Frischer Wind im Literatur­frühling

Diese Saison bringt aufregende Debüts. Drei neue Stimmen aus der Schweiz zeigen, was Literatur kann.

Von Nina Hurni, 23.04.2024

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Im Strudel der Neuerscheinungen, die auf den Bücher­markt gespült werden, ist der Überblick schnell verloren. Zudem melden sich jedes Jahr neue Stimmen zu Wort. Viele heraus­ragende Schweizer Debüts der letzten Jahre (von Kim de l’Horizon, Mina Hava, Ralph Tharayil, um nur ein paar der names zu droppen) zeigen aber: Hier lohnt es sich, genau hinzuschauen, denn hier geschieht viel Neues.

Literatur kann auf verschiedene Art und Weise «neu» sein: von neuen Stimmen stammend, mit innovativen Formen spielend oder inhaltlich neue Geschichten erzählend. Oder gleich alles davon.

Die drei hier vorgestellten Debüts aus der Schweiz haben gemeinsam, dass sie sich an Themen wagen, die so noch nicht oft erzählt wurden. Sie tragen damit eine Dringlichkeit in sich, dem Publikum etwas mitzuteilen, und tun dies auf bisweilen ungewöhnliche Art und Weise. Was und wie sie erzählen, ist aber ganz unterschiedlich.

Laura Leupi findet im «Alphabet der sexualisierten Gewalt» in einer virtuosen Mischung aus Essay, Lexikon und Prosa­fetzen eine Sprache für die Alltäglichkeit von sexualisierter Gewalt, die so schwer zu fassen ist. Özlem Çimen führt uns in «Babas Schweigen» ein in eine Familien­geschichte, die mit dem Völkermord an Armenierinnen verbunden ist, und zeigt auf eine zugängliche Art, wie komplex Identität im Zusammen­hang mit Migration, Assimilation und Unter­drückung sein kann. Und in «Ferymont» erzählt Lorena Simmel von einer Studentin, die landwirtschaftliche Hilfs­arbeiterin wird und damit das Berner Seeland, in dem sie aufgewachsen ist, auf ganz neue Weise erfährt.

Die drei Debüts bieten Einblicke und Einladungen in unbewanderte Gebiete, zu denen wir sonst den Weg vielleicht nicht finden würden. Sie öffnen Tore, schaffen Begegnung und bringen unerzählte Geschichten ans Licht. Es geht hier somit auch um die ewige Frage, was Literatur überhaupt kann: Was geschieht mit uns, wenn wir neuen Geschichten begegnen? Was verändert Literatur an unserer Sprache, indem sie diese lustvoll zerpflückt? Verändert sich etwas im Diskurs, wenn neue Themen auf den literarischen Tisch gebracht werden? Mal wird die Literatur als revolutionäres Mittel gehandelt, mal als elitäre Selbst­bespassung. Wahrscheinlich ist sie beides. Oder nichts davon. Entscheiden Sie selbst.

1 – Laura Leupi

Am Anfang des Buches «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» von Laura Leupi steht eine Gebrauchs­anweisung. «Dieser Text ist für die Haarigen gemacht. Lesen Sie ihn hemmungslos» beginnt diese, und sie endet mit: «Und vergessen Sie nicht zu atmen.» Ein wertvoller Tipp.

Einige Literaturschaffende treten schon vor ihrem Debüt gut bemerkbar auf die literarische Bühne. So auch Laura Leupi. Mit dem nun als Buch erschienenen Text gewann Leupi 2023 den 3sat-Preis beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Wie im Titel steht, schreibt sich Leupi darin an die allgegen­wärtige und doch unbesprechbare sexualisierte Gewalt heran.

Schlau, radikal und schonungslos: Laura Leupi. Claude Bühler

Wie der Titel ebenfalls vorwegnimmt, strukturiert sich der Text als Alphabet von Begriffen, die etwas mit sexualisierter Gewalt zu tun haben. «A steht für Angst, die wir nicht haben sollten, uns aber anerzogen wird» zum Beispiel, oder: «Z steht für Zuhause, unser eigenes oder ein anderes. Dort, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen.» Ein Alphabet, das reflektiert Leupi selbst im Epilog, suggeriert eine Abgeschlossenheit. Hier wird anscheinend etwas von A bis Z verhandelt und in seiner Vollständigkeit erfasst. Was im Falle von sexualisierter Gewalt unmöglich ist.

Wieso dann ein Alphabet der sexualisierten Gewalt?

