eine Satz von Gianroberto Casaleggio im Buch «Siamo in guerra», in dem er dies auch zugab: «Politische Führungspersonen sind ein Anachronismus unserer Zeit, eine Blasphemie in Zeiten des Internets.»

Nur: Casaleggio meinte damit nicht sich selbst. Er redete von den anderen – von den verfilzten, alten, traditionellen Parteien. Der Satz blieb für den M5S folgenlos: Mit der Bewegung war auch das Ego ihrer Erfinder gewachsen. Oder wie ein ehemaliges M5S-Mitglied aus Bologna sagte: «Casaleggio und Grillo haben etwas Wunderbares kreiert. Eine demokratische Bewegung. Nun haben sie gemerkt, dass sie Macht verlieren. Weil sie in einer Demokratie gleich viel wert sind wie jedes andere Mitglied. Und deswegen haben sie wieder eine Hierarchie eingeführt.»

Die Säuberungen

«Die Säuberungen begannen schon 2011. Ich war einer der Letzten vor den bevorstehenden Wahlen», sagt Lorenzo Andraghetti im Gespräch mit der Republik. Er ist ein Ex-Grillino. Heute sagt er, das Gerede von dieser Hyper-Ultra-Demokratie sei absoluter Schwachsinn: «Was sie de facto durchgesetzt haben, ist eine gelenkte Demokratie.»

Lorenzo Andraghetti ist heute 30 Jahre alt. Als er in die Bewegung eintrat, war er 21. Ein Mitglied der ersten Stunde und engagiert in einer der damaligen Hochburgen der 5-Sterne-Bewegung: Bologna. Er konnte vorher nichts mit den anderen Parteien anfangen. Doch er wusste: «Damit sich in diesem Land etwas ändert, muss man Teil des Systems werden.» Gleichzeitig war er ein Niemand. Er hatte noch keinen Studienabschluss. Jetzt bereits in die Politik? Er zögerte. «Doch dann sagte uns Grillo bei einem Meetup: ‹Wenn du etwas ändern willst in Italien, musst du auch etwas riskieren.›»

zvg
«Die Säuberungen begannen schon 2011. Ich war einer der Letzten vor den bevorstehenden Wahlen.»
Lorenzo Andraghetti

Also kandidierte Andraghetti. Mehrmals, für alle möglichen Ämter. Und er schrieb seine Ideen ins Netz. Grillos Blog war 2011 der virtuelle Treffpunkt der Bewegung. Es war das Jahr des Arabischen Frühlings. Die Menschen glaubten an die Veränderungskraft des Netzes. In der Kommentarspalte lernten sich die M5S-Mitglieder kennen. Viele von ihnen waren absolute Neulinge. Die meisten von ihnen waren wütend. Wütend auf die verfehlte Politik der Berlusconi-Ära, wütend auf die fehlenden Stellen trotz des Studienabschlusses, wütend, dass sie immer noch bei ihren Eltern wohnten.

Im Jahr 2013 schloss Andraghetti sein Masterstudium in «Medien und Politik» ab. Und fand Arbeit als Assistent des frisch gewählten, gleichaltrigen Paolo Bernini.

Zwei Jahre später probierte er es noch einmal. Diesmal kandidierte Andraghetti für das Bürgermeisteramt von Bologna. Seine Kandidatur gab er online bekannt. Doch die Zentrale portierte einen anderen. Massimo Bugani. Bugani gehörte zum innersten Zirkel des Casaleggio-Machtzentrums. Er galt als gesetzt. Der M5S beschloss, keine Vorwahlen durchzuführen. Andraghettis Kandidatur wurde ignoriert.

Ignorieren ist eine der vier Strategien des Casaleggio/Grillo-Systems, um missliebige Kandidatinnen oder Mitglieder auszuschalten. Dann gibt es auch noch die stillschweigende Löschung der Onlineprofile. Wer zu oft die Parteileitung im Forum kritisiert, fliegt raus. Ohne Vorwarnung.

Eine Reporterin der Sendung «Piazzapulita» des TV-Kanals La7 besuchte einige dieser «Löschopfer» in Bologna. Hier traf es besonders viele. Die Zentrale müsse die Emilia-Romagna hassen, sagt Andraghetti. Sie ist von der Vorzeigeregion zu einem «Dissidentennest» geworden.

Aus der Sendung:

Ein ehemaliger M5S-Aktivist: Plötzlich konnte ich mich nicht mehr einloggen.

