Der Rechtsruck kommt ... dieses Mal wirklich

Erfüllen sich die Prognosen für die Europawahl im Juni, gewinnen Viktor Orbán, Marine Le Pen und die AfD Einfluss auf die Entscheidungen in der EU.

Von Eddy Wax (Text), Karen Merkel (Übersetzung) und Alexander Glandien (Illustration), 27.03.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Man kann die Uhr danach stellen: Die Politiker des demokratischen Mainstreams bekommen alle fünf Jahre vor den Europa­wahlen die Krise, weil sie den Aufstieg von Radikalen und Populistinnen fürchten.

Dann löst sich die Gefahr in Luft auf, weil die traditionellen Kräfte von Mitte-links und Mitte-rechts, die einst die Europäische Union aufgebaut haben, Koalitionen schmieden und radikalere Parteien so in Schