Challenge Accepted

«Die Türen für Klima­klagen sind hiermit weit aufgestossen worden»

Am Dienstag hat der Europäische Gerichtshof in Strassburg zum ersten Mal ein Menschenrecht auf Klimaschutz festgestellt und die Schweiz gerügt. Die deutsche Rechts­anwältin Roda Verheyen über die weitreichenden Auswirkungen dieser Klimaklage.

Ein Interview von Sabrina Weiss, 11.04.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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Roda Verheyen, der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) hat die Schweiz am Dienstag verurteilt, weil sie zu wenig für den Klimaschutz tue und Menschen­rechte verletze. Was bedeutet das für die Schweiz?
Da ich mal hoffe, dass die Schweiz sich von der grundsätzlichen Idee eines Menschen­rechts­schutzes nicht verabschieden möchte, also von der Europäischen Menschen­rechts­konvention und dem entsprechenden Gericht, muss jetzt nachgebessert werden. Das bedeutet, dass sie das Gesetz von 2023 überarbeiten und ein Klimaschutz­programm vorlegen muss, das auf einer mengenmässigen Begrenzung beruht: einem CO2-Budget, um es einfach auszudrücken.

Das heisst, der Schweizer Bundesrat und das Parlament müssen nochmals über die Bücher und bestehende Gesetze überarbeiten?
Im Urteil steht nicht, dass nur ein Gesetz verabschiedet oder Ziele gesetzt werden müssen, sondern dass auch die Umsetzung zu garantieren ist. Es geht darum, dass die Schweiz ein Regelungs­system aufstellt, das festlegt, was wann gemacht und wie das finanziert wird – wie das auch in anderen Staaten, zum Beispiel in Deutschland, geschehen ist. Das Gesetz allein reicht nicht aus.

Halten Sie es für richtig, dass die Justiz die Politikerinnen zum Handeln zwingt?
Die Gerichte haben die Aufgabe, Verwaltung und Gesetz­geber zu kontrollieren – je nachdem, welche konkrete Gewalten­teilung in den Verfassungen steht. Das Gericht in Strassburg hat nur eins geprüft: Hat sich die Schweiz an die Menschen­rechts­konvention gehalten? Die hat sie selber gezeichnet. Und die Antwort war: Nein, es reicht nicht. Also zwingt das Gericht die Politik jetzt zum Handeln.

Ist das europäische Urteil auch ein Signal an die Schweizer Gerichte, dass sie ihre Aufgabe nicht ordnungs­gemäss erfüllt haben, als sie die Beschwerde des Vereins Klima­seniorinnen Schweiz abgewiesen haben?
Die Schweizer Gerichte haben sich da einen wirklich schlanken Fuss gemacht. Das geht nicht. Ich habe ja schon viele Urteile gelesen, und beim letzt­instanzlichen Urteil der Schweiz im Jahr 2020 hatte ich das Gefühl, in einem alternativen Universum gelandet zu sein. Da stand etwas von «die Welt habe noch viel Zeit». Das hat jetzt auch das Gericht in Strassburg klar zurück­gewiesen. Aber gut, ich habe das nicht zu kommentieren: Es ist weder meine Gerichtsbarkeit noch mein Verfahren.

Der EGMR hat nicht nur festgestellt, dass die Schweiz zu wenig unternehme, um die älteren und alten Einwohnerinnen vor den gesundheitlichen Auswirkungen des Klima­wandels zu schützen, sondern dass ihnen ein faires Verfahren hätte gewährt werden müssen. Wieso?
Artikel 6 der Europäischen Menschenrechts­konvention garantiert das Recht auf ein faires Verfahren vor Gericht. Wenn jemand vor Gericht geht, muss er angehört werden und die Möglichkeit bekommen, seinen Fall angemessen darzulegen. Die Schweizer Gerichte haben die Anträge der Klima­seniorinnen insgesamt zurück­gewiesen, sowohl diejenigen der einzelnen Personen als auch diejenigen des Vereins. Der EGMR hat jedoch entschieden, dass der Verein das Recht hat, vor Gericht zu klagen und die Menschen­rechte zu verteidigen. Die Schweizer Justiz verneinte dieses Recht. Ein faires Verfahren war deshalb nicht gewährleistet.

