Von Schande zu Schönheit

Ihre Filme aus den Cités von Paris sind sanft, zugleich ist in ihnen grosse Gewalt eingeschrieben: eine Begegnung mit der Regisseurin Alice Diop, die beim Festival Visions du Réel in Nyon Ehrengast war.

Von Anne-Sophie Scholl, 25.04.2024

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Vorgelesen von Danny Exnar
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Die Banlieue ist die Lebenswelt, in der Alice Diop den Stoff ihrer Filme findet. Evelyn Freja/The New York Times/Redux/laif

Eine Hand malt mit Aquarell­farbe Striche, die zum Horizont fliehen. Auf der Tonspur im Off zieht ein Rauschen vorbei. Die Kamera schwenkt vom Blatt in die Wirklichkeit. Die Bahn­gleise der Vororts­züge von Paris rücken ins Bild, auf ihnen liegt das goldene Licht der untergehenden Sonne. Am Rand des Bild­ausschnitts entfernt sich der Zug, der eben vorbeigerauscht ist.

Kaum länger als eine Minute dauert der Dokfilm «RER B» (2017) von Alice Diop, doch in dieser kurzen filmischen Geste fasst die Regisseurin den Kern ihres Werkes. Grosse Zärtlichkeit liegt im Kamera­blick, den sie auf den Bahn­gleisen im Sonnen­licht verweilen lässt. Gemeinhin sind es andere Orte, an denen ein Sonnen­untergang bewundert wird, andere Orte, die in der Kunst erhöht werden, die Eingang in die kollektive Wahrnehmung und Erinnerung finden, nicht die Geografie des Réseau express régional (RER) im Grossraum Paris. Gemeinhin wird der Banlieue das Recht auf Schönheit und Kunst abgesprochen – und damit die Essenz der Menschlichkeit.

In einem einzigen Kamera­schwenk macht ihr Kürzest­film im Umkehr­schluss die Gewalt dieses Ausschlusses erfahrbar.

Die Filme von Alice Diop wurden an Festivals wie Berlin oder Venedig gezeigt und mit wichtigen Preisen ausgezeichnet. Jüngst machte ihr Spielfilm­debüt «Saint Omer» die Regisseurin einem grösseren Publikum bekannt. Der Film hat Frankreich bei der Oscar­verleihung 2023 vertreten und wurde auf der Shortlist für den besten internationalen Film nominiert.

«Saint Omer» kam ausserhalb von Festivals in die Kinos, auch in der Schweiz. Der Film handelt von der jungen Laurence Coly, einer Studentin mit senegalesischen Wurzeln, die ihr 15 Monate altes Baby am Meer ausgesetzt und damit dem Tod ausgeliefert hat. Über weite Strecken spielt der Film im geschlossenen Raum des Gerichts­saals. In der Komplexität seiner Geschichte und seiner Charaktere steht er dem zuletzt viel diskutierten Gerichts­drama «Anatomie d’une chute» von Justine Triet in keiner Weise nach.

«Saint Omer» beruht auf einer wahren Geschichte. Weil es nicht möglich war, einen Dokumentar­film über den realen Fall zu drehen, griff die Regisseurin zur Fiktion, stellte die Gerichts­verhandlung nach und nutzte für die gesprochenen Texte dokumentarisches Material aus dem Gerichtssaal. «Der Inhalt sucht sich immer die passende Form», betont Alice Diop am Filmfestival Visions du Réel in Nyon, wo sie über ihre Arbeit spricht. Das Festival, das am Sonntag zu Ende ging, hat ihr dieses Jahr ein Atelier gewidmet und eine Retrospektive ihrer Filme gezeigt. Zur Masterclass mit Diop im Auditorium des Théâtre de Marens sind sehr viele und viele junge Leute gekommen. Der Saal mit fast 500 Plätzen ist voll. Es wird viel und oft geklatscht.

Lebenswelt Banlieue

Wie die Figur in «Saint Omer» – und wie die reale Angeklagte – hat Alice Diop senegalesische Wurzeln. Sie ist 1979 in Paris geboren. Ihr Vater war Auto­mechaniker, die Mutter arbeitete als Putzhilfe und hatte nie schreiben und lesen gelernt. Diop wuchs in den Cités von Aulnay-sous-Bois, später Clichy-sous-Bois auf, heute wohnt sie immer noch im Département Seine-Saint-Denis. Die Banlieue ist die Lebenswelt, in der sie den Stoff ihrer Filme findet. Sie erzählt von individuellen Schicksalen und verweist zugleich auf grosse, universelle Zusammenhänge.

