Unsichtbare Hände auf dem Bauernhof
Über sie spricht niemand, ihre Arbeitsbedingungen kennt keiner. Anders als die Bauern haben ihre Angestellten keine Lobby im Hintergrund – das müssen auch zwei ukrainische Flüchtlinge erfahren.
Von Brigitte Hürlimann, Ivan Ruslyannikov (Text) und Maurice Haas (Bilder), 01.04.2024
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Ueli der Knecht und Vreneli die Magd, das sind Tempi passati.
Die beiden Figuren aus Jeremias Gotthelfs Bauerndramen sollen hierzulande noch lange, sehr lange das Bild vom Schweizer Bauernstand prägen – auch das Bild jener, die von ganz unten kommen und es nur dank tüchtiger Arbeit nach oben schaffen.
Da ist Ueli, dieser knorrige Schweizer Bursche, dem es allen Widrigkeiten zum Trotz gelingt, Pächter und später sogar Bauer mit eigenem Betrieb zu werden. Den Aufstieg verdankt er nicht zuletzt einer nicht minder hart anpackenden Frau an seiner Seite: Vreneli, uneheliche Tochter und Magd.
Und heute?
Die Uelis und Vrenelis sind verschwunden. Im 21. Jahrhundert heissen sie Oleksandr und Anastasiia.
Landwirtschaftliche Mitarbeiterinnen, die nicht zur Familie gehören, gibt es nach wie vor, denn ohne ihre Hilfe kommen vor allem die grösseren Betriebe nicht aus. Was sich seit Gotthelfs Zeiten jedoch geändert hat: Die Angestellten stammen fast ausschliesslich aus dem Ausland; vor allem, wenn es um Hilfsarbeiten geht. Über ihre Situation, ihre Arbeitsbedingungen weiss kaum einer etwas. Philippe Sauvin von der Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft spricht von «kleinen Händen, die meist unsichtbar bleiben. Denn es sind die Hände von Migrantinnen und Migranten.»
Intensive Beziehungen mit der Ukraine
Oleksandr und Anastasiia sind in der Region Sumy aufgewachsen, im Nordosten der Ukraine. Beiden ist körperliche Arbeit nicht unbekannt. Die heute 22-jährige Anastasiia half früh auf den Feldern mit, arbeitete in einer Autowaschanlage und einem Reifengeschäft, bevor sie sich zur Coiffeurin ausbilden liess. Ihr Freund Oleksandr, 24-jährig, machte eine Ausbildung zum Schweisser und spezialisierte sich an der Agraruniversität Sumy zum Maschinenbauingenieur.
Dank dieser Ausbildung schaffte es Oleksandr 2019 erstmals in die Schweiz. Im Kanton Aargau absolvierte er vier Monate lang ein Praktikum auf einem Bauernbetrieb. Möglich macht dies ein Angebot des Schweizer Bauernverbands mit dem Namen Agrimpuls, das es seit Jahrzehnten gibt. Es vermittelt sowohl Schweizer Jungbauern ins Ausland als auch Ausländerinnen in die Schweiz.
Mit der Ukraine pflegt Agrimpuls seit über dreissig Jahren intensive Beziehungen. «Die Ukraine ist ein landwirtschaftlich geprägtes Land. Wir arbeiten mit verschiedenen Agraruniversitäten, landwirtschaftlichen Colleges und anderen Lehrinstituten zusammen. Sie vermitteln ihren Studenten Praktika in der Schweiz. Vor dem Kriegsausbruch stammten die meisten der ausländischen Praktikanten aus der Ukraine – übrigens immer mit einem hohen Frauenanteil», sagt Monika Schatzmann von Agrimpuls.
2021 kamen 73 Prozent der rund 400 ausländischen Bauernpraktikantinnen aus der Ukraine, 16 Prozent aus Russland, 8 Prozent aus Brasilien – und 1 Prozent aus Japan. Der Rest, sagt Schatzmann, reise aus Ländern wie Frankreich, Österreich oder Tschechien an.
