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Freie Mitarbeiterin Uni-Magazin Zürich
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Ich hatte oft den Eindruck, dass mit solcher Formular-Ausfüllerei vor allem die Illusion von Kontrolle hergestellt wird. Mein absurdestes Beispiel war, als die Uni begann, von freien Mitarbeitenden zu fordern, anzugeben, wann sie wieviele Stunden gearbeitet hatten. Ich musste also quasi zuhause (einen Arbeitsplatz vor Ort stellte die Uni für das Projekt in dem ich da arbeitete nicht) in ein riesiges Formular auf die Viertelstunde genau einfüllen, von wann bis wann ich Texte gelesen und drüber nachgedacht hatte, recherchiert hatte, mit Leuten telefoniert und eigene Texte verfasst hatte. Allerdings bekam ich das Formular erst, nachdem ich schon meine Arbeit getan hatte. Ich sass dann also da und erfand im Nachhinein universitäre Arbeitstage... Denn was ich schon früher gelernt hatte: wenn so ein Apparat ausgefüllte Kästchen haben will, dann müssen sie ausgefüllt werden, egal mit was.

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Liebe Frau W., auch mir ist es oft schon so gegangen, dass ich ein Formular kreativ ausfüllen musste. Geschämt habe ich mich dabei nie. Das Gefühl dabei ist eher: wie du mir, so ich dir. Vielleicht hat jede Zeit ihre übermächtigen und furchteinflössenden Geister. Da muss wohl jede ihren Weg finden, wie sie damit leben kann. Angst und Scham lähmen mich, spielerischer Kampf belebt mich.

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ehemalige BAG-Mitarbeiterin
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Geht mir auch so. Die Bürokratie als Game begreifen, und sie mit ihren eigenen Waffen schlagen - das lernt man schnell, wenn man in einem Amt überleben will. Zugegebenermassen ist es auf Papier viel einfacher als digital, weil man, wenn man bei letzterem gewisse Felder auslässt oder extra falsch ausfüllt, die Eingabe nicht schliessen oder den Spezialfall begründen kann.
Bei der letzten Steuererklärung (Kt ZH) mit der neuen Eingabemaske gabs noch zig Kinderkrankheiten. Binationale Ehepaare, die in CH und D leben, waren nicht vorgesehen. Es wurde also nach dem 3a-Ausweis meines Manns gefragt. Der hat aber keinen. Weitermachen ohne Foto des Ausweises ging nicht. Also hab ich auf einen Fresszettel in Sauschrift geschrieben, mein Mann sei deutscher Staatsangehöriger und habe keinen 3a-Ausweis (mit 3 Ausrufezeichen), habs abfotografiert und hochgeladen. Das hat das Programm dann geschluckt, und ich ging als Siegerin vom Platz…
Warum solche Formulare oft Sinnloses abfragen, bzw. an der Realität vorbeigehen? Weil sie nie getestet werden. Und weil nie begründet werden muss, Item für Item, wozu man das abfragt. Das sparte man sich annodazumal wie heute…

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Ein sehr erhellender Beitrag! Ich möchte nur anfügen, dass die Bürokratie nicht im luftleeren Raum steht, sondern dass immer auch gesellschaftliche Haltungen und Voreingenommenheiten dahinter stehen, die sich in politischen Vorgaben niederschlagen. Wenn soziale Ausgaben um jeden (menschlichen) Preis gedrückt werden sollen, wenn ökonomisch schwache Menschen als Schmarotzer betrachtet werden, wenn alles daran gesetzt wird, dass Flüchtlinge abgewiesen werden können – diese Aufzählung lässt sich beliebig erweitern –, dann sind bürokratische Hürden sehr effiziente Mittel, um diese Ziele erreichen zu können

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Exakt!

Schlussendlich sind Formulare, Rollenerwartungen, etc. Ausdruck struktureller Gewalt. Sei dies beim Ausfüllen eines Formulars, beim Nicht-Wählen-Können von Menschen ohne Pass, bei der Bezeichnung und Behandlung geflüchteter, illegalisierter Menschen, bei der BeHinderung von Menschen, beim Unsichtbarmachen, ...