Zur Person

Melina Mörsdorf/laif

Dr. Roda Verheyen, 1972 in Düsseldorf geboren, ist Rechts­anwältin mit Schwerpunkt Klimaschutz und ehrenamtliche Richterin am Hamburgischen Verfassungs­gericht. Sie hat in Hamburg, Oslo und London Rechts­wissenschaften studiert und wurde mit einer Doktor­arbeit an der Forschungs­stelle Umwelt­recht an der Uni Hamburg promoviert. Sie berät Umwelt­organisationen wie Greenpeace und Germanwatch und ist Gründerin des Vereins Green Legal Impact Germany. 2002 gründete sie mit dem Juristen Peter Roderick das internationale Netzwerk Climate Justice Programme. Am 16. März 2023 erschien ihr gemeinsam mit Alexandra Endres verfasstes Sachbuch «Wir alle haben ein Recht auf Zukunft. Eine Ermutigung».

Inwieweit ist es den Klima­seniorinnen in Strassburg nun gelungen, einen Präzedenzfall zu schaffen?
Nicht nur das Klagerecht wurde gestärkt, auch die Beweislast wurde umgekehrt mit diesem Urteil: Eine Person, oder in diesem Fall die Klima­seniorinnen, die gegen einen Staat klagen, muss nicht darlegen, was genau der Staat zu tun hat – sondern der Staat muss zeigen, dass er ausreichende Massnahmen gegen die Klima­erwärmung ergreift, also ein Gesamt­konzept hat, das auch auf klaren Mengen­beschränkungen für Treibhausgas­emissionen beruht. Ich habe immer schon gesagt, Klimaschutz ist ein Menschen­recht, das haben inzwischen auch viele Gerichte bestätigt, sei es auf Grundlage der Menschen­rechts­konvention, des deutschen Grund­gesetzes oder der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker. Das Revolutionäre am Schweizer Fall ist nun, dass diese Klagen tatsächlich entschieden und zwei Menschen­rechts­verletzungen festgestellt wurden.

Das Urteil des Strassburger Gerichtshofs an sich bindet erst einmal nur die Schweiz. Doch welche Bedeutung hat es für die anderen 45 Mitglieder des Europarats? Können wir mit einer neuen Welle von Klimaklagen rechnen?
Die neue menschen­rechtliche Verbandsklage­möglichkeit gilt jetzt überall. Die Türen für Klimaklagen sind hiermit weit aufgestossen worden. Allerdings hängt die Frage, ob mehr Klagen vor nationale oder internationale Gerichte gebracht werden, stark davon ab, was die einzelnen Staaten in Sachen Klimaschutz bereits tun. Eigentlich wäre es ja schön, wenn keine Klagen mehr erforderlich wären. Der EGMR hat vor allem drei Dinge entschieden: erstens, dass Verbände und Vereine klagen können; zweitens, dass es ein Menschen­recht auf Klimaschutz gibt, das auf Artikel 8, der Achtung des Privat- und Familien­lebens, beruht. Drittens: Dieses Menschenrecht muss sinnvoll und schlüssig erfüllt werden. Das Gericht liefert dafür sogar einige Massstäbe.

Ist also alles geklärt?
Nein, es bleiben Fragen offen, das ist ein Kritikpunkt, der sich bereits heraus­kristallisiert hat. Jeder Mitglieds­staat muss diese drei Grundsatz­entscheide jedoch beachten. Alle Mitglieds­staaten haben interne Regelungen, die vorschreiben, dass die Europäische Menschen­rechts­konvention und die Urteile aus Strassburg zu berücksichtigen sind bei der Auslegung des nationalen Rechts. Dieses Urteil, obwohl es nur gegen die Schweiz ergangen ist, hat deshalb tatsächliche Bedeutung für alle Mitglieder des Europarats.

Jeder Verband kann nun also seine Heimat­länder vor nationalen oder europäischen Gerichten verklagen und Klimaschutz als Menschen­recht einfordern?
In gewisser Weise ist dies der revolutionäre Aspekt der Entscheidung vom Dienstag. Die Einzel­klägerinnen, die auf statistischen Grundlagen argumentieren, dass ihre Gesundheit beispielsweise aufgrund von Hitzewellen besonders stark beeinträchtigt sei, die also persönliche Betroffenheit geltend machen, wurden vom Gericht als Klägerinnen nicht zugelassen. Der Verein hingegen schon. Aus meiner Sicht ist hier eine echte altruistische Verbands­klage geschaffen. Der Verband kann auch dann klagen, wenn es seine Mitglieder nicht können. Wie dies auf Grundlage der Aarhus-Konvention schon anerkannt ist. Vielleicht kann man es so beschreiben: Entweder garantieren die nationalen Gerichte Zugang für den Einzelnen. Oder eben für den Verband. Irgendwie – so der EGMR – muss man das Recht auf Klimaschutz einklagen können.