Am 24. Februar 2022 überfallen russische Truppen die Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich rund 70 ukrainische Praktikanten in der Schweiz.
Oleksandr ist einer von ihnen.
Aus dem Praktikanten wird eine Hilfskraft
Er war nach seinem Kurzpraktikum im Kanton Aargau nach Sumy zurückgekehrt, machte dort seinen Diplomabschluss und fuhr im Dezember 2021 für ein zweites Praktikum erneut in die Schweiz. Dieses Mal für vierzehn Monate und auf einen neuen, mittelgrossen Betrieb, im äussersten Zipfel des Kantons Schaffhausen. In einer idyllischen, bei Ausflüglerinnen beliebten, aber ziemlich abgelegenen Gemeinde kümmerte sich der ukrainische Praktikant um die Milchkühe, die Weinreben und den Getreideanbau.
Dann schlugen in seiner Heimat die ersten Raketen ein.
Oleksandr beschloss, in der Schweiz zu bleiben, und erhielt den Aufenthaltsstatus S, der es ihm erlaubte, das Praktikum zu beenden und einen Arbeitsvertrag einzugehen: am gleichen Arbeitsort, beim gleichen Bauern – und wie es bei den ausländischen Angestellten der Regelfall ist: als Hilfskraft. In der tiefsten Lohnklasse. Diplomabschluss und Praxiserfahrung hin oder her.
Seiner Freundin Anastasiia gelang es wenige Monate nach Kriegsbeginn, über Polen in die Schweiz zu fliehen. Die junge Frau traf im April 2022 in Schaffhausen ein und fand auf dem gleichen Bauernbetrieb Aufnahme. Oleksandrs Arbeitgeber kümmerte sich darum, dass auch sie den Status S erhielt, und schloss mit ihr einen Arbeitsvertrag als landwirtschaftliche Hilfskraft ab, mit Arbeitsbeginn im Juni 2022.
So stehts auf dem Papier.
Anfänglich ging alles gut. Doch heute liegt die Beziehung zwischen dem Bauern und dem ukrainischen Paar in Scherben. Beide Seiten schalteten Anwälte ein, kommuniziert wird nur noch mit eingeschriebenen Briefen.
Was zum Zerwürfnis führte, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Jeder ist vom jeweils anderen bitter enttäuscht, macht Vorwürfe. So wie es aussieht, wird das Arbeitsverhältnis zwischen Anastasiia, Oleksandr und dem Schaffhauser Bauern zum Fall fürs Arbeitsgericht.
Solche Arbeitsbedingungen? Und das in der Schweiz?
Das ukrainische Paar wendet sich zunächst an die Gewerkschaft Unia, weil es der Ansicht ist, das könne doch nicht rechtens sein, wie man mit ihnen auf dem Bauernhof umgegangen ist.
«Wir sind bereit, hart zu arbeiten», sagt Anastasiia im Gespräch mit der Republik. «Hauptsache, wir werden anständig bezahlt und freundlich behandelt. Doch beides war nicht der Fall.» Auch Oleksandr bekräftigt, es mache ihm nichts aus, bis zu elf Stunden pro Tag und auch sonntags zu arbeiten. Er wolle Geld verdienen und seine Eltern unterstützen, die in der Ukraine geblieben sind.
Aber solche Arbeitsbedingungen? In einem der reichsten Länder der Welt? Mit derart hohen Abzügen für Kost und Logis, dass Ende des Monats nicht mehr viel im Portemonnaie bleibt?
Sie habe vom ersten Tag an auf dem Bauernhof mitgearbeitet, beteuert Anastasiia. Und zwar hart. Von morgens früh bis am Abend.
Sie habe alles gemacht, was man ihr zugewiesen habe: im Stall Kühe getrimmt, obwohl sie sich den Umgang mit diesen Tieren nicht gewohnt sei. Das habe zu gefährlichen Situationen geführt, einmal sei sie beinahe von einem Huf am Kopf getroffen worden. «Warum», fragt die 22-Jährige, «lässt man mich solche Arbeiten verrichten und nicht meinen Freund, der Erfahrung hat und dafür ausgebildet ist?»