Aus einer multiplen, sehr privilegierten Position mag das Ausfüllen eines Formulars ärgerlich sein. Die analogen Strukturen kosten weniger privilegierten Menschen das Leben, traumatisieren, machen unsichtbar, ...

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Even Meier
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Mehr zu multipler Privilegierung in diesem Kommentar zu einem anderen Beitrag aus dieser Kolumne.

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Beim Lesen dieses interessanten Artikels kam mir in den Sinn, dass ich mich einmal - als damals Frustrierter in der Arbeitswelt - zu dieser Thematik in meinem Tagebuch äusserte:
18. 8. 2018: Endlich hat jemand laut «Die Zeit» ein Buch über die Sinnkrise auf dem Arbeitsmarkt – er nennt es Bullshit-Jobs – geschrieben. Abgebaut werden die Stellen wo Güter gefertigt werden. In meinem Fall war das Gut die Lernenden, die wir auszubilden hatten. Wo der Staat mit der Privatwirtschaft, oder hier im Betrieb als Nahtstelle, verflochten ist, entstehen laufend neue Bullshit-Jobs, welche zudem besser bezahlt sind als die Sinnvollen. Aber da bei den Geldgebern (Staat/IV) dasselbe im Gang ist, dürfte dieses Spiel noch lange so fortgesetzt werden. An der Front tun noch schlecht bezahlte Praktikanten oder befristet Angestellte die Arbeit während das Haus sich mit Bullshit-Managern füllt, die einander ihre mit Planungs- und Projektarbeiten überspielte Langeweile nicht gönnen und evaluieren, kontrollieren, koordinieren, lösungsorientieren, standardisieren und so weiter und so fort, sich mit Info-Mails an all die Anderen absichern (die wiederum haben diese zu lesen, um an der nächsten unnötigen Sitzung im Bilde zu sein) und damit ihre Beschäftigkeit bekräftigen. Sie konzentrieren sich vornehmlich darauf, alle ihre vorgängig regulierten Vorgaben einzuhalten, um sich im Ernstfall vor jeglicher Verantwortung reinwaschen zu können.

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Interessanter Tagebucheintrag, der die Essenz des Buches gut erfasst.
Ich möchte hier aber noch ergänzen, das Graeber sehr stark betont hat, dass Bullshit Jobs auch in der Privatwirtschaft nicht seltener sind als in staatlichen Organisationen:

[...] if you complain about getting some bureaucratic run-around from your bank, bank officials are likely to tell you it's all the fault of government regulations; but if you research where those regulations are from, you'll likely discover that most of them were written by the bank.

Und auch:

[...] the same period that saw the most ruthless application of speed-ups and downsizing in the blue-collar sector also brought a rapid multiplication of meaningless managerial and administrative posts in almost all large firms. It's as if businesses were endlessly trimming the fat on the shop floor and using resulting savings to acquire even more unnecessary workers in the offices upstairs.

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Vielen Dank für die Ergänzung. Tatsächlich ist die Privatwirtschaft heute führend in bürokratischem Leerlauf. Allerdings beziehe ich mich nicht auf das Buch Bullshit Jobs von Greaber sondern auf sein früheres Bürokratie. Die Utopie der Regeln

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Mir scheint, dass die Bürokratie unter dem Druck der rechten Parteien immer „misstrauischer“ wird, um Missbrauch zu verhindern. Dadurch erreicht sie aber genau die Ausprägung („bürokratisch“), die ihr von denselben Parteien ebenfalls vorgeworfen wird: eine Art doublebind-Situation.

Fun fact: Es gibt auch positive Beispiele der Bürokratie: Das Online-System zur Eingabe meiner Steuererklärung macht mich jeweils darauf aufmerksam, wenn ich mich zu meinen Ungunsten irre (z.B., wenn die Summe meiner haarklein aufgelisteten Abzüge kleiner ist als der Pauschalabzug). Einmal sogar wurde die Selbstdeklaration meiner Steuerlast von der Steuerbehörde um sage und schreibe einen Franken nach unten korrigiert. (Das sagt natürlich nichts darüber aus, ob das Steuersystem in sich gerecht ist oder nicht…)

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Tatsächlich bestätigt Ihr Beispiel einen Eindruck von mir: Institutionen, deren Aufgabe bürokratischer Natur ist, wie die Steuerbehörde, sind oft weniger schlimm, als Institutionen, bei denen die Bürokratie sozusagen ein Kollateraleffekt ist, wie die Uni

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Wenn Bürokratie auf digitalen Schwachsinn trifft, wird es ganz bitter.
PS. In Irland gibt es einen Ausdruck dafür wenn jemand sturzbetrunken ist: "Der hat sein Formular ausgefüllt."