Das Alphabet ermöglicht gleichzeitig ein listenartiges, fragmentiertes Schreiben. Und das ist, so scheint es nach dem Lesen des Buches, die einzig mögliche literarische Annäherung an das Thema. «Das ist ein Versuch, im Schreiben die Konturen zu ertasten, also heraus­zufinden, wie das, was in ihrer Mitte liegt, in Worten zu fassen ist.» Dieses Konturen-Fassen geschieht in Leupis Text auf verschiedenen Ebenen aus verschiedenen Richtungen.

Unterbrochen wird das Alphabet einerseits von Recherchen und andererseits Prosa­fetzen, in denen ein Ich allein in einer schimmeligen Wohnung herumhängt und mit Möbeln spricht. Die sprechen aber selten zurück, sondern sind stumme, starrende Zeugen und verhalten sich ungewöhnlich: Dem Stuhl wachsen Haare und das Bett schlägt Wellen.

Ich stehe vor meinem Bett. Höflich frage ich die Bettwellen, ob ich mich zu ihnen legen darf. Sie murmeln leise Lakenworte. Ich krieche unter die Bettwellen, die sogleich über mir zusammenbrechen.

Aus: Laura Leupi, «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt».

Es geht um ein Zuhause, das kein sicherer Ort sein kann, weil dort eine Vergewaltigung geschehen ist. Wer jetzt Gewalt­beschreibung erwartet, erwischt sich selbst beim Lesen bei einem voyeuristischen Interesse an «dem, was passiert ist». Doch darum geht es nicht. Es geht um das Zuhause, das sich verändert hat, es geht um die Zeit, die abhanden­kommt, es geht um die Gesetze, die nicht greifen, es geht darum, nicht gehört zu werden.

Es geht auch nicht darum, endlich mal «das Schweigen zu brechen», denn gesprochen über Vergewaltigung wird an sich schon. Aber: «Das Schweigen wird meist mit grossen Geschichten gebrochen, schlimmen Schicksalen, intimen Details – und nicht mit dem Alltäglichen, dem, was sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen ist», so der Text.

Es geht darum, die stereotype Erzählung rund um Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt aufzubrechen. Leupi nennt das rape script, ein von der Literatur­wissenschaftlerin Sharon Marcus geprägter Begriff für das Narrativ, das wir mit einer Vergewaltigung verbinden und das dazu führt, dass Abweichungen von diesem Narrativ oft gar nicht erst als Vergewaltigung gesehen werden. Zu diesem script gehört ein weisses, unschuldiges, normschönes, cis-weibliches Opfer, welches von einem fremden Cis-Mann böswillig vergewaltigt wird und danach für immer und ewig traumatisiert ist. Oft schwingt in diesem Narrativ Rassismus mit.

Wenn das Opfer aber getrunken hat, sich nicht eindeutig gewehrt hat, behindert ist, trans ist, nicht «schön» ist oder nicht bereit ist, sich bis zum Ende des Lebens als «Opfer» zu sehen, kann es keine richtige Vergewaltigung sein. Und schon gar nicht, wenn das Opfer ein Cis-Mann ist oder die Täterin keiner.

Bislang suggeriert auch das Gesetz: Um zu vergewaltigen, braucht es einen Penis, um vergewaltigt zu werden, eine Vagina. Was bedeutet, dass als Mann im Falle einer Vergewaltigung keine Hilfe zu erwarten ist, «denn einen MANN, der Hilfe braucht, gibt es a) nicht, b) erst recht nicht, wenn die Gewalt von einer FRAU ausgeht, c) auch in den Augen der Polizei nicht, und das ist Teil des Problems», schreibt Leupi.

Gesetzlich hat es da in der Schweiz letztens grosse Fortschritte gegeben: Im Juli 2024 tritt eine Änderung in Kraft, die besagt, dass es nicht nur als Vergewaltigung gilt, wenn das Opfer physisch dazu gezwungen wird und sich explizit wehrt. Neu kann es bereits als Vergewaltigung gelten, wenn das Opfer mit Worten oder Gesten zeigt, dass es diese sexuelle Handlung nicht möchte. Zur Ablehnung zählt insbesondere das sogenannte Freezing, also Erstarren. Ausserdem ist das Gesetz neu geschlechts­neutral formuliert und umfasst neben Beischlaf (definiert als Eindringen von einem Penis in eine Vagina) auch sogenannte «beischlafs­ähnliche Handlungen», die beinhalten, dass auf andere Weise in einen Körper eingedrungen wird. Zu hoffen bleibt, dass diese gesetzliche Änderung irgendwann auch etwas am rape script, also an der gängigen Vorstellung von Vergewaltigung, verändern wird.