Der EGMR hat am Dienstag zwei weitere Urteile gesprochen, zu den Klagen eines ehemaligen französischen Bürger­meisters gegen sein Heimatland sowie von portugiesischen Jugendlichen gegen die Schweiz und 31 weitere europäische Staaten. Beide wurden abgewiesen. Woran sind sie gescheitert?
Der Bürgermeister Damien Carême wohnt nicht mehr in der Gemeinde, weshalb er nicht mehr persönlich betroffen sei. Seine Klage soll deshalb unzulässig sein. Die Klage der sechs portugiesischen Jugendlichen gegen ihren eigenen sowie weitere Staaten wurde auch abgewiesen. Erstens, weil die Jugendlichen in dieser Form nicht gegen die Verletzung ihrer Menschen­rechte durch andere Staaten klagen dürfen – damit hat sich hier die traditionelle Sicht des Menschenrechts­schutzes durchgesetzt. Das ist sehr schade. Gegen Portugal wäre die Klage grundsätzlich zulässig. Dort ist sie aber unzulässig, weil in Portugal selbst keine weiteren Gerichte angerufen wurden. Die Kläger hätten den Gerichtsweg in ihrem Heimat­land nicht ausgeschöpft.

Sie haben sich im Fall der Klima­seniorinnen als Intervenientin eingebracht und eine Stellung­nahme an den EGMR verfasst und waren 2023 bei der Anhörung in Strassburg. Warum eigentlich?
Die Entscheidungen aus Strassburg beeinflussen alle Gerichte, also auch die, die ich anrufe. Ich klage ja im Moment sowohl vor deutschen als auch europäischen Gerichten. Ich bin eben der Meinung, dass man die Erfahrungen, die man mit nationalen Gerichten gemacht hat, auch beim EGMR einbringen und entsprechende Vorschläge machen sollte, zum Beispiel wie man sich der Pflicht zu Klima­schutz nähern könnte.

Sie selbst gehen derzeit gegen mehrere Unternehmen vor, darunter den Energieversorgungs­konzern RWE oder den Auto­konzern VW. Was erhoffen Sie sich dabei?
Wir haben auf so vielen Ebenen unsere Hausaufgaben zu machen. Einfach zu sagen, die Staaten sollen es irgendwie richten, funktioniert nicht. Jedes grosse Unternehmen hat ja über die Grenzen eines einzelnen Landes hinaus eine grosse Wirkmacht. Darauf beruhen die Unternehmens­klagen; im Hinblick sowohl auf das, was sie anrichten – in meiner Klage gegen den Energie­konzern RWE geht es um die Folgen des Klimawandels –, als auch auf die Produkte, die sie in die Welt setzen. Darum geht es in der Klage gegen VW. Das Urteil des EGMR unterstützt dies nun: Es fordert, dass die physikalischen Grenzen der Atmosphäre respektiert werden. Das gilt sowohl für Staaten als auch für Unternehmen.

Sind Sie bei diesen laufenden Verfahren genauso optimistisch, wie Sie es im Fall der Klima­seniorinnen waren?
Ich habe immer gesagt, dass die Klima­seniorinnen in Strassburg nicht abgewiesen werden können. Am Dienstag habe ich deshalb gleich mehrere Wetten gewonnen, was mich freut. Man muss bei Klagen aber immer davon ausgehen, dass man manche gewinnt, andere verliert. Das ist logisch. Im Moment würde ich dennoch sagen, dass die Siege bei Klimaklagen die Verluste überwiegen. Oft wird ja die Frage gestellt, ob es sich bei solchen Klimaklagen um rein politische Verfahren handelt. Ich führe nur Verfahren, von denen ich auch meine, dass ich sie gewinnen kann. Das geht wohl jedem Juristen so, der diesen Schritt unternimmt. Ob ich dann tatsächlich gewinne oder verliere, ist nicht meine Entscheidung.

Warum hat es eigentlich so lange gedauert, bis die ersten Klima­klagen erfolgreich waren? Oder: Was ist heute anders?
Die ersten Klimaklagen waren wohl in den 1990ern, aber seit dem Abschluss des Pariser Abkommens 2015 ist die Zahl der Verfahren deutlich hochgegangen. Seit der Weltklimarat IPCC 2018 dann einen Sonderbericht über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius gegenüber 2 Grad Celsius publiziert hat, haben die Klagen noch einmal zugenommen. Die Wissenschaft ist besser geworden und der Massstab ist das Pariser Abkommen. Wir haben heute auch eine viel stärkere Dringlichkeit. Es gibt immer mehr Menschen, die die Auswirkungen des Klima­wandels spüren.