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Timo Würsch
Informationsarchitekt
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Wunderschöne Anekdote vom bürokratischen Grenzbeamten. Danke, Herr Strassberg!

Was bei der computergestützten Bürokratie allerdings gerne vergessen geht: Solche Systeme werden immer noch sehr oft direkt oder indirekt von Technikern gestaltet, die keine Ahnung davon haben, welche Aus- und Nebenwirkungen das genannte ominöse Sternchen, oder aber auch Entscheidungsalgorithmen auf die Menschen haben, die ein solches System benutzen. Besser wird das erst, wenn sich die Techniker auf die technische Umsetzung konzentrieren, und andere die Gestaltung übernehmen.

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Den ersten Teil sehe ich auch so. Die Lösung ist jedoch nicht, die Gestaltung von der Technik zu entkoppeln. So entstehen teure, nicht umsetzbare Projekte - oft genug erlebt. Gemeinsame Konzeption wäre zielführender.

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Timo Würsch
Informationsarchitekt
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Absolut. Es geht mir nicht um Entkopplung, sondern um klare Arbeitsteilung. Ohne miteinander zu reden geht es nicht, und an der Machbarkeit vorbeidesignen bringt niemandem etwas, weil's dann gar nicht beim Benutzer ankommt.

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Mein bisher für mich stets ungreifbares Unbehagen (für das ich eine "übertriebene Empfindlichkeit" verantwortlich machte) perfekt und schlüssig erklärt!
Vielen Dank dafür!
Offen bleibt die Frage: Wie können wir das wieder ändern?

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Danke für diese Einsicht in das Wesen der Bürokratie.

Augenfällig ist es in Ausbildung und Lehre. Das System wird gezwungen immer mehr Berichte zu produzieren um sich und die Lernenden zu legitimieren. Das Misstrauen der Institution gegenüber ist so gross, dass der Auftrag der Lehre sich bald in Bürokratie tot läuft.

Was da auf der Strecke bleibt dürfte auch klar sein. Das Engagement aller, Lehrer und Schüler gleichermassen.

Wen werden die vielen Daten und Berichte später noch interessieren?

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Jetzt ist mir endlich klar warum ich Formulare so hasse. Ich muss mein Leben irgendwie in ein Schema zwängen und da das nie so gut gelingt, fühl ich mich danach schlecht, dass ich das Formular nur unzureichend ausgefühlt habe und es meine Person in der relevanten Hinsicht nicht richtig repräsentiert. Diese je nach dem widersprüchlichen Daten werden dann irgendwo abgelegt und man darf nur hoffen, dass sie einen nie einholen.

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"... in ein Schema zwängen ...*, das erinnert an den Mamablog von Nicole Gutschalk:
https://www.tagesanzeiger.ch/verdie…0401650957

