Schämen Sie sich!
Die Bürokratie beherrscht unser Leben – und anstatt uns zu wehren, machen wir alles schuldbewusst mit. Wieso eigentlich?
Von Daniel Strassberg, 06.07.2021
Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:
Im Rahmen der Weiterbildung an der Universität Zürich unterrichte ich mit Kollegen seit vielen Jahren einen Kurs in Philosophie. Wie es sich gehört, liefern wir jedes Jahr einen Rechenschaftsbericht ab. Zu Anfang beschrieben wir in eigenen Worten, was sich während der beiden Semester zugetragen hatte, was gelehrt und gelernt wurde, wie sich die Atmosphäre in den Kursen entwickelte und welche Feedbacks wir am abschliessenden Apéro erhalten hatten. Am Ende fügten wir noch die Einnahmen und die Ausgaben ein.
Inzwischen bekommen wir von der Unileitung einen vorgefertigten Rechenschaftsbericht aus Textbausteinen zugesandt, in den wir nur noch Zahlen einfügen müssen – die uns ebenfalls zugeschickt werden, und zwar von derselben Unileitung. Das Einfüllen der Zahlen entpuppt sich als zeitraubende Aufgabe, weil ich erstens von Buchhaltung nichts verstehe und deshalb nie weiss, welche Zahl in welches Feld gehört, und zweitens, weil die Formatierung der Tabelle regelmässig verrutscht. Auf die Nachfrage, weshalb der Computer die Zahlen nicht gleich in die Tabelle eintragen kann, kann mir niemand eine Antwort geben.
Jeder oder jede kennt solche bürokratischen Leerläufe, alle leiden darunter, und niemand begehrt dagegen auf. Sieht man von dem Buch «Bürokratie» von David Graeber ab, ist nicht einmal eine linke Bürokratiekritik in Sicht. Wahrscheinlich spielt die Angst eine Rolle, sich mit den falschen Leuten ins Bett zu legen, hat doch die neoliberale Rechte die Kritik an der Bürokratie für sich gepachtet mit der nachweislich falschen Behauptung, nur die öffentliche Verwaltung produziere bürokratischen Leerlauf, während die Wirtschaft frei davon sei.
Doch diese Erklärung reicht nicht aus. Um die seltsame Lähmung angesichts der Wucherung bürokratischer Leerläufe besser zu verstehen, möchte ich Sie zu jenem Ereignis mitnehmen, das mir einst das Wesen der Bürokratie offenbart hatte. Wie jede gute Offenbarung geschah es in der Wüste.
Vor mehr als dreissig Jahren wollten wir in der Sahara die Grenze zwischen Algerien und Marokko passieren. Da die beiden Länder damals verfeindet waren, gab es nur einen einzigen offenen Grenzübergang, und dieser war nur an zwei Tagen in der Woche besetzt, jeweils zwischen 12 und 16 Uhr. Um die Öffnungszeiten auf keinen Fall zu verpassen, fanden wir uns schon etwa zwei Stunden früher an besagtem Grenzübergang ein. Er bestand auf algerischer Seite aus zwei Zelten, eines diente als Büro, das andere als Warteraum. Im Wartezelt sass bereits ein grosser, schlaksiger Berber auf einem Teppich und kochte sich einen Tee. Er begrüsste uns freundlich, bot uns Tee und trockene Kekse an, erkundigte sich nach unserer Reise und erzählte von seinem Heimatdorf und seiner Familie. Wir schwatzten gemütlich, die zwei Stunden vergingen wie im Flug.
Pünktlich um 12 Uhr stand unser neuer Freund auf, marschierte wortlos in Richtung des anderen Zelts, öffnete es, setzte sich hinter das Pult und rief uns zu sich. Unser Freund war der Grenzbeamte! Er bat uns um unsere Papiere, als hätte er uns noch nie gesehen, fragte nach dem Ziel der Reise und woher wir kämen. Dieselben Fragen wie vorher, allerdings in einem anderen Ton. Kein Zeichen des Wiedererkennens.
Da verstand ich das Wesen der Bürokratie: Sie verwandelt, unabhängig von ihrer jeweiligen Aufgabe, Menschen in Datenbündel mit messbaren Eigenschaften und eliminiert, was nicht zählbar und vergleichbar ist. Für die Verwaltung existieren keine Personen. Der Glockenschlag verwandelte unseren Freund in einen Bürokraten ohne Erinnerung und uns in Datenbündel ohne Geschichte.
Bereits der erste grosse Theoretiker der Bürokratie, der Heidelberger Soziologe Max Weber (1864–1920), erkannte, dass es die Aufgabe des bürokratischen Prozesses ist, das Individuum seiner Eigenschaften zu berauben:
«Sachliche» Erledigung bedeutet in diesem Fall [i. e. der Bürokratisierung] in erster Linie Erledigung «ohne Ansehen der Person» nach berechenbaren Regeln. Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht unter dem Prinzip des «sine ira ac studio» [auf Deutsch: ohne Zorn und Eifer]. Ihre Eigenart entwickelt sie umso vollkommener, je mehr sie sich «entmenschlicht».