Alice Diop hat Geschichte und visuelle Soziologie an der Sorbonne studiert. In einem Kurs über alternative Quellen für die Geschichts­schreibung, bei dem die Dozentin über mündliche Quellen, die Literatur oder das Kino sprach, habe sie die Filme von Jean Rouch und den Film «Contes et décomptes de la cour» von Eliane de Latour entdeckt, erzählt sie im Gespräch mit der Republik auf der Terrasse ihres Hotels in Nyon. Der universitäre Rahmen war ihr immer als wenig demokratisch erschienen. Sie habe realisiert, dass der Film es möglich macht, intellektuelle und zuweilen auch sehr theoretische Fragen in eine Sprache zu übertragen, die Sinne und Empfindungen anspricht. «Die Inhalte erreichen so ein breiteres Publikum, man kann sie besser teilen.»

Nach ihrem Uniabschluss nimmt sie sich ein Jahr Zeit und erarbeitet sich grund­legendes Filmwissen. Sie geht zweimal pro Woche in die Bibliothèque publique d’information in Paris und schaut sich Dokumentar­filme an von Filmschaffenden wie Frederick Wiseman, Johan van der Keuken oder Chris Marker. Es sind Anthropologen, die mit filmischen Mitteln kommunizieren.

2011 dreht sie erstmals einen Film, in dem sie ganz auf die visuelle Kraft der Bilder vertraut. Lange bevor Hashtags wie #blackfacing oder #whiteprivilege in den sozialen Netzwerken kursierten, verhandelte sie darin genau diese Themen. Sie kennt die theoretischen Texte, hat viel über strukturellen Rassismus und Inter­sektionalität gelesen. Ausgangs­punkt ihres Films ist jedoch keine diskursive Debatte, sondern die tiefe persönliche Erfahrung. «La mort de Danton» erzählt von dem jungen Schwarzen Steve, der mit ihr in der Banlieue aufgewachsen ist und Schauspieler werden will. Diop begleitet ihn während der drei Jahre seiner Ausbildung. In der ersten Einstellung des Films richtet sie die Kamera auf seinen Mund.

Die Grossaufnahme zeigt den Mund eines Schwarzen, der sich einen Korken zwischen die Zähne schiebt und Zungen­brecher übt.

Der Zwang, eine bestimmte Art des Sprechens zu lernen, um Zugang zu einer Welt zu erhalten, und die damit verbundene Abwertung des eigenen Ausdrucks: Das ist ein starkes Bild für die mit sozialem Aufstieg verbundenen Verletzungen. In der Literatur arbeiten sich intellektuelle Grössen wie Edouard Louis oder Annie Ernaux Buch für Buch an ihnen ab.

Doch in «La mort de Danton» geht es nicht nur um die scharfen Trennlinien von class, sondern vor allem von race. Diop zeigt diesen jungen schwarzen Mann an der Schauspiel­schule und in intimen Gesprächen mit ihr, in denen er seine Einsamkeit an der Leerstelle zwischen den verschiedenen Milieus präzise reflektiert. Bei der Abschluss­vorstellung seiner Ausbildung muss er die stereotype Rolle eines lustigen schwarzen Chauffeurs spielen, seinen Abschluss feiert er mit seinen Kumpeln aus der Banlieue und nicht mit den Mitstudierenden.

Steve hatte immer die Rolle des Danton aus Georg Büchners Drama «Dantons Tod» spielen wollen, nach dem der Film benannt ist. In der letzten Szene schaut er direkt in die Kamera: «Wir haben die Tyrannei der Privilegien beendet», zitiert er aus Dantons Verteidigungs­rede aus den Tagen der Französischen Revolution im Jahr 1794. «Es ist eine Inspiration für die Visionen aller Menschen überall; ein Lufthauch von Freiheit, der sich nicht mehr verleugnen lässt.»

«La mort de Danton»: Den Titel des Films muss man hier mehrdeutig lesen.

Der Akt des Sprechens

Wenn sie den Film heute, nach fast 15 Jahren, wieder sehe, werde sie sich bewusst, wie sehr er von ihr selbst handle, sagt Diop. Er sei eine versteckte Autobiografie, «une autobiographie masquée». Aber: Der Film habe sie geheilt, ihr Wieder­gutmachung verschafft und ihr ermöglicht, sich den Themen, die sie umtreiben, zu stellen. «Meine Stimme zu erheben, ist für mich eine tiefgreifende politische Handlung», sagt sie. Es sei für sie immer mit grosser Anspannung verbunden, eine präzise Sprache dafür zu finden, was sie sagen wolle.

Die Sprache des Films – Diop nennt es «le langage sensible» – mit der Wahl von Bild­ausschnitt, Schnitt und Montage, Tonspur, Dramaturgie oder dem Faktor Zeit ermöglicht ihr, Themen sichtbar und auf der Sinnes­ebene erfahrbar zu machen. «Es ist sehr, sehr schwierig, mit Worten zu erklären, was rassistische Gewalt mit einem verletzten Körper macht», sagt sie. Dabei gehe es nicht unbedingt um eine Beleidigung oder um Schläge, es sei viel subtiler. «Das Verhalten der Lehrer der Schauspiel­schule gegenüber Steve verweist ihn auf den Platz, den sie für ihn gewählt haben. Sie reduzieren ihn.»

Diese Gewalt, die in der Reduktion auf Stereotype liegt, führt sie im Film «Vers la tendresse» (2016) eindrücklich und formal bestechend vor Augen. Man folgt darin vier Jugendlichen mit Basecap und Hoody im Boxclub, in der türkischen Imbissbude, beim Rumhängen an der Strassen­ecke, beim Kauf von Alkohol und auf der Fahrt nach Brüssel zu Frauen, die sich in den Schaufenstern im Rotlicht­quartier prostituieren – Stationen eines stereotypen Männlichkeits­bildes, geprägt von Gewalt, Raubtier­trieb und kolonialistischen Vorstellungen –, «un imaginaire colonial», wie Diop es nennt.

Szenen aus «La mort de Danton» …
… «Saint Omer» …
… und «Vers la tendresse».

Die Tonspur läuft als Voiceover von den Bildern getrennt. Diop verwickelt darin vier junge Männer in sehr intime Gespräche über die Liebe, wobei es ihr in verblüffender Weise gelingt, deren harten Panzer zu knacken: «Nur weisse Menschen kennen die Liebe. Ich habe nie meinen Vater meine Mutter küssen sehen», sagt der eine. «Ich bin nur liebenswert für eine Frau, wenn ich ihr genug Geld bieten kann. Das blockiert mich», ein anderer. Oder: «Ich habe Angst vor Frauen, sie sind mir fremd. Seit dem Alter von zwölf Jahren waren kaum Mädchen in meiner Klasse. Die Stimmung war bereits ein bisschen wie im Gefängnis.»

Der Film sei keine Studie über die Liebe in der Banlieue, betont Diop. Sie habe mit diesen vier Jugendlichen über ihre innersten Gefühle sprechen und ihnen zuhören wollen – über Liebe spreche man gemeinhin kaum mit Männern. «Ich war überwältigt davon, was sie mir anvertrauten, es war aufbauend und hat mich gestärkt. Es hat mich tief bewegt und ich fühlte mich geehrt durch ihr Vertrauen, ihre Intelligenz und Klarheit über sich selbst», sagt sie. Der Film wurde bei der Vergabe der nationalen Filmpreise Frankreichs mit dem César für den besten Kurzfilm ausgezeichnet.

Zuhören und gesehen werden

In Diops jüngsten Dokumentar­filmen erhalten die Zuschauerinnen viel Raum. In «Nous» (2021) folgt Diop dem RER B und porträtiert Menschen, die entlang dieser Linie leben, darunter ihre verstorbenen Eltern, von denen einzig ein kurzer Ausschnitt einer privaten Film­aufnahme erhalten geblieben ist. «La permanence» (2016) erzählt von einer nieder­schwelligen medizinischen Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenkasse, wie sie mittlerweile aufgehoben sind. Vor allem Migranten kamen in die Konsultation.