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Advocatus diaboli
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Es ist mir schon klar, dass Strassbergs Kolumne nicht als Plädoyer für Schamlosigkeit zu lesen ist. Trotzdem halte ich seine These, dass die Bürokratie uns zu schamhaften Wesen machen soll, für ziemlich steil. Falls das wirklich der Plan der Bürokratie ist, muss er als komplett gescheitert angesehen werden.
Es ist doch vielmehr so, dass sich in allen Lebensbereichen eine totale Schamlosigkeit ausgebreitet hat. Die schamloseste Person, die man sich nur ausdenken kann, wurde sogar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Ein Mann, der sich selbst als Pussygrabscher brüstet, jede rote Linie überschritten hat, die man nur kann (ich erinnere beispielsweise an die Nachäffung eines behinderten Journalisten), ohne dass er sich dafür auch nur ein bisschen geschämt hätte. Oder dass ihm das gar geschadet hätte. Im Gegenteil. Je schamloser er sich benahm, desto grösser wurde die Zustimmung unter seinen Bewunderern. Diese Leute werden mit Sicherheit auch nie Scham beim Ausfüllen eines Formulars empfinden, weil sie den Erwartungen der Behörden nicht genügen. Sie empfinden lediglich blanken Hass und Wut auf die Behörden, die sie dazu zwingen, ein solches Formular überhaupt ausfüllen zu müssen. Personen, die es sich leisten können, werden solch lästige Angelegenheiten sowieso komplett delegieren. Sie leben generell in einer Parallelwelt, in der die gesellschaftliche Konventionen oder Gesetze der realen Welt nicht gelten. Und in der Scham weder als Wort und schon gar nicht als Empfindung vorkommt.
Von Klaus Theweleit stammen folgende klugen Sätze: «Nur wo eine Scham bleibt, entsteht Geschichte.» (…) «Wer dies Gefühl der Scham nicht kennt (es handelt sich um eine Auflösung des Körpers, eine Selbstverschmelzung – der Körper vergeht in einem heissen Flimmern und baut sich neu und ‹gereinigt› wieder zusammen), wer diese halluzinatorische Anerkennung der Schönheit des Daseins der anderen, vor deren Schönheit man sich schämt, nicht kennt, bleibt von der Wahrnehmung der Daseinsweise anderer Menschen so gut wie hoffnungslos ausgeschlossen.»

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Albert America
Grafik und Webdesign
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Der Zusammenhang von bürokratischen Formularen und Algorythmen ist sehr treffend geschrieben. Danke. Leider ist die Meinung über "Optimierung von Algorythmen" als Lösung weit verbreitet. Auch wenn ihre Verwendung schon im Ansatz falsch ist. Programmierte Waffensysteme, selbstfahrender Individualverkehr, automatisierte Gefährdersuche, scheinen mir wie ausser Kontrolle geratene "Formulare".

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Das Problem da, ist oft der Input. Da hat ein Algorithmus zum Beispiel den Input "Geschlecht" und hat zwei akzeptierte Werte "männlich" und "weiblich", kann so nachher unterschiedliche Gewichtungen für allerhand Berechnungen anwenden und ergibt eine vielleicht nicht mal so schlechte Lösung raus (natürlich mit vielen anderen Daten und Inputs). Aber was ist jetzt wenn ich non-binär bin oder mich sonst nicht mit "männlich" oder "weiblich" identifiziere? Die Lösung wird vermutlich schlechter auf mich passen.

Das Problem der Algorithmen (und Formulare) ist, wenn der Input bereits eine Selektion vornimmt, was überhaupt gemessen und verarbeitet werden kann.

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Lucia Herrmann
Community-Redaktorin
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Zwei Lektürehinweise für alle, die das Thema Algorithmen und Voreingenommenheit vertiefen wollen: «Wer sind wir? Warum künstliche Intelligenz immer ideologisch ist» und die tolle «Lange Sicht» zu Google-Translate «Sie ist hübsch. Er ist stark. Er ist Lehrer. Sie ist Kindergärtnerin».

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Dass in Umfragen 1/3 bis 1/4 der Leute ihren Job als sinnlos bezeichnen, hat auch mit einer Bürokratie zu tun, gegen die Widerstand mühsam bis sinnlos ist. Sie ist Teil des Business-Theaters und unterliegt immer neuen Moden. Selbst der Kampf gegen die Bürokratie wird leicht selbst zu einem bürokratischen Fetisch, zum Beispiel als Change Management. Hier mitlesende Behörden und Unternehmen sind natürlich wie immer ausgenommen. Sicher ist sicher.