Doch Weber sieht in der Bürokratie nicht nur ein empathieloses Instrument der Kontrolle, sondern auch einen demokratischen Fortschritt. Die «Entmenschlichung» erlaubt ihr nämlich, ohne «Ansehen der Person» zu handeln, das heisst: unparteiisch und gerecht. Um Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen und Fürsorge für alle Menschen gleichermassen zu planen und aufzubauen, müssen persönliche Neigungen und Vorlieben hintangestellt werden.
Die staatliche Fürsorge, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand, knüpfte Hilfeleistungen erstmals nicht mehr an die Glaubenszugehörigkeit, an die Herkunft, an ein politisches Bekenntnis oder an persönliche Vorlieben. Allen muss gleichermassen geholfen werden: Das war der Grundgedanke der öffentlichen Intervention. Selbstverständlich wurde dieses Ideal niemals auch nur annähernd verwirklicht, aber dennoch darf man die Wirkung dieses Bekenntnisses zur Hilfe für alle nicht unterschätzen.
Ebenfalls nicht unterschätzen sollte man es, wenn die Gültigkeit dieses Bekenntnisses plötzlich radikal infrage gestellt wird. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo schreibt der Publizist Jean Améry (1912–1978):
Ich weiss also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch bin ich sicher, dass er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüsst, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Es wird die körperliche Überwältigung durch den anderen vollends ein existentieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist [Hervorhebung DS].
Wir leben, so Améry, in der Gewissheit, dass uns geholfen wird, wenn wir in Not geraten. Früher war dafür die Kirche, das Dorf oder die Familie zuständig, seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermittelt der Staat die «Hilfsgewissheit». Selbst wenn diese Gewissheit irrational, die Verwaltung nicht erreichbar und korrupt ist oder sich ganz in den Dienst der Mächtigen stellt, grundiert sie jenes Weltvertrauen, ohne welches das Leben unerträglich wäre. Sich gegen die Bürokratie zu wehren, birgt also immer die Gefahr, das Vertrauen zu verlieren, dass einem geholfen wird.
Seit der Computer in die Bürokratie Einzug gehalten hat, scheint sich die Verwaltung allerdings in ihr Gegenteil verwandelt zu haben. Sie ist zu einer misstrauischen Hilfsverweigerungsmaschinerie geworden, deren Aufgabe darin besteht, Betrug, Hochstapelei und Missbrauch aufzudecken. Die Bürgerin steht immer unter Verdacht, und sie muss beweisen, dass sie unschuldig ist. Beim «normalen» Bürger gibt sich die Bürokratie noch Mühe, das Misstrauen zu kaschieren, bei Flüchtlingen, Sozialhilfeempfängerinnen oder IV-Bezügern agiert sie aber ganz unverblümt. Mit jeder Geste lassen sie die Hilfsbedürftigen wissen, dass man sie durchschaut habe und schon bald überführen werde.
Um zu verstehen, wie der Computer diese Umkehr bewerkstelligen konnte, muss man zu dem schicksalhaften historischen Moment zurückkehren, als die Bürokratie auf den Computer traf. Er lässt sich genau datieren: Es war der 20. September 1940, als Norbert Wiener (1894–1964), ein Mathematiker aus Boston, Vannevar Bush einen Brief schrieb. «Ich hoffe», schrieb er, «Sie können den Winkel einer Aktivität finden, in welchem ich in diesen Zeiten der Not von Nutzen sein kann.» Bush war nicht irgendwer, er war damals einer der mächtigsten Männer Amerikas, denn er entschied praktisch im Alleingang, welche Forschung kriegswichtig und daher vom Pentagon zu finanzieren sei.
Die Wehrlosigkeit, mit der die Briten dem deutschen Bombardement Londons ausgeliefert waren, hatte Wiener und Bush gleichermassen zur Überzeugung gebracht, dass die Verbesserung der Flugabwehr eine der wichtigsten Aufgaben der militärischen Forschung sein müsse. Das Problem war folgendes: Das Geschütz brauchte etwa 10 Sekunden, um auf das feindliche Flugzeug eingestellt zu werden, und weitere 20 Sekunden, bis die Granate das angepeilte Objekt traf – oder eben nicht. Der Flak-Soldat sollte also eine halbe Minute im Voraus wissen, wo sich das Zielobjekt befinden wird. Doch da der Pilot nach Belieben ausweichen, Haken schlagen und Flugbahnen ändern kann, ist er dem Soldaten an der Flugabwehrkanone immer einen Schritt voraus. Um das feindliche Flugzeug zu treffen, bräuchte er nämlich mehr Informationen darüber, was der Pilot in den nächsten Sekunden tun wird.