Im Rebberg habe sie schwere körperliche Arbeit verrichtet, stundenlang, auch bei über 35 Grad, bei sengender Sonne. «Um das auszuhalten, habe ich mir ein nasses Tuch um den Kopf gewickelt. Manchmal war ich so erschöpft, dass ich nur noch auf allen vieren den Rebberg hinaufkriechen konnte. Stehen oder Gehen ging nicht mehr.»
Beide erzählen, wie sie regelmässig schwere Lasten zu schleppen hatten: Weinkisten, Heuballen, Brennholz, Platten. Und wie ihre Rücken dabei zu Schaden kamen. «Die Arbeit in der Landwirtschaft ist gefährlich», sagt Oleksandr. «Für jeden Aufgabenbereich braucht es eine spezielle Ausrüstung, das habe ich an der Agraruni gelernt. Die Schutzausrüstung auf dem Schaffhauser Hof war eindeutig ungenügend.»
Der Arbeitnehmerschutz greift hier nicht
Was das ukrainische Paar von Unia-Jurist Vadim Drozdov erfährt, der sich ihrer Sache annimmt, kommt für beide überraschend: In der Landwirtschaft gelten für die Angestellten ganz andere Regeln als in den anderen Branchen.
Andere und vor allem: schlechtere.
Die Regeln des Arbeitsgesetzes, das den Schutz der Arbeitnehmerinnen in den Vordergrund stellt, kommen bei den landwirtschaftlichen Angestellten nicht zur Anwendung. Dafür gibt es sogenannte Normalarbeitsverträge (NAV), doch die sind erstens kantonal höchst unterschiedlich ausgestaltet und erklären zweitens Arbeitsbedingungen für rechtens und zumutbar, die man dem 19. Jahrhundert zuschreiben würde, aber nicht der heutigen Zeit.
Normalarbeitsverträge werden zwischen den Kantonen und einzelnen Branchen ausgehandelt. Für die Landwirtschaft besteht die Pflicht, einen NAV abzuschliessen, in dem die grundlegenden Arbeitsbedingungen festgelegt werden; vor allem Arbeits- und Ruhezeiten. Lohnvorschriften sind nicht zwingend vorgesehen. Und anders als beim Gesamtarbeitsvertrag (GAV) wird die Einhaltung der NAV-Bestimmungen nicht regelmässig und obligatorisch kontrolliert.
Die Bäuerinnen und ihre Angestellten können zudem mittels schriftlicher Vereinbarung von den NAV-Regeln abweichen – auch zuungunsten der Arbeitnehmer.
In den meisten Kantonen gilt in der Landwirtschaft die 55-Stunden-Woche, die in manchen Gebieten im Sommer bis auf 66 Stunden ausgeweitet werden darf. Bezahlte Feiertage sind oft keine festgelegt, und die arbeitsfreien Tage pro Woche schwanken zwischen einem einzigen Tag und eineinhalb Tagen.
Unverbindliche Empfehlungen des Bauernverbands
Im Kanton Schaffhausen, wo Anastasiia und Oleksandr bis Ende 2023 auf dem Bauernhof arbeiteten, sieht der Normalarbeitsvertrag 55 Arbeitsstunden und eineinhalb freie Tage pro Woche vor. Pro Arbeitstag wird eine fünfzehnminütige Pause vergütet.
Von einer solchen Pause, sagen Oleksandr und Anastasiia, hätten sie erst gegen Ende ihres Arbeitsverhältnisses erfahren.
Und der Lohn?
Die Landwirte halten sich in der Regel an die Vorgaben des Bauernverbands. Für die Hilfskräfte betrug der empfohlene Mindestlohn im vergangenen Jahr 3385 Franken brutto. Beide, Anastasiia und Oleksandr, waren als Hilfskräfte eingestuft worden. Sie erhielten weniger als das für 2023 empfohlene Mindestgehalt. Ausserdem wurden ihnen monatlich je 990 Franken für Kost und Logis abgezogen – das entspricht der Empfehlung des Bauernverbands.