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Ich denke, bei einer Diskussion der Bürokratie sollte nicht vergessen werden, dass mit einer korrekt umgesetzten Bürokratie nicht nur die Subjekte gleichbehandelt werden. Es sind ja auch die Aktoren (also die 'Beamten'), derern Verhalten normiert werden soll. Inkompetenten und böswilligen Beamten sollen willkürliche und systemwidrige Entscheide verunmöglicht werden.
Leider sind die Verfahren zur Herstellung von Informatik-Systemen noch ziemlich neu (viel länger als viele der Verfahren grosser Organisationen) und es dauert Jahrzehnte, bis sich das Wissen, wie man das tun sollte, in der Praxis etabliert. Heute konstruierte Systeme verletzen noch immer viele Regeln zum korrekten Programmieren, die schon seit vierzig Jahren oder länger bekannt sind.
Mit der Gestaltung von organisatorischen Systemen steht es leider nicht besser. Vielleicht fehlen für diesen Bereich wie auch für die Entwicklung von Informatik-Systemen noch die passenden Bürokratien.
Weiter sollte man auch bedenken, dass ergebnisfreie Rituale nicht eine Erfindung oder ein Beifang der Bürokratie sind. Diese gab es schon lange vorher, wie auch willkürliche Entscheide oder sinnwidrige Regelungen.
Zu guter Letzt stelle ich in Frage, ob nur Menschen sich schämen können. Nachbars junge Katze, die versehentlich eine Nacht in meiner Wohnung verbrachte, konnte sich nicht lange genug zurückhalten. Sie hat in eine Ecke gemacht. Früh morgens hat sie mich dann mit viel Pomp begrüsst, ist mir um die Beine gestrichen und hat alle Register der anhänglichen Katze gezogen. Vielleicht war sie ja einfach froh, mich zu sehen, damit ich sie in die Freiheit entlassen konnte. Vielleicht hat sie sich aber auch dafür geschämt, dass sie ihre Notdurft dort verrichtet hatte, wo sie nicht sollte.

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Lieber Herr P. besten Dank für Ihre Ergänzungen. Die Frage ist tatsächlich, ob es eine Frage des ungenügenden Programmierens ist, oder ob, was ich beschrieben habe, der Technologie selbst eingeschrieben ist. Jeder technologische Fortschritt führt notgedrungen zu einen Standardisierung. Kekse, die von einer Maschine produziert werden, sehen immer gleich aus, und der Mensch, den der Computer generiert ist meines Erachtens notwendig ein Standardmensch

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Lieber Herr Strassberg
Ich denke, dass die Frage wohl unbeantwortet bleiben wird. Huhn und Ei. Immerhin können wir beobachten, dass die Bürokratie schon vor der Informatik existiert hat und auch schon dann viele der heute beobachteten Defekte produziert hat. Keine Genehmigung ohne Pass, kein Pass ohne Genehmigung. In den Siebzigerjahren hatte man für eine Computer-Anwendung den Ausdruck "Sozio-Technisches System" geprägt. Darin verborgen liegt auch die Tatsache, dass eine der Ursachen nicht darin liegt, dass der Computer den Subjekten Zwänge auferlegt, sondern dass die so auferlegten Zwänge schon vor der Einführung des Computers gewollt waren. In einigen Fällen konnte man sie halt erst richtig umsetzen mit der Kraft des Computers.
Es ist eben nicht die Technologie, die das Problem ist, sondern deren hirnlose und vor allem rücksichtslose Nutzung. War es der technologie selbst eingeschrieben, dass die Besitzer von Textilfabriken reich und reicher wurden, während die Weber weit unter die Armutsgrenze rückten?
Im übrigen teile ich Ihre Meinung nicht, dass jeder technologische Fortschritt zu einer Standardisierung führt. Die Umgangsformen, der schriftliche Ausdruck, das Leben, ja sogar die Stile und die Ausdrucksmittel in fast allen Künsten folgten vor hundert oder zweihundert Jahren in unserer Gesellschaft weitaus engeren Grenzen als heute.
Wir haben viele alte Standards durch neue ersetzt, oft nicht zu unserem Vorteil, manchmal schon.

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Emilie Boillat
Business Developer
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Über die Bürokratie, die zu Lüge und Betrug zwingt, um genau denselben Betrug zu vermeiden: Das gilt nicht nur für BürgerInnen, sondern auch für Unternehmen, die mit Steuergeldern finanzierten Dienstleistungen erbringen / Produkte verkaufen. Dabei geht es um Millionen- oder gar Milliardenaufträge, die man nur bekommt, wenn man "betrügt", um sich an den unrealistischen Spielregeln zu halten. Ein Beispiel: der Vertrag für einen Auftrag kommt erst nach der Ausführungsfrist an, aber nur Arbeit ab Vertragsunterschriftsdatum darf in Rechnung gestellt werden.