Für «La permanence» hat Alice Diop zunächst ohne konkretes Projekt länger als ein Jahr der Sprechstunde beigewohnt. Den Entschluss, einen Film zu drehen, fasste sie erst, als ein junges Mädchen aus Kamerun in die Anlaufstelle kam, die von ihrem Onkel geflohen war, weil er sie in Paris gezwungen hatte, sich zu prostituieren. Der Arzt hörte teilnahmsvoll zu, versuchte vergeblich eine Unterkunft für sie zu finden. Dann war die Sprech­stunde beendet. Er liess sie ziehen.

Fassungslos versuchte Alice Diop das Mädchen zu finden. Doch dann fragte sie sich, was sie hätte tun wollen – sie eine Nacht bei sich aufnehmen, oder zwei Wochen?

«Das Wichtigste dieser Sprechstunde war, dass diese Menschen in dem Arzt jemanden gefunden hatten, der ihnen zuhörte. Das war seine Rolle», sagt Diop.

Die Rolle, die sie selbst einnehmen konnte, war es, einen Film zu drehen. «La permanence» ist schlicht gehalten. Diop hat die Kamera wahlweise auf den Arzt oder die Patientinnen gerichtet. Als Publikum ist es, als wohne man in Echtzeit der Sprechstunde bei. Man hört die Schicksale und Geschichten der jeweiligen Menschen, man sieht ihre Gesichter. Man teilt diesen kurzen Moment der Zuwendung und Aufgehobenheit – das Wissen um die Härte des Alltags, die Einsamkeit, in die diese Menschen zurück­kehren, tritt umso brutaler hervor.

In den allermeisten Fällen stünden hinter den physischen Leiden dieser Menschen die Schmerzen des Exils, sagt Diop. «Es ist die fehlende Fürsorge, die fehlende Anerkennung, die Einsamkeit eines Systems, das sie auf kleiner Flamme umbringt.» Aber: Es liege durchaus auch etwas Gewaltvolles in ihrem Film, in dem sie das Publikum zwingt, einen Menschen, den man nicht wahrnehmen will, zu sehen und ihm zuzuhören.

Seit bald 20 Jahren dreht Alice Diop Filme. Eine ihrer ersten Dokumentationen fürs Fernsehen war «Clichy pour l’exemple» von 2006, für den sie nach dem Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei und den darauffolgenden Unruhen in der Banlieue mit den Menschen vor Ort sprach. Im vergangenen Sommer wurde einmal mehr ein Jugendlicher in Paris von der Polizei erschossen. In der Folge kam es erneut zu grossen Unruhen in den Vorstädten von Paris und anderen französischen Städten.

Sie sei in eine Art tiefe Depression gefallen und habe ihren 15-jährigen Sohn eingesperrt, damit er nicht mit seinen Freunden auf die Strasse gehe, erzählt Alice Diop. Aber sie will die politische Situation nicht kommentieren. «Ich könnte nur Banalitäten von mir geben», sagt sie. «Die Wirklichkeit durchdringt mich, sie verseucht mich, sie empört mich, sie verletzt mich.» Die einzige Möglichkeit, wie sie vermeiden könne, verrückt zu werden, sei es, auf Distanz zu gehen, sich aus der Aktualität und dem vergifteten politischen Diskurs heraus­zunehmen.

Ihre Filme seien eine sehr langsame Arbeit, für die sie viel Zeit und Recherche aufwende. Sie gehe jedes Mal, wie sie sagt, eine «organische Verbindung» mit dem Thema ein. «Meine Filme sind keine unmittelbaren Antworten auf das Zeitgeschehen», betont sie. Aber sie ist überzeugt: «Über die Dauer bietet der Film mit seinen Ausdrucks­mitteln einen visuellen Rahmen und eine Zeitspanne, die es ermöglichen, gängige Repräsentations­systeme und den politischen Diskurs zu destabilisieren.»

Vom Objekt zum Subjekt

Bei der Preisverleihung des César 2017 für «Vers la tendresse» widmet Alice Diop den Preis Jugendlichen, die Opfer der Polizei­gewalt in der Banlieue geworden sind. Bei der Verleihung des César 2023 für «Saint Omer» ruft sie eine neue Nouvelle Vague des französischen Kinos aus und widmete den Preis Regisseurinnen, die für Vielfalt einstehen. Dass ihr jüngster Film «Saint Omer» von Frankreich zu den Oscars geschickt wurde, hat für sie vor allem als politisches Zeichen Bedeutung. Es bräuchte jedoch mehr Stimmen wie die ihre, die besser wahrgenommen, anerkannt, kommentiert und kritisiert würden.

Für eine echte politische Veränderung, die über die symbolische Anerkennung hinausgehe, müsse normalisiert werden, wie Frankreich sich in seiner Vielfalt selbst wahrnehme. «Mich interessiert, wie mein Film in zehn Jahren gesehen wird», sagt sie. Es gebe Filme, die wie guter Wein mit der Zeit an Kraft und Bedeutung gewännen.

«Saint Omer» hat das Potenzial, ein ikonischer Film zu werden.

Auch «Saint Omer», dessen Drehbuch Diop mit Amrita David und der Schrift­stellerin Marie NDiaye geschrieben hat, zwingt das Publikum, der Protagonistin zuzuhören und sie anzuschauen – genauso, wie das Publikum und die Protagonisten am Gericht gezwungen sind, sie zu hören und zu sehen. Der Gerichts­saal im Film ist ein geschlossener Kosmos, in dem ausser ihr alle weiss sind – bis auf die Mutter der Angeklagten und die Figur Rama, das Alter Ego von Diop.

Rama ist Unidozentin und Schrift­stellerin mit senegalesischen Wurzeln, die einen Roman über den Prozess schreibt und diesen obsessiv verfolgt. Sie ist die Einzige, die das komplexe Innenleben der Angeklagten nachempfinden kann. Immer wieder spiegelt sie sich in ihr in ihrem eigenen Verhältnis zu ihrer Herkunft, zur Erfahrung des Exils, zu ihrer Mutter oder zum werdenden Kind in ihrem Bauch und zur Beziehung zu ihrem weissen Freund. Mit Rama kann sich das Publikum identifizieren, zugleich führt diese Figur vor Augen, wie wenig Zugang zur Angeklagten die Menschen haben, die über sie richten. Also alle im Gerichtssaal – und die meisten im Publikum, also: wir.

Laurence Coly entzieht sich in ihrer Wider­sprüchlichkeit stereotypen Zuschreibungen. Sie redet viel – und bleibt für das Publikum doch rätselhaft. Die Kamera ruht oft und lange auf ihr. Sie zeichnet diese schwarze Medea wie eine dunkel­häutige Mona Lisa, die ihr Geheimnis für sich behält – und gibt ihr damit ihre Menschlichkeit zurück.

In der Eröffnungs­szene zeigt Rama ihren Studierenden Archiv­aufnahmen aus dem Frankreich der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg mit den kahl geschorenen Köpfen der Frauen, die Liebes­beziehungen mit dem Feind eingegangen waren. Dazu liest sie ihnen aus Marguerite Duras’ Roman «Hiroshima mon amour» vor – ein fast lyrisches Lied, wie sie erklärt. Die Absicht der Autorin sei klar, sagt Rama: Die Frau, Objekt der Schande, werde dank der Worte der Autorin zu einem Subjekt im Zustand der Anmut, «un sujet en un état de grâce».

Die Überführung vom Objekt zum Subjekt, von der Erniedrigung zur Schönheit: Das ist es, was Alice Diop anstrebt – und was ihr in ihren Filmen auf eindrückliche und formal immer wieder neue Weise gelingt.

Zu den Filmen

Alice Diop (Regie und Drehbuch), Amrita David, Marie NDiaye (Drehbuch): «Saint Omer». Mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville u. a. Frankreich, 2022. 123 Minuten. Streamingdienste: Tv.blue.ch, Cinefile.ch, Filmingo.ch, Myfilm.ch.

Alice Diop (Regie und Drehbuch): «Vers la tendresse». Frankreich, 2016. 39 Minuten. Streamingdienst: On-tenk.com.

Alice Diop (Regie und Drehbuch): «La mort de Danton». Frankreich, 2011. 65 Minuten. Streamingdienste: Vimeo.com, On-tenk.com.

Weitere Dokumentarfilme von Alice Diop: On-tenk.com.

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