Dieser Abzug, sagt das ukrainische Paar, sei zu hoch und ungerechtfertigt. Die beiden bewohnten im Bauernhaus je ein Zimmer im oberen Stockwerk. Jenes von Oleksandr war klein, aber immerhin beheizt, das gegenüberliegende von Anastasiia deutlich geräumiger, dafür kalt. Das Paar lebte schliesslich gemeinsam im kleinen Zimmer von Oleksandr, was am Lohnabzug von je 990 Franken allerdings nichts änderte.
David gegen Goliath
«Die Landwirtschaft hinkt punkto Arbeitsbedingungen hinterher», bestätigt Katrin Hürlimann, Geschäftsführerin und Sekretärin einer Schweizer Organisation, die kurz und bündig Abla genannt wird. Die Abkürzung steht für Arbeitsgemeinschaft Berufsverbände landwirtschaftlicher Angestellter.
Die Abla verhandelt mit den ungleich mächtigeren kantonalen Sektionen und Fachorganisationen des Schweizer Bauernverbands jährlich über die Lohnempfehlungen für die rund 30’000 landwirtschaftlichen Angestellten. «Es ist ein Kampf zwischen David und Goliath», sagt Hürlimann, die zusammen mit ihrem Ehemann im Kanton Zürich einen Landwirtschaftsbetrieb führt. Für 2024 ist es der Abla gelungen, eine Lohnerhöhung von einem Prozent durchzusetzen – nur schon das sei schwierig gewesen, sagt die 39-Jährige.
Die zwischen der Angestelltenvertretung und dem Bauernverband ausgehandelten Empfehlungen für die Mindestlöhne sind, wie gesagt, nicht verbindlich. Aber sie werden in den meisten Normalarbeitsverträgen erwähnt und von den Arbeitgeberinnen auch gewährt.
«Die Abla hat schlussendlich eine Erhöhung von 1,6 Prozent verlangt, damit wenigstens die Teuerung ausgeglichen wird», sagt Katrin Hürlimann. «Doch wir hatten keine Chance. Wir hören immer die gleichen Gegenargumente: Das Wetter und die Ernte seien schlecht gewesen, die Bauern würden auch nicht mehr verdienen, die zu tiefen Preise für landwirtschaftliche Produkte und so weiter. Wir müssen diplomatisch vorgehen, um überhaupt etwas zu erreichen.»
Aber es treffe zu, dass über die Produzentinnenpreise geredet werden müsse. «Diese Rechnung geht längst nicht mehr auf. Die meisten Bauern bekommen viel zu wenig für ihre Produkte. Da wird um jeden Rappen mehr gestritten, den ein Salatkopf kosten darf. Das nimmt absurde Züge an.»
Erbitterter Widerstand
Das Argument mit den Produzentenpreisen stösst beim Genfer Philippe Sauvin, Sprecher der Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft, auf Skepsis.
«Auch wenn diese erhöht werden», sagt er, «führt das nicht unbedingt zu besseren Bedingungen für die Angestellten.»
In der Schweiz gebe es im Gegenteil einen erbitterten Widerstand für zeitgemässe Arbeitsbedingungen und Löhne. «Die Lohnabhängigen sind das letzte Glied in der Kette, niemand interessiert sich für sie, sie haben keine Stimme. Der Bauernstand hingegen ist gross, stark und in der Politik bestens verankert. Ein nationaler Normalarbeitsvertrag mit schweizweit einheitlichen Regeln wäre schon ein Fortschritt, ein Gesamtarbeitsvertrag ist derzeit chancenlos.»
Die Akteure hinter der Plattform fordern Arbeitszeiten von 45 Stunden pro Woche, einen Mindestlohn von 4000 Franken brutto pro Monat oder 20 Franken pro Stunde.
Bisher mit wenig Erfolg.