Wie kommt der Soldat zu diesen Informationen? Wiener und Julian Bigelow, ein Ingenieur, den Wiener zugezogen hatte, gingen von der Annahme aus, dass Menschen im Stress stereotyp handeln, also auch der Pilot des feindlichen Flugzeugs. Aus den Bewegungen, die er soeben vollzogen hat, müsste sich also die Flugbahn der nächsten Sekunden ableiten lassen. Das menschliche Nervensystem ist dazu viel zu träge, aber für einen Computer müsste es ein Leichtes sein. Sie programmierten also einen Computer, den sie AA Predictor nannten, so, dass er in Echtzeit die Veränderungen der Flugbahn des Flugzeugs wahrnimmt, sie mit dem früheren Verhalten des feindlichen Piloten vergleicht und die Ausrichtung der Kanone daraus berechnet. Der Algorithmus wusste, was der Pilot tun wird – bevor dieser es selbst wusste.
Vannevar Bush war von Wieners Idee begeistert. Er verstand, dass man auch die Verwaltung als kontrollierbaren Rückkoppelungsprozess begreifen kann. Mithilfe des Computers konnte die gesamte militärische Befehlskette, bestehend aus den drei C – communication, command, control – automatisiert werden. Die Wissenschaft der totalen bürokratischen Kontrolle mithilfe des Computers, die das Militär daraus entwickelte, hiess Operations Research (OR). Sie wurde zur Basis der modernen Verwaltungslehre.
Peter Galison, ein Physiker und Wissenschaftshistoriker aus Harvard, ist der Meinung, dass der Computer die gesamte Verwaltung mit seiner militärischen Vergangenheit infiziert hat. Er kann gleichsam nicht anders, als jeden und jede als Feind zu betrachten, dessen Verhalten man kontrollieren muss und vorausberechnen kann. Die Bürgerin ist, wie damals der deutsche Pilot, eine potenzielle Feindin, die lügt, betrügt und hochstapelt, der man aber mithilfe des Rechners und seiner Formulare auf die Schliche kommen kann.
Und das läuft so: Die Formulare, die die Verwaltung auf ihre Website stellt – das Antragsformular für eine IV-Rente, der Antrag für Forschungsgelder oder der Antrag um die Aufnahme eines Asylverfahrens –, sammeln nicht nur Informationen, sie informieren die Adressaten auch über die Erwartungen des Absenders. Sie produzieren somit den computergenerierten Standardklienten, dem gegenüber die Adressatin immer im Defizit ist: Immer sind einige der Fragen unbeantwortbar, entweder treffen sie für den vorliegenden Fall gar nicht zu oder das entsprechende Wissen ist noch nicht vorhanden – zum Beispiel müsste das Ergebnis der Forschung, für die das Geld beantragt wird, schon vorliegen. Oder eine korrekte Antwort würde den ganzen Antrag sinnlos machen: So darf eine geflüchtete Person gar nicht zugeben, aus einem sogenannt «sicheren» Land zu kommen, oder in einem IV-Antrag darf niemals stehen, dass die Antragstellerin zu viel Alkohol trinkt, auch wenn das zum Krankheitsbild gehören würde. Die entsprechenden Fragen müssen aber wegen jenes ominösen Sternchens dennoch beantwortet werden. Konkret bedeutet dies, dass die Bürokratie im besten Fall zur Anpassung, im schlimmsten zur Lüge und zum Betrug zwingt, also genau zu dem, was sie zu verhindern vorgibt.
In der Sprache der Regeltechnik: Der Ist-Mensch muss sich dem Soll-Menschen, der Stellgrösse, anpassen oder zumindest den Anschein erwecken, er sei die standardisierte Ansprechpartnerin, die der Computer erwartet. Dieser produziert damit den Feind, die Lügnerin, den Betrüger, die Hochstaplerin oder den Dieb, den er sodann entlarvt. Die eigentliche Schuld besteht also nicht in der Lüge oder im Betrug, sondern darin, nicht der Mensch zu sein, den die Bürokratie fordert.
Dies erklärt die seltsame Lähmung, wenn es darum ginge, sich gegen den bürokratischen Irrsinn aufzulehnen. Aus der Psychologie ist die sogenannte «Identifikation mit dem Aggressor» bekannt, die äusserste Ausprägung davon ist das Stockholm-Syndrom: Wer lange Zeit ohnmächtig Aggressionen ausgeliefert ist, übernimmt mit der Zeit die Sichtweise des Aggressors. Wir sind längst in bürokratischer Geiselhaft und leben ständig in der Angst, dass uns die Bürokratie die Hilfe verweigert, die uns zusteht, weil wir nicht so sind, wie es die Bürokratie von uns fordert.
Am Ende bleibt nichts als Scham. Die Scham, den Erwartungen nie genügt zu haben. Sie ist der Kern unseres Verhältnisses zur Bürokratie. «‹Wie ein Hund!› sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.» So endet Kafkas Bürokratie-Roman «Der Prozess».
Illustration: Alex Solman