Prozesse werden traditionellerweise für die Organisation intern optimiert. Wenn die verschiedenen Verwaltungsabteilungen den Bürgern bzw. Unternehmen alle inkompatible Vorschrifte machen, um sich selber das Leben zu vereinfachen, ergibt das unmögliche Erwartungen.

Die Lösung ist einfach: jemand muss sich die Mühe geben, Prozesse aus Sicht der "Kunden" zu überprüfen . Z.B. Sozialhilfe beantragen vom ersten Formular bis zur letzten Überweisung. Oder IT-Projekt realisieren von der Ausschreibung bis zur Zahlung der letzten Rechnung. Es soll möglich sein, ohne Falschangaben den ganzen Prozess durchzumachen.

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Michel Romanens
Präsident www.vems.ch
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Erneut ein hervorragender Beitrag von Prof. Strasberg. Im Grunde genommen ist es das, was Sicherheit geben soll, Unsicherheit schafft. Dazu passen die Beispiele zu Sozialhilfeempfängern und Invaliden Versicherten. Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs, den die Assekuranz in die Welt setzt. Weitere Beispiele sind QALY (quality adjusted life years), hier hat sich der Patient einer Norm entsprechend zu verhalten, oder Fallpauschalen in der Medizin (bisher im Spital, bald auch ambulant), ferner Wirtschaftlichkeitsverfahren (alle Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz werden jährlich geprüft, ob sie den Normen der Assekuranz, hier santésuisse, entsprechen, auch hier die Umkehr der Beweislast, wie von Prof. Strasberg erwähnt) oder neue mathematische Maschinerien, welche bald entscheiden werden, ob wir noch weiter leben dürfen (https://www.nejm.org/doi/full/10.10…Mms1904869). Leider sind die linken Parteien gegenüber den toxischen Narrativen der Assekuranz blind, übernehmen diese unbesehen, lassen sich von ihnen beeinflussen und zerstören damit zentripetale Kräfte der Gesellschaft. Der VEMS hat diverse dieser Probleme seit Jahren vertieft bearbeitet: https://www.vems.ch/aktuelles/unser…i-papiere/

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Neben der latenten Einschüchterung der Bürger ist ein weiterer Effekt der Bürokratisierung das wachsende Verschlingen von Lebenszeit und -energie der Menschen. Ob möglicherweise auch deshalb eine Revolte gegen diese Entwicklung unterbleibt?

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Johanna Wunderle
Hauptberuflich Hausfrau
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Dieser "weiterer Effekt" ist sehr stark. Von Verwandten und Freunden, die in Pflegeberufe tätig sind, höre ich immer wieder, dass sie keine Zeit für ihre wirkliche Aufgabe haben, weil die Qualitätssicherung gewährleistet werden muss. Das heisst: es werden endlos Berichte geschrieben und Formulare ausgefüllt.
Aus meinem Berufsverband bin ich ausgetreten, weil eben durch eine bürokratische Qualitätssicherung das Wesentliche dieses Berufes unter Papier begraben wurde.

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Formularitis - insbesondere in der digitalen Ausprägung - ist als Krankheit verwandt mit Powerpointitis. Beide können bei den Betroffenen zu einer Verzerrung der Wahrnehmung und zu unerwünschten pseudo-logischen Artefakten führen.
Man nehme dagegen ein ausreichend hoch dosiertes Anaolgikum.

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Danke für diese ausgezeichnete Kolumne. Der digitalbürokratische Ungeist steckt leider auch der Forschung tief in den Knochen. Habe gerade an einer unsäglichen smartvote- Übung ( sog."Demokratiefabrik") teilgenommen und sie entnervt abgebrochen wegen der penetranten und schematischen Abfragerei.