Leupi schreibt oder die Erzähl­stimme sagt: «Das hat alles und nichts mit mir zu tun.» Das Ich, das mit uns spricht, ist radikal subjektiv und allgemein­gültig zugleich, weil es eine Erfahrung fasst, die viele teilen und die gleichzeitig nie eine Allgemeingültigkeit finden kann.

Gemäss einer Umfrage haben 12 Prozent der befragten Frauen Geschlechts­verkehr gegen den eigenen Willen erlebt. Es gibt in der Schweiz, so rechnet das Ich vor, «ungefähr so viele Täter:innen, wie Zürich Einwohner:innen hat. Ich frage mich, was ich mit diesen Zahlen anfangen soll und wie viele Menschen, die nicht aus Zürich sind, Menschen aus Zürich kennen.» Sexualisierte Gewalt ist überall, und doch wissen wir nicht recht, wie wir darüber sprechen können.

Leupi findet dafür eine Sprache, die sich ständig gegen sich selbst wehrt, sich zerteilt und leichtfüssig zwischen verschiedenen Metaebenen umherspringt: «Wer ‹Missbrauch› sagt, impliziert den ‹Ge-brauch›, impliziert also, dass es einen richtigen, guten, zweckmässigen, effizienten etc. Gebrauch eines Objekts – oder eines Subjekts, also einer Person, also auch von mir – gäbe.»

Leupis Text ist schlau, radikal und schonungslos. «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» geht mit der mäandrierenden Form zwischen Essay, Poesie und Wissenschaft noch weiter als bisher Bekanntes und überzeugt sprachlich mit einer ganz eigenen Kraft.

2 – Özlem Çimen

Es ist ein einziger Satz, der die Erzählerin Özlem erstarren lässt und der sich anfühlt, «als würde jemand einen Eimer Zement über dich leeren»: «‹Burasi hep ermenilerindi›», sagt ihr Onkel zur ihr. «‹Das hier gehörte den Armeniern›», übersetzt sie nach einer Weile erst für ihren Mann Felix. Die beiden sind zu Besuch im köy, im Dorf, in dem die Grosseltern von Özlem gewohnt haben und in dem sie als Kind immer ihre Sommer­ferien verbracht hat. Dieser Satz ist eine Erschütterung, die ihr Bild von diesem Dorf und von ihrer Familien­geschichte ins Wanken bringt und eine Suche nach den verschwiegenen Geschichten lostritt.

In sanftem Trotz: Özlem Çimen. Ayşe Yavaş

Es sind diese Geschichten, die Özlem Çimen im Debütroman «Babas Schweigen» weitergibt, denn «das jahrzehnte­lange Schweigen hat dazu beigetragen, dass wir ein grosses Stück unserer Identität und Kultur verloren haben». Özlem, die Erzählerin, richtet sich im Buch dafür an ihre eigenen Kinder und gleichzeitig an uns, die wir an diesem Geschichten­erzählen teilhaben dürfen.

Wir als Lesende sind eingeladen an einen reich gedeckten Tisch, gefüllt mit vielen Geschmäckern der anatolischen Küche, und wir tauchen ein: Episoden aus Özlems Kindheit wechseln sich ab mit der Erzählung eines späteren Besuches im Dorf, bei dem diese düstere Färbung zum verzauberten Bild ihrer Kindheit hinzukommt, die sie unterschwellig schon als Kind gespürt hatte.

Gründe zum Feiern gab es viele. Dann wurden ein paar Gläser Raki gekippt und Lieder gesungen. Man erzählte einander Geschichten von früher. Doch am nächsten Tag war die Melancholie wieder da, wenn die Erwachsenen Pause machten, erschöpft von ihrer Arbeit. Die älteren Frauen sangen ein agit, ein Klagelied über die vielen Toten. Aber über welche?

Aus: Özlem Çimen, «Babas Schweigen».