In der Westschweiz, sagt Sauvin, seien die Bedingungen ein wenig besser, dank dem Druck der Gewerkschaft Unia. Der Kanton Genf hat für die landwirtschaftlichen Angestellten tatsächlich die 45-Stunden-Woche eingeführt, die Kantone St. Gallen, Baselland und Basel-Stadt Arbeitszeiten von knapp unter 50 Stunden. Neuenburg schliesslich regelt als einziger Kanton im Normalarbeitsvertrag einen verbindlichen Mindestlohn, der aktuell 3884 Franken beträgt – immerhin ein paar hundert Franken mehr als das, was der Bauernverband vorschlägt.
Die Situation mit diesen kantonal höchst unterschiedlichen Normalarbeitsverträgen sei ein Flickwerk, da sind sich Katrin Hürlimann von der Abla und Philipp Sauvin einig.
Fachkräftemangel auf allen Stufen
«Überhaupt», sagt Hürlimann, «müsste doch der Fachkräftemangel in der Landwirtschaft dazu führen, dass ernsthaft über bessere Arbeitsbedingungen gesprochen wird. Dieser Zusammenhang wird noch viel zu wenig gemacht.»
Dabei springe ins Auge, dass Angestellte die Landwirtschaft bei der erstbesten Gelegenheit verliessen – weil sie in anderen Branchen auf deutlich bessere Bedingungen und Löhne stiessen. Das gelte auch für die ausländischen Kräfte. Und damit für die Mehrheit der Mitarbeiter in der Landwirtschaft.
«Wenn es der Bauer gut macht, als Arbeitgeber, dann bietet der Job viel Positives, unabhängig vom Lohn. Man hat einen erfüllenden Job, ist in die Familie integriert, und kein Tag ist gleich wie der andere», sagt Katrin Hürlimann. Doch die Landwirtin müsse ihre Angestellten mit Wertschätzung behandeln, ihnen Spielraum und Verantwortung übertragen, Entwicklungen zulassen.
«Wichtig ist, miteinander zu reden. Nicht warten, bis einem der Kragen platzt.»
Der Personalmangel sei nicht neu, und es gebe ihn auf allen Stufen, bestätigt Monika Schatzmann vom Schweizer Bauernverband. Die Landwirtschaft sei für die Angestellten immer schon eine Einstiegsbranche gewesen. «Aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist es eine Tatsache, dass keine grossen Verdienste in der Landwirtschaft erzielt werden können – das gilt für die Arbeitnehmenden wie auch für die Arbeitgeber.»
Gross war die Hoffnung, dass mit den ukrainischen Flüchtlingen in der Schweiz der Fachkräftemangel gelindert werden könnte. Denn eben: Der Austausch zwischen den beiden Ländern hat im Agrarsektor eine lange Tradition. Und anders als die anderen Geflüchteten dürfen die Ukrainer von Anfang an arbeiten.
Gemäss Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) hielten sich Ende Februar 2024 noch 65’170 Menschen aus der Ukraine mit Schutzstatus S in der Schweiz auf. Davon waren knapp 40’000 im erwerbsfähigen Alter – und fast 9000 übten einen Beruf aus. Das entspricht einer Erwerbstätigenquote von 22,7 Prozent. Der Anteil der erwerbstätigen Flüchtlinge nehme kontinuierlich zu, schreibt das SEM auf Anfrage der Republik. Der Bundesrat strebt eine Quote von 40 Prozent an.
Von den erwerbstätigen ukrainischen Flüchtlingen arbeiteten Ende Januar 2024 jedoch nur gerade 206 in der Landwirtschaft – das ist weniger als halb so viel wie noch kurz nach Kriegsausbruch.
Ein Wiedersehen vor dem Friedensrichter
Und damit zurück in den Kanton Schaffhausen, zu Anastasiia und Oleksandr. Was hat bei ihnen zur Eskalation mit dem Arbeitgeber geführt? Waren es «nur» die harten, aber rechtmässigen Arbeitsbedingungen bei einer schlechten Entlöhnung, die für das ukrainische Paar das Fass zum Überlaufen brachten?