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Und noch: Vor vielen Jahren gab es in der Primarschule statt Noten Bewertungsbögen. Diese wurden im Rahmen der Fortbildung eingeführt. Nach einigen Rückfragen meinte der Kursleiter leicht genervt: " Eigentlich ist es ganz einfach, die mittlere Kolonne ist etwa eine Vier."

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Die unterschwelligen Gegebenheiten sehr klar beleuchtet. Danke dafür!

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Die Bürokratie beherrscht unser Leben. Ja, sofort einverstanden. Aber dass sie mich schuldhaft zurücklässt? Eher nicht. Dafür aber oft zornig und ohnmächtig.

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(von der Moderation verborgen)
Lucia Herrmann
Community-Redaktorin
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Grüezi! Die verlinkte Webseite führt kein Impressum, dafür viele steile Thesen und anonymisierte Vorwürfe. Das erachten wir als problematisch (siehe die Ausführungen hier). Bitte den Kommentar noch einmal neu ohne den Link zur Webseite veröffentlichen. Merci!

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Vielen Dank für diesen Beitrag. Mir ist unmittelbar klar geworden, weshalb mich der Republik-Artikel über den Zahlensalat im BAG damals so beelendet hat, obwohl inhaltlich nichts dagegen einzuwenden war. Es war die naive Überzeugung, die aus jeder Zeile sprach, wenn nur genügend Daten gesammelt und digital aufbereitet würden, hätten wir die Pandemie schon bald im Sack.

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jaap achterberg
schauspieler
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Ja. Klar! Einleuchtend. Danke. Was tun?

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Verena Goanna •in :)) Rothen
fotografie, texte, webpub&lektorin
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Eine andere Reaktion darauf ist wohl, in solchen Situationen in permanente Auflehnung zu geraten; oder auch Wut, durch die beschriebene Art der Bürokratie bzw. Digitalisierung (ein Papierformular lässt an sich ja ziemlich viel Freiheit und Fantasie zu; eine Schulklasse von mir hat mal eine ganze Englischprüfung/-probe mit vielfarbigen Blümchen ausgefüllt; ich sehe die Blätter noch vor mir; die Geschichte dazu auch; nach 3 Jahrzehnten; welcher Computer schafft das schon!), diejenige Standardisierung, die jeden Menschen mit Grundmisstrauen und regelrechter Paranoia betrachtet (oder eben als Kriegsgegner•innen, wie ich hier soeben gelernt habe). —

Weshalb mich das hier, entgegen meinem Vorsatz, mir mal eine kleine Auszeit von fast allem zu gönnen, aufschreibe: in einem der letzten Wochenbeilagen Das Magazin, das, da Aufräumen angesagt, aber von irgendwann stammen könnte, das mir in die Hände gefallen ist, hat irgendein sicher sehr renowned, angesagter Mann (Epidemiologe? Philosoph? Sozialwissenschaftler? Politiker?) fast in einem Nachsatz geschrieben:

Angst sei systemerhaltend; Wut sei system-gefährdend/zerstörend(?), jedenfalls heftiger als nur systemverändernd, irgendsowas.

(Ach, genau; es ging - in einem ziemlichen Pauschalaufwasch, wie mir schien - um Regierungen und ihren Umgang mit der Pandemie; dem Artikel zufolge schien es kaum Unterschiede gegeben zu haben; unser menschliches Gedächtnis reicht offensichtlich effektiv keine paar Monate weit; auch bekannte, angesehene Gedächtnisse bisweilen nicht).

Nun; seither denke ich jeden Tag: wer Angst als systemtragend und systemerhaltend beschreibt, die oder der geht bei System ganz offensichtlich nicht von einer Demokratie aus.

Die kommt vorwärts und entwickelt sich immer gerade auch durch Auflehnung und Wut, solange es nicht blosse Massenhysterie (und damit mehr Angst denn Wut ist) ist;
Angst hingegen schleift sie, vergiftet sie, killt sie.

Zwar schleichend, wie dies die wirklich unmenschlichen unter unseren Abstimmungsresultaten mit etwas Verspätung nach 9/11 ebenfalls fast zwanzig Jahre schon tun - ein Asyl“recht“, das längst Asylabwehrsystem heissen müsste; und inzwischen hat genau das hier beschriebene militarisierte Standard-Grundmisstrauen wirklich und tatsächlich 12-jährige Kinder auf dem Radar.

Ich fasse es noch immer nicht. Haben wir als Gemeinschaft nun echt und wirklich und tatsächlich Angst - Angst (!) - vor Kindern? Sosehr, dass wir diese präventiv - zum Voraus, ohne jegliche verifizierten, überprüften Beweise (!) einsperren wollen jetzt???!?? Das kann doch schlicht nicht sein.

Einige dieser letzten Gesetze werden wir wieder abschaffen müssen.

Und ich hoffe, bis dahin wissen wir wieder wer wir sind; spüren wenigstens zwischendurch noch was anderes in unseren Herzen als Angst; und auch nach der Wut mal wieder etwas schlichte Mitmenschlichkeit, Fürsorge, Ernsthaftigkeit; Liebe gar; welch verwegener Gedanke das manchmal scheint.

Einfach ein klein wenig zwischenmenschliche Liebe.

Ein wenig Liebe für unsere Erde.

Etwas Liebe für die Millionen von Lebewesens und Seinswelten, denen - wir alle! - jeden einzelnen Tag begegnen an jedem Ort auf unserem Planeten.

In jeder Rinde am Wegesrand, in jedem Steinhaufen und Sandwall in der Wüste stecken Zehntausende davon; oder warens nur schon mehr; auch mein Hirn ist schläfrig geworden in der Pandemie.

Anyway; so viel zu systemstärkenden Emotionen und Herzen und Gedanken.

Gute Nacht.

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Entwickler Begriffsmoleküle und LD-Cards
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· editiert

Bürokratie - ein in der Tat alltägliches Thema, mit dem wir es immer wieder unwillig zu tun haben.

Doch nicht hinter jeder schlechten Entwicklung steckt eine schlechte Absicht und gerade die Zunahme der Bürokratie erfolgt in der Regel mit den besten Absichten. Man möchte z.B. die egoistische Ausnützung einer aktuellen Situation durch schamlose Individuen verhindern. Oder die bestehenden Gesetze treffen Einzelne ungerecht und müssen differenziert werden. In allen solchen Fällen werden die Regulative komplizierter, doch dahinter steckt eben keine böse, sondern im Gegenteil eine nachvollziehbare Absicht.

Ist nun Bürokratie gut oder schlecht?

Eine solche Frage wäre m.E. falsch gestellt. Bürokratie ist vielmehr unausweichlich, denn je grösser ein System ist, umso grösser ist auch der ineffiziente Overhead, der dafür gebraucht wird, das Ganze überhaupt am Funktionieren zu halten. In einer kleinen Firma weiss ich, was jeder macht, in einer grossen muss ich es kontrollieren - und je grösser sie ist, umso aufwendiger wird die Kontrollarbeit.

Das ist ein Naturgesetz. Wenn wir interessiert sind, Leerläufe zu vermeiden, geht das besser in kleinen Firmen und Organisationen. Dummerweise haben grosse Firmen und Organisationen durch ihre Grösse bedingt ihre eigenen, nicht unbeträchtlichen Vorteile, sodass sie trotz Ineffizienz mächtiger sind. Eine spannende Dialektik: Setzt sich der Grosse oder der Kleine durch? Der Grosse ist stärker, weil er grösser ist, der Kleine aber stärker, weil er effizienter ist.

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MissCellaneous
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Toller Artikel: Kafka, David Gräber, ein Zelt in Algerien, 2. Weltkrieg und Militär und das Stockholm- Syndrom - alles in einem Artikel zur Bürokratie untergebracht, genial!

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Beruhigend zu lesen, dass es nicht nur mir so geht und ich einen persönlichen Kampf kämpfe, mit der Bürokratie, aufgrund meiner Verfehlungen und innerer 'Verwürnisse', sondern dies Vielen so geht und dies ein System-Effekt darstellt. Ich bin nicht die Krankheit, ich bin das Symptom.

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(durch User zurückgezogen)

Wieso eigentlich?
Vielleicht einfach, weil wir uns zu sehr um Schuld und Schuldigkeiten kümmern, als einfach unseren Beitrag zu leisten ?

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