Reporterin: Was stand bei der Anmeldung?

Aktivist: Es stand: Es gibt keinen Account mit diesen Benutzerdaten. Nicht etwa, dass ich das Passwort falsch angegeben habe. Sondern dass es keinen Account gibt. Ich war nicht mehr existent im System. Sie löschten mich.

Reporterin: Warum, glauben Sie, haben sie das getan?

Aktivist: Ich weiss es nicht, ich habe einfach hin und wieder geschrieben, was die Bewegung hier in Bologna besser machen könnte.

Reporterin: Hat man Sie angerufen oder irgendwie darüber informiert?

Aktivist: Nein, ein paar Freunde sagten mir, sie könnten sich nicht mehr einloggen. Erst dann habe ich nachgeschaut und gemerkt: ich auch nicht mehr.

Neben dem Löschen der digitalen Identität gibt es noch eine weitere scharfe Waffe: den Onlinemob. Die treuen Grillini, die ihren Leader im Netz verteidigen und Kritikerinnen und Kritiker in der Blog-Kommentarspalte zum Verstummen bringen. «Es ist eine Hasslawine, die über dich hereinbricht. Bis du brichst und aufgibst», sagt Andraghetti.

Auch Federica Salsi erlebte eine solche Welle.

Salsi war M5S-Stadträtin in Bologna. Nach ihrer Wahl 2011 trat sie in einer politischen TV-Show von RAI 3 auf. Ohne vorher die M5S-Parteileitung um Erlaubnis gefragt zu haben. Ein fataler Fehler. Grillo und Casaleggio tobten. Es folgte eine vulgäre Abrechnung auf dem Blog. Gewisse Kandidatinnen seien TV-geil, ein Fernsehauftritt sei für sie dasselbe wie der G-Punkt-Orgasmus. Salsi wurde nicht genannt, doch die Anspielung war klar.

Die Masse war aufgebracht. Nicht wegen Grillos obszöner Sprache. Sondern wegen der Verräterin Salsi. Sie verkörperte plötzlich den Schandfleck der Bewegung. Sie erhielt Morddrohungen und Hassmails. In einem weiteren Blogpost verkündete Grillo, dass Salsi fortan nicht mehr das Logo der Partei verwenden dürfe.

«Diese Bewegung ist wie die Scientology-Kirche», sagte Salsi, «wenn dich der Sektenführer hasst, hassen dich danach alle.»

Wenn der Sektenführer die «Dissidenten» zum Abschuss freigibt, ist der Spass zu Ende. So passiert bei den Senatoren Lorenzo Battista, Fabrizio Bocchino, Francesco Campanella und Luis Orellana im Jahr 2014. Ihr Vergehen: Sie kritisierten den Umgang des Komikers mit dem Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Als Renzi mit Grillo über die kommende Legislatur debattieren wollte, antwortete Grillo, dass er keine Zeit habe. So könne man nicht mit einem Regierungschef reden, sagten die M5S-Parlamentarier.

Grillo liess postwendend auf seinem Blog über ihre Absetzung befinden. Die M5S-Mitglieder konnten dabei nur über die Abwahl im Viererpaket abstimmen, nicht über die einzelnen Senatoren. Das Resultat: 29’883 Stimmen waren für die Absetzung, 13’485 stimmten dagegen. Sie waren draussen.

Die «PS»

Und dann gibt es die vierte Vernichtungsstrategie. Sie ist die demütigendste. Es sind die berüchtigten «PS». Plötzlich findet man am Ende eines Blogposts Namen von Aktivistinnen, Mitgliedern und Abgeordneten, die ab sofort nicht mehr im Namen des M5S auftreten dürfen. Weil sie gegen die Prinzipien der Bewegung verstossen haben. Weil sie an Veranstaltungen teilgenommen haben, ohne um Erlaubnis zu fragen. Weil sie eigene Ableger der Bewegung gründeten, ohne dass die Zentrale in Mailand davon wusste. Oder weil sie eben doch Strafregistereinträge hatten.

Die PS-Ausschlussmethode ist besonders dreist. Weil sie völlig beiläufig, ohne Vorwarnung und ohne jeglichen Bezug zum Thema des Blogposts nonchalant daherkommt. Einmal verfasste Gianroberto Casaleggio eine Kampfschrift gegen die Medien. «Das Ende der Zeitungen ist eines der vorhersehbarsten Ereignisse. Alle wissen es, nur die Journalisten nicht.» Signiert wird der Blogbeitrag von Gianroberto Casaleggio.