«Nein!», sagen die beiden dezidiert – und mit ihnen auch Unia-Jurist Vadim Drozdov. Der Bauer habe das Paar nicht nur als billige Arbeitskräfte ausgenützt, sondern auch schlecht behandelt, teilweise gar schikaniert. Und ihnen nicht einmal das wenige ausbezahlt, das ihnen zustehe.
Am 12. Januar dieses Jahres haben Anastasiia und Oleksandr den Bauern zum bisher letzten Mal gesehen, bei dem sie zuvor monatelang gearbeitet hatten. Das Treffen findet vor dem Friedensrichter in Schaffhausen statt.
Drozdov hat ein Verfahren im Namen von Anastasiia eingeleitet und behält sich ein zweites Verfahren für Oleksandr vor. Was die 22-jährige Frau betrifft, verlangt er Lohnzahlungen für die Monate April und Mai 2022, die Herausgabe von korrekten Lohnabrechnungen und Arbeitszeiterfassungen sowie Entschädigungen für Überstunden, nicht bezogene Ferien und nicht bezogene freie Tage.
Hintergrund dieser Forderungen ist: Der Schaffhauser Bauer gibt an, Anastasiia habe erst ab Juni 2022 bei ihm gearbeitet; denn vorher, ohne den Status S, habe sie gar nicht arbeiten dürfen. Ihre Mitarbeit im April und Mai umschreibt der Landwirt als «ein bisschen mitgeholfen» oder als Gegenleistung für Kost und Logis. Die junge Frau hingegen beteuert, von Anfang an gearbeitet zu haben – und zwar richtig.
Uneinigkeit zwischen dem Bauern und seiner ehemaligen Angestellten gibt es auch sonst bezüglich der Arbeitszeit. Der Arbeitgeber sagt, sie habe derart viel freigenommen, dass sie Ende des Monats halt weniger Lohn bekommen habe. Die Arbeitnehmerin hingegen sagt, sie habe nicht zu wenig, sondern zu viel gearbeitet.
Darüber hinaus ist Vadim Drozdov aufgefallen, dass der Schaffhauser Normalarbeitsvertrag in einem Punkt zwingendem Bundesrecht – dem Obligationenrecht – widerspricht. So muss einem Angestellten pro Woche mindestens ein freier Arbeitstag gewährt werden; unabhängig davon, in welcher Branche er tätig ist. Also auch in der Landwirtschaft. Beim Schaffhauser NAV wird ein Ruhetag alle zwei Wochen für zulässig erklärt.
Auch diese Frage will der Unia-Jurist von einem Gericht überprüfen lassen. Und anderes mehr.
«Alles in allem eine riesige Enttäuschung»
Was sagt der Bauer dazu?
Der 32-Jährige hat vor gut zwei Jahren den väterlichen Betrieb übernommen und will in diesem Artikel nicht namentlich genannt werden. Er ist keine öffentlich bekannte Persönlichkeit; anders als sein Vater, der nicht nur in der lokalen Politik, sondern auch schweizweit als engagierter Bauernvertreter eine bekannte Grösse darstellt.
Die Republik trifft den Jungbauern an einem Abend im Hof, als die Kühe gemolken sind und es draussen längst stockdunkel ist. Er hat keine Freude an diesem Gespräch, das verhehlt er nicht. Und noch weniger daran, wie die Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Paar geendet hat.
«Wir hatten schon immer ausländische Praktikanten bei uns auf dem Hof, seit über zwanzig Jahren, seit ich ein Kind bin», sagt der Bauer. «Sie kamen aus Polen, Rumänien, Moldawien, Russland und aus der Ukraine. Ich selbst war als Praktikant in Australien, vermittelt durch Agrimpuls. Ich weiss, was es bedeutet, in einem fremden Land mit einer fremden Sprache auf einem Betrieb zu arbeiten, der ganz anders funktioniert, als man es sich von daheim gewohnt ist.»
Sein Vater und er hätten stets gute Erfahrungen mit den Praktikanten gemacht. Auch mit Oleksandr sei es anfänglich problemlos gelaufen. «Als im Februar 2022 der russische Einmarsch kam, brach für ihn eine Welt zusammen. Wenig später fragte er mich, ob eine Cousine, die nach Polen geflüchtet sei, bei uns wohnen und arbeiten dürfe. Ich sagte Ja und kümmerte mich darum, dass auch sie den Status S bekam.» Es habe sich dann rasch herausgestellt, so der Bauer, dass es die Freundin von Oleksandr sei, nicht eine Cousine. Aber das sei ja egal.
Ab dem Frühling 2023, sagt der Landwirt, hätten die Probleme begonnen. Vor allem die Arbeitsleistung und die Motivation der jungen Frau hätten merklich abgenommen. Sie habe immer häufiger freie Tage eingefordert, sei unpünktlich zur Arbeit erschienen und während der Arbeit zu oft mit ihrem Handy beschäftigt gewesen. Auch Oleksandrs Verhalten habe sich negativ verändert.
«Alles in allem ist es eine riesige Enttäuschung. Wir waren noch nie so grosszügig wie zu diesem Paar. Ich habe Oleksandr einen Vorschuss gegeben, damit er sich ein Auto kaufen konnte, und Anastasiias Verwandte durften tagelang gratis bei uns wohnen. Wegen der schlechten Arbeitsleistungen musste ich beide verwarnen. Zwei Tage später traf ein erstes Arztzeugnis ein, das eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Kurz danach kamen die eingeschriebenen Briefe. Doch ich mache mir keine Sorgen, was ein Gerichtsverfahren betrifft. Ich habe alles korrekt gemacht, und es ist alles dokumentiert.»
Ende 2023 war die Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Paar und damit auch das Zusammenleben unter einem Dach beendet.
Der Neuanfang – mit doppelt so viel Lohn
Anastasiia und Oleksandr war klar, dass sie so schnell wie möglich wieder arbeiten wollen. Sozialleistungen zu beziehen, kam für sie nicht infrage.
Ebenso wenig, es nochmals in der Landwirtschaft zu versuchen.
Eine neue Arbeitsstelle fanden die beiden schnell. Viel schwieriger war es mit einer bezahlbaren Unterkunft. Seit Februar arbeitet das Paar in einer Grossgärtnerei im Kanton Zürich. Weil sie nur in Schaffhausen ein Zimmer mieten konnten, pendeln sie jeden Tag mit dem Auto hin und her. Mit dem neuen Job aber sind Anastasiia und Oleksandr zufrieden. Sie arbeiten zwar hart und lange – verdienen aber fast doppelt so viel wie vorher auf dem Bauernhof.
«Ich bin ziemlich pessimistisch», sagt Philippe Sauvin, «dass sich in der Landwirtschaft rasch etwas zum Positiven ändern wird.»
Mit einer Petition, eingereicht in den Kantonen Zürich und Bern, sind die Akteurinnen hinter der Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft auf taube Ohren gestossen. Immerhin 5286 Unterzeichnende hatten die jeweiligen Direktionen aufgefordert, sich in ihren Kantonen für bessere Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft einzusetzen.
«Geht nicht», so die Kürzestzusammenfassung der Antworten, die im Februar 2022 aus Bern und im April 2022 aus Zürich eintrafen.
Die unterzeichnende Berner Regierungspräsidentin äussert immerhin Verständnis fürs Anliegen.
Im Schreiben aus Zürich ist davon keine Rede.
Ivan Ruslyannikov wurde 1994 geboren. 2016 schloss er das Journalismusstudium an der Ural Federal University in Jekaterinburg ab. Seither arbeitete er als freier Journalist für die Zeitungen «Kommersant», «MBK Media», für «Forbes» und «Nowaja Gaseta». Für den Republik-Text «Yandex – ein Techunternehmen kreiert Zombies» erhielt Ruslyannikov gemeinsam mit Republik-Autorin Adrienne Fichter den Zürcher Journalistenpreis 2023.