Von den Sommerferien im köy als Kind berichtet die erwachsene Özlem trotz der Melancholie als freier Zeit. Den Kindern werden nur mithilfe von Anekdoten Grenzen gesetzt: zum Beispiel, dass Aprikosen vor dem Essen geöffnet werden müssen, weil darin kleine Käfer stecken können, die einem das Trommelfell zerschneiden. Oder dass der Weiher Kinder schluckt und sie deshalb nicht dort baden dürfen. Es ist eine nicht entzauberte Welt voller Mythen, in der die kleine Özlem einen Tag lang fastet, weil sie glaubt, dass ihr dann im Traum der Held Hizir erscheinen und ihr erzählen würde, wen sie eines Tages heiraten wird.

Özlem ist davon ausgegangen, dass ihre Familie schon immer in diesem Dorf gewohnt hat. Erst als sie nach diesem Satz, der sich nach Zement anfühlt, zu graben beginnt, erfährt sie, dass «ihr» Dorf einmal ein armenisches Dorf gewesen ist. Einer ihrer kurdischen Vorfahren ist durch den Militär­dienst in das Dorf gekommen, das erst einen armenischen, dann einen kurdischen und jetzt einen türkischen Namen trägt. Die Verwicklung ihrer Familie in einen Völkermord setzt Özlem zu, ihr Vater jedoch weicht auf Nachfragen aus:

«Warum hast du uns nie davon erzählt?»
«Wir sind nicht studiert. Wir wissen nicht, wie man über solche Sachen spricht. Ich schäme mich dafür. Wir haben gelernt zu schweigen.»

Es ist eine komplexe Geschichte, eine mehrschichtige Überlagerung von Assimilation und Auslöschung: Özlems Vorfahren waren vielleicht beteiligt an einem Völkermord, wurden dann aber später wegen ihrer kurdischen Identität deportiert, sahen sich selbst später als Türken. Und Özlem selbst lebt nun «assimiliert», wie ihr Vater sagt, in der Schweiz. Und will ihren Kindern dennoch ihre Geschichten weitergeben.

Özlem Çimens Roman nimmt uns an der Hand und führt uns zu einer verdrängten Geschichte, von der wir alle «schon einmal gehört» haben, wie der Schweizer Ehemann im Buch sagt. Der Roman ist dennoch nicht nur schwer, denn Çimen streut einen feinen Humor in die Erzählung. Etwa die kleinen Momente des kulturellen Unverständnisses, als Felix nicht weiss, wie man Sonnenblumen­kerne isst, und dafür von Özlems Nichten ausgelacht wird. Oder als ihre Familie die Aussprache des fremden Namens «Felix» immer wieder auf neue Weise verdreht und die Schreibweise «Fhelihx» entwirft.

Çimen schafft es, eine vielschichtige Geschichte zugänglich zu erzählen und damit zu berühren. Schönes und Trauriges, Schuld und Unschuld, Mythos und Geschichte verschwimmen, und Çimen zeigt, wie wichtig es ist, komplexen Realitäten und Identitäten gerecht zu werden. In einem sanften Trotz wehrt sie sich gegen die sogenannte Assimilation, die Geschichten verschwinden lässt.

3 – Lorena Simmel

In Lorena Simmels Debütroman «Ferymont» kehrt die Ich-Erzählerin aus Berlin in ihr Heimat­dorf Ferymont zurück, ein fiktives Örtchen im Seeland:

Das Fitnesszentrum war wie immer mit Neonlicht ausgeleuchtet, ein paar Leute trainierten an den wie ungelenke Vögel aussehenden Geräten. Vor dem Blumengeschäft standen Stiefmütterchen und Thuja­stecklinge in Reih und Glied auf bewässerbaren Tischen. Im Café Münz sassen ein paar ältere Menschen vor Eisbechern oder Bier.

Aus: Lorena Simmel, «Ferymont».

Sie braucht Geld für ihr Literatur­studium, arbeitet deshalb als land­wirtschaftliche Hilfskraft und tritt damit in eine Realität ein, von der sie während ihres Aufwachsens kaum etwas mitbekommen hat, obwohl sie ganz nahe war.

Lorena Simmel wagt sich mit ihrem ersten Roman in eine von der Literatur unterbeleuchtete Sphäre: die Landwirtschaft. Und dann erst noch in diejenige der Grossbetriebe im Seeland, die definitiv kein Potenzial zur romantisierten Landleben-Bauernhof-Geschichte hat.

Die Protagonistin nähert sich in der Geschichte als Fremde dieser Welt an, so wie wir uns als Lesende durch ihre Augen auch herantasten und merken, wie wenig Gedanken wir uns über die Herstellung unseres täglichen Essens machen. «Wer wohl die Erdbeeren für dieses Küchlein gepflückt hat?», fragt sich hingegen ein Hilfs­arbeiter, als sie in eine Konditorei gehen.