Und dann folgte wie aus heiterem Himmel der Zusatz: «PS: Giorgio Filosto, Orazio Ciccozzi, Pierfrancesco Rosselli und Daniele Lombardi haben ihre Pflichten als Sicherheitsverantwortliche für die Bühnen der Italia-5-Stelle-Aufführung nicht erfüllt (...). Diese vier Personen sind nicht mehr Teil der MoVimento-Bewegung.»

Oftmals erfahren die Geschassten erst durch die Presse von ihrem Ausschluss. Viele resignieren. Doch einige wehren sich. Mit Gerichtsfällen. Oder sie treten mit einer eigenen Liste an. Auch Andraghetti kämpfte für seine Kandidatur. Er wollte den Parteiliebling Bugani nicht einfach so hinnehmen. Zusammen mit weiteren Aktivisten forderte er eine parteiinterne Vorwahl. Um Druck zu machen, stellte er jeden Tag ein Youtube-Video online. Ein gefundenes Fressen für die Medien. Sein Vorgesetzter, der Abgeordnete Bernini, feuerte ihn.

Nun war er erst recht wütend. Ein medialer Kleinkrieg zwischen Andraghetti und Bugani begann. Publizierte Andraghetti einen kritischen Text, antwortete die M5S-Zentrale mit einem Radiogespräch «ihres» Kandidaten. Gab Andraghetti ein Interview im Radio, so trat Bugani im Fernsehen auf. Und so weiter. «Sie versuchen damit, deine Moral zu brechen. Weil sie wissen, dass sie die Mehrheit der Wählerinnen hinter sich haben.»

Schliesslich willigte die Partei ein, Vorwahlen für das Bürgermeisteramt zu machen. Luigi Di Maio, der heutige Spitzenkandidat des M5S, kündigte die Deadline in der Show «Porta a porta» auf RAI 1 an. Es wäre die hart erkämpfte Chance für Andraghetti gewesen. Doch der M5S benachrichtigte ihn via E-Mail, dass er sich nicht mehr M5S-Mitglied nennen dürfe: «Sie schlossen mich aus, weil ich Mitglieder der Alternative Libero getroffen habe, der Gruppe der früheren 5-Sterne-Bewegung-Mitglieder.» Diese Gruppe verkörpere angeblich das Gegenteil der Prinzipien des MoVimento 5 Stelle. Andraghetti schickte das Ausschlussmail an die «Repubblica» und weitere Medien. Dort machte es Schlagzeilen.

Andraghettis Geschichte ist eine von Dutzenden. Es ist auch die Geschichte des Bürgermeisters von Parma, Federico Pizzarotti. Von Marika Cassimatis in Genova und von Patrizia Bedori in Milano. Sie alle wurden erst gewählt, dann gemobbt und schikaniert, bis sie sich zurückzogen oder geschasst wurden. Oft ohne klare Begründung, oft nicht einmal durch ein Konsultationsverfahren der Mitglieder. Und wenn, dann folgte die Mehrheit der Mitglieder stets der Parole der Chefs.

Die Parallelwelt

Was weiss man über diese unsichtbaren Ghostwriter, wer sind die verborgenen Zensoren? Viel ist nicht bekannt über die IT-Firma Casaleggio Associati. Die Hauptperson ist der stille Davide Casaleggio. Er ist der Sohn des M5S-Visionärs Gianroberto Casaleggio, der 2016 starb. Weiter sind Pietro Dettori, David Borelli und Max Bugani die wichtigsten Entscheider im Hintergrund.

Sie sind auch die Ghostwriter für Grillos Blog und bewirtschaften seine Social-Media-Kanäle. Wie viel Grillo in den Grillo-Blog-Artikeln effektiv steckt, ist bis heute unklar. (Nicht zuletzt, weil sich hartnäckig das Gerücht hält, dass Grillo allein keinen fehlerfreien Satz schreiben kann.) Die Firma Casaleggio Associati hat ihren Sitz in Milano. Dort standen auch bis vor kurzem die Server des Blogs und der Parteiplattform.

Eine private Firma regiert somit die erfolgreichste politische Bewegung Italiens. Sie hat Zugriff auf alle Daten der rund 2200 gewählten Politikerinnen in Städten und Kommunen. Sie besitzt sämtliche Informationen der 120’000 zertifizierten Mitgliederprofile, inklusive ihres Abstimmungsverhaltens. Das Unternehmen weiss von jedem Parlamentarier, jedem Mitglied, wie die Person abstimmt und wählt. Sie hält den Quellcode ihrer Plattformen geheim – ein No-Go in der offenen netzpolitischen Szene. Und sie verdient an Grillos Popularität.

Wer die frühere Version von Beppe Grillos Blog (der Relaunch wurde im Januar 2018 vollzogen) schon mal gesehen hat, war mit einer vollgepflasterten Werbewand konfrontiert. Es waren Anzeigen aus dem Google-Netzwerk: für Online-Dating-Sites, Fusspflegesalben und Avocadodiäten. Und diese Anzeigen spielten substanzielle Summen ein.

Denn Grillos Blog gehörte zu den meistgelesenen Websites Italiens. Das hat einerseits mit der Bekanntheit des Komikers Beppe Grillo zu tun. Seinem täglichen Protest gegen Renzis Verfassungsreform, die EU, die Telekom-Monopole. Grillo spricht die Sprache von Social Media, die des Zorns, der Empörung und der einfachen, deftigen Wörter. Nicht zuletzt beruht der Erfolg darauf, dass Grillo ein Meister der Übertreibung ist. Mit der Wahrheit nehmen er und seine Ghostwriter es nicht immer exakt genau. Die Beiträge strotzen vor Superlativen – bis hin zu Fake-News.

In seiner Silvesterrede von 2017 machte Grillo sich Gedanken über das künftige Zusammenleben mit Robotern. Die Rede wurde via Facebook live übertragen. Es war eine Art Rede zur «Lage der Nation», futuristisch angehaucht. Irgendwann kam Grillo darin auf die Schweiz zu sprechen. Italien sollte sich ein Vorbild an Zürich nehmen, wo alle Einwohner im Rahmen eines Experiments ein Mindesteinkommen von 2500 Franken erhielten.

Dies ist ein Youtube-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Youtube Sie tracken.
Beppe Grillo discorso fine anno. Auguri sinceri per il 2018.

«Wir müssen es den Menschen ermöglichen, dass sie über ihr Leben bestimmen können. Das Grundeinkommen wird eines Tages so selbstverständlich wie eine Staatsbürgerschaft sein, universell, genau so, wie sie es in Zürich anbieten. Dort gibt man 2500 Franken an alle: an die Alten, Jungen, Reichen, Armen!»

Warum nur weiss die Zürcher Stadtregierung nichts von diesen 2500 Franken? «Das war wohl Wunschdenken von Herrn Grillo», sagt Heike Isselhorst, Kommunikationschefin des Zürcher Sozialdepartements, auf Anfrage. Zwar hat die Zürcher SP-Fraktion mit Erfolg ein Postulat für ein Grundeinkommen überwiesen. Der Stadtrat müsse den Vorschlag also beraten. Doch er habe absolut keine Priorität. Kurz: Es ist höchst unklar, ob das Experiment überhaupt umgesetzt wird.

Der Grillo-Blog ist nur eines der verwalteten Propagandaprodukte der Casaleggio Associati. Die Medienportale «Tze Tze» und «La Cosa» sind zwei weitere. Sie locken mit Schlagzeilen wie «Das wollen sie dir verheimlichen. Clicca qui!». Oder «Tze Tze» behauptete, die USA würden libysche Schlepper finanzieren, die Immigranten nach Italien schleusten. Die Geschichte war frei erfunden.

Der verstorbene Gianroberto Casaleggio sagte einst: Dank des Internets würden Lügen nicht mehr ungestraft bleiben. Ob jemand seine Arbeit genau macht, lässt sich mit wenigen Klicks gleich überprüfen. Doch heute verdient sein Sohn zusammen mit den M5S-Informatikern ironischerweise selbst am Fake-News-Klickmarkt. Mit dem Aufbau einer eigenen politischen Parallelwelt.

Die Bordelle

Der Politologe Lorenzo Mosca analysierte die digitale Demokratie à la 5 Stelle – und zog eine negative Bilanz. Seine Mängelliste ist lang: Manipulationsgefahren, Sicherheitslücken, fehlende Beteiligung und Intransparenz. «Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen der direktdemokratischen Mission der 5-Sterne-Bewegung und dem, was wir heute vorfinden», schreibt der Politikwissenschaftler in seinem neusten Papier für das Journal «Quaderni di scienza politica».

Dabei wollte Gianroberto Casaleggio mit «Rousseau» das Gegenteil beweisen. Die Plattform war sein Lebenswerk, erbaut als Betriebssystem der Bewegung. Es ist natürlich kein Zufall, dass es den Namen des radikalen Demokratietheoretikers trägt. Casaleggio wollte damit das Versprechen einer «Politik von unten» einlösen. Die Basis darf Ideen vorschlagen, diese diskutieren, darüber abstimmen. Die Themen mit den meisten Stimmen sind bindend für die Abgeordneten.

Jedes Gesetz erhält einen «Götti». Das bedeutet, eine Politikerin verpflichtet sich, die Vorstösse unverändert im Parlament einzureichen. Keine Partei weltweit hat je ein derart elaboriertes Mitbestimmungsnetzwerk entwickelt. Und keine andere Partei gibt ein derart starkes Commitment gegenüber ihren Wählerinnen ab.

Doch die Umsetzung ist voller Mängel, das System ist fehleranfällig und die Beteiligung niedrig. Die Gründe dafür sind hausgemacht. Wer an den Votings regelmässig teilnehmen möchte, muss entweder ein Onlinejunkie oder arbeitslos sein. Jedenfalls scheint er während der klassischen Arbeitszeiten nichts Besseres zu tun zu haben. Eine Onlineabstimmung läuft nämlich so: Die M5S-Mitglieder erhalten eine E-Mail um 10 Uhr. Ohne Vorankündigung. Die Abstimmung ist dann eröffnet. Sie haben genau neun Stunden Zeit, ihre Stimme abzugeben. Um 19 Uhr ist das Fenster bereits geschlossen.

Es gibt einige Indizien dafür, dass der Durchschnittsuser über sehr viel Zeit verfügt und männlich ist. Dies zeigte sich am 5. Juli 2016: Die Mitglieder befanden über 129 mögliche Vorschläge für die «Lex Iscritti». Es war die erste gross angekündigte «Sammelrunde» für die nationale Bühne. Zum ersten Mal in der italienischen Geschichte konnten einfache Bürgerinnen sagen, was in Rom beschlossen werden soll. Eine Premiere.

Und was forderten die M5S-Mitglieder? Die Legalisierung der Prostitution und die Einrichtung von Bordellen. Der Vorschlag erhielt 4058 Stimmen, es war der zweitbeliebteste. Der M5S hielt Wort. Der Abgeordnete Daniele Todisco bereitete einen Entwurf für die Legalisierung der Prostitution und die Eröffnung von Bordellen vor. Er wurde jedoch nie im Parlament eingereicht.

Gerade mal 15’290 Mitglieder stimmten über die «Lex Iscritti» ab. 15’290 Personen bestimmten über das Parteiprogramm von 500’000 Mitgliedern. Eine Enttäuschung.

Oder ist es sogar Kalkül? Warum sind die Zeitfenster für Onlineabstimmungen derart kurz? Davide Bono begründet dies mit der Hackinggefahr. Er betreut die «Rousseau»-Plattform. «Ansonsten haben Hacker genügend Vorlaufzeit, die Abstimmung zu sabotieren und die Plattform lahmzulegen.»

Doch für Pannen braucht es nicht einmal Hacker. Verkehren ein paar tausend User zur selben Zeit auf der Plattform, sind die Server bereits überhitzt. «Rousseau» ist dann für mehrere Stunden, manchmal auch Tage down. Dies passierte etwa im Januar, als mehrere hundert Mitglieder ihre Kandidatur gleichzeitig einreichen wollten.

Beppe Grillo nahm gestern im Interview mit der «Rundschau» Stellung zur Kritik an «Rousseau».

Rundschau: Die 5-Sterne-Bewegung prophezeit die «Internetdemokratie». Sie haben zu diesem Zweck die digitale Plattform «Rousseau» geschaffen. Genügt das?

Beppe Grillo: Die Plattform «Rousseau» ist für die Bürger ein Instrument, um online abzustimmen. Um Referenden abzuhalten, wie ihr es in der Schweiz macht. (...) Normale Personen nehmen an der Politik teil. Wir müssen nicht mehr alles an diese «Geister» delegieren.

Rundschau: Die Plattform «Rousseau» weist laut Experten aber auch Mängel auf. Sind Sie sicher, dass die 5-Sterne-Internetdemokratie funktioniert?

Grillo: Wenn unsere Gegner uns vorwerfen, wir seien Dilettanten, machen sie uns ein kleines Kompliment. In ihrer Welt sind wir tatsächlich Dilettanten.

Der Kodex

Die M5S-Zentrale hat ihre Lektion aus der Vergangenheit gelernt. Die fehlenden Parteistrukturen haben dazu geführt, dass sich Trittbrettfahrer, Überläufer und auch straffällige Personen politische Ämter ergattern konnten. Also alles, was Beppe Grillo verachtet. Er habe es satt, eine Plattform für «Parasiten» zu sein. Damit soll 2018 Schluss sein. «Wir sind erwachsen geworden», sagte Beppe Grillo in seiner Silvesterrede.

Im Januar mussten sich 10’000 Kandidaten einem strikten Ethikkodex unterziehen. Einem Kodex, der offiziell gegen die von der italienischen Verfassung verbriefte Freiheit des Mandats der Gewählten verstösst. Jede M5S-Politikerin muss sich neu an die offizielle Linie der Bewegung halten und 100’000 Euro Busse zahlen, falls sie die Partei wechselt. Medienanfragen werden streng kontrolliert von der M5S-Pressezentrale. Mit einer Ausnahme hat keine der angefragten M5S-Parlamentarierinnen Anfragen der Republik beantwortet.

Die Wahlmanager durchforsteten die eingereichten Lebensläufe nach Strafregistereinträgen, früheren Parteimitgliedschaften und nach allen Wortmeldungen. Aufgetauchten kompromittierenden Whatsapp-Nachrichten, peinlichen Facebook-Postings, kritischen Blogkommentaren. Alles, was das Ansehen von M5S beschädigen könnte, ist ein Ausschlussgrund für die Kandidatur. Und eine derart strikte Personalpolitik schliesst viele aus. Die Medien sprechen von Tausenden.

Wie beispielsweise das M5S-Mitglied Kilian Pileggi: «Ich bin wirklich sehr enttäuscht, dass ich meinen Namen nicht auf der Liste der Kandidaten gesehen habe. Ich habe die ganze Dokumentation geschickt, ich habe eine Videopräsentation auf Youtube hochgeladen, wo ich zeige, wie ich für die Partei brenne.» Der Grund für seinen Ausschluss: Er habe in einem Onlinekommentar die Bürgermeisterin der kalabrischen Stadt Camini kritisiert.

Die Loslösung

Es ist unklar, was sich zurzeit hinter den Kulissen abspielt. Die Machtverhältnisse haben sich verschoben, weg vom Casaleggio-Zentrum hin zur Di-Maio-Fraktion. Luigi Di Maio, der Parteichef des MoVimento 5 Stelle, gehört zum gemässigten Flügel der Bewegung. Er ist der politische Ziehsohn von Beppe Grillo. Grillo wollte mit seiner Personalie die aufkommende europafeindliche Rhetorik in der Bewegung dämpfen.

Auch wird der Blog von Beppe Grillo nicht mehr in Mailand betreut. Nach einem Relaunch Ende Januar migrierte Di Maio alle alten Blogbeiträge auf den neuen offiziellen Kommunikationskanal der Bewegung, «Il Blog delle Stelle».

Passiert da gerade ein virtueller Vatermord? Die Gerüchte mehren sich, dass Grillo keine Frontfigur mehr sein wird beim MoVimento 5 Stelle. Doch Grillo dementiert. Der geordnete Rückzug sei sein eigener Wunsch, sagen ihm nahestehende Vertraute. «Sono stanchino.» Ich bin müde. Kandidieren darf er für den M5S ohnehin nicht, weil er selbst vorbestraft ist. 1981 verursachte er einen schweren Autounfall und wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Es starben drei Menschen.

In seiner Silvesterrede kündigte Grillo an, in Zukunft nur noch über Digitalisierungsthemen zu schreiben, über Robotik, Smart Cities und künstliche Intelligenz. Sein Blog soll ein Ideenlabor werden. Bald geht er mit einem neuen Programm auf Tournee, es heisst «Grillo versus Grillo». Er besinnt sich auf seine Wurzeln, die Comedy. Der politische Grillo? Er ist vielleicht schon bald Geschichte.

Der alte Wein

Es hatte vielversprechend begonnen. Junge Menschen begannen sich für Politik zu interessieren, jeder hatte eine Chance auf eine Karriere in Rom. Politik wurde nicht mehr in Hinterzimmern oder in den feinen Salongesellschaften verhandelt, sondern in den Meetups, in den Kommentarspalten und auf Social Media.

Der M5S hat etwas geschafft, was niemandem vorher gelang: die Politik zurück auf die Strasse zu bringen, die Jungen für Politik zu begeistern, der jahrzehntelangen politischen Resignation vieler Italienerinnen ein Ende zu setzen.

Es gab kaum eine Partei, die so viele Nichtpolitiker zu Politikern gemacht hat. Und kaum eine, die so kompromisslos ihre Prinzipien verfolgt: Was immer sie tut, sie will das Gegenteil der traditionellen Parteien mit ihren Entscheidungen in Hinterzimmern und Kommissionen verkörpern.

Danach wuchsen die digitale Infrastruktur und die Mitgliederzahl – und damit auch der Machthunger von Gianroberto Casaleggio und die Paranoia von Beppe Grillo. Gegen sie wurden zahlreiche Gerichtsprozesse geführt. Von geschassten Abgeordneten und gelöschten Mitgliedern.

Andere Parteien Europas wie die spanische Podemos oder die isländische Piratenpartei haben den M5S zwischenzeitlich in Sachen Internetdemokratie links überholt. Mit ihren Plattformen «Decidim» und «Discourse Piratar», in der alle Mitglieder das letzte Wort haben. Ohne Ausschluss von Mitgliedern.

Dennoch, der M5S ist auf Kurs. Die Umfragewerte sehen sehr gut aus. Mit 27 Prozent liegt die Bewegung vorne. Viele junge Italiener werden M5S-Kandidatinnen wählen. Die Skandale mögen der Bewegung nichts anhaben. Das Versprechen der direkten digitalen Demokratie zieht immer noch.

Denn: Die breite Öffentlichkeit kriegt nur wenig von den internen Vorgängen mit. Auch der Ex-M5S-Aktivist, dessen Profil stillschweigend gelöscht wurde, räumt ein: «Was sind wir schon, die 0,3 Prozent der Bevölkerung, die geschassten Aktivisten, gegen die Hunderttausenden, die Grillo mögen und deswegen den MoVimento 5 Stelle wählen werden?» «Dissidentenforen» wie beispielsweise das Komitee #annullatetutto der ausgeschlossenen Kandidatinnen bleiben in ihren Filterblasen.

Und trotz aller willkürlichen Ausschlüsse durch die M5S-Zentrale: Der MoVimento 5 Stelle ist im Vergleich immer noch eine Demokratie-Musterschülerin. Denn woanders ermöglichen ausschliesslich gute Beziehungen eine politische Karriere. Die traditionellen Parteien seien nach wie vor bürokratisierte Apparate, sagt der Politikwissenschaftler Lorenzo Mosca.

Der Partito Democratico hat sich zwar die öffentlichen Anhörungen vom M5S abgekupfert. Doch es entscheiden immer noch Matteo Renzi und seine Entourage, wer als Kandidatin infrage kommt. Und für die Forza Italia von Silvio Berlusconi sei Demokratie ein Fremdwort, meint Mosca.

Die Schicksale der ausgeschlossenen M5S-Aktivisten – es sind die üblichen politischen Dramen, wie sie die italienische Bevölkerung gewohnt ist. Es ist im Grunde alter italienischer Wein in neuen Schläuchen. Die Bevölkerung goutiert womöglich auch das harte Durchgreifen des M5S. Lieber Fehler machen und ausschliessen, als kriminelle Politiker eine ganze Legislaturperiode durchzufinanzieren.

Die Geschichte des MoVimento 5 Stelle – sie ist eine, wie man sie schon hundertfach gehört hat in Italien. Mit dem Unterschied, dass sie einfach noch mehr Stoff für die Medien bietet. Weil sie sich nicht geheim in den Hinterzimmern der noblen Hotels oder in Kommissionen abspielt, sondern von allen mitgelesen werden kann. Im Internet.

Quellen

Gewisse Informationen dieses Texts basieren auf dem Buch «Radicals» von Jamie Bartlett und auf dem wissenschaftlichen Artikel «Visioni democratiche e pratiche partecipative online nel MoVimento 5 Stelle» von Lorenzo Mosca, der in der Zeitschrift «Quaderni Di Scienza Politica» erschienen ist. Diese Stellen konnten nicht verlinkt werden, da sie nicht online verfügbar sind.

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