Die Protagonistin bleibt namenlos, gewissermassen auch gesichts- und geschichtslos. Wir erfahren kaum etwas über ihr Leben in Berlin oder ihre Kindheit in Ferymont. Die Personen, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet, scheinen dadurch im Roman umso wichtiger. Es sind Personen, die sie sonst wohl nicht kennengelernt hätte. Sie schliesst Freundschaften, hat einen crush, geht curlen und in den Club, der ihr «früher provinziell und uncool vorgekommen» war und in dem sie sich jetzt wohlfühlt. Plötzlich findet sie die bevorstehende Rückkehr nach Berlin seltsam, die Stadt scheint ihr wie eine «riesige dunkle Sumpflandschaft».

In einer von der Literatur unterbeleuchteten Sphäre: Lorena Simmel. Nane Diehl

Wenn sie ab und zu nach Neuchâtel geht, um an der dortigen Uni noch ein paar fehlende Punkte für ihr Studium nachzuholen, erscheint dies uns als fremde Welt, wie auch den anderen Hilfs­arbeitern, wenn sie davon erfahren. Einer dichtet darauf ironisch: «Bei Ferotex werden Zäune hergestellt, / Metall­verstrebungen und grosse Nieten. / Sie werden auf Lastwagen verladen / und bis über die Landes­grenzen hinaus / verfrachtet.»

Simmel nimmt sich viel Raum, um über die Arbeit als Hilfsarbeitende zu schreiben, bei der die Protagonistin schon nach Minuten Schmerzen spürt, aber viel lernt. Bisweilen hat Simmel dabei einen etwas pädagogischen Ton, und die erklärenden Dialoge wirken künstlich. Was hingegen gut gelingt, ist die Balance zwischen Romantisierung und Über­dramatisierung der Landwirtschaft. Simmel erzählt in einer Nüchternheit, die auch die Figuren im Roman gegenüber ihrer Arbeit haben.

Einmal kommt es allerdings zu einem tragischen Todesfall, als jemand wegen Überhitzung in einem Anbau­tunnel zusammenbricht. Doch auch wenn es für die Protagonistin einen Einschnitt bedeutet, geht bald alles wie gewohnt weiter, die gleichförmige Arbeit in der gleichförmigen, für die Schweiz ungewöhnlich flach­getretenen Landschaft, die Simmel wundervoll zu fassen bekommt:

Dann erschien vor uns – wie ein riesiges braunes Meer – das Feld. Man hatte die Tunnel entfernt, die Erde war zu Dämmen aufgeschüttet. Am Feldrand standen ein paar verlassen aussehende Erntewagen. Hinter dem Feld erhoben sich die Hügel des Mittel­landes. Der Himmel darüber schien endlos, hoch und weich wie ein Ozean, an dessen Grund wir wie Steine lagen.

Die drei hier vorgestellten Debüts führen vor Augen, was Literatur kann. Sie beinhalten Geschichten, die erzählt werden wollen. Literatur kann Perspektiven­wechsel ermöglichen und uns in Berührung bringen mit etwas Neuem. Und plötzlich stehen wir auf den flachen Feldern des Seelands oder in einem abgelegenen Dorf in der Osttürkei und begegnen auf diese Weise uns sonst unzugänglichen Geschichten.

Oder es finden sich, wie im Falle Leupis, Formen für etwas, das sonst formlos bleibt. Sprache wird gegen den Strich gebürstet und aufgemischt. Wir stolpern über sie, was dazu führt, dass wir sie überhaupt erst einmal richtig anschauen und erkennen, welche Strukturen ihr zugrunde liegen.

Zu den Büchern und zur Autorin

Laura Leupi: «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt». März, Berlin 2024. 144 Seiten, ca. 30 Franken.

Özlem Çimen: «Babas Schweigen». Roman. Limmat, Zürich 2024. 120 Seiten, ca. 30 Franken.

Lorena Simmel: «Ferymont». Roman. Verbrecher, Berlin 2024. 176 Seiten, ca. 33 Franken.

Nina Hurni lebt als freie Autorin und Kultur­vermittlerin in Basel. Sie hat Deutsche Philologie und Politik­wissenschaften studiert. Texte von ihr sind in Anthologien, im Theater­verlag München und im Magazin «zwischentext» erschienen. Für die Republik schrieb sie zuletzt über Liebes­romane jenseits von «Boy meets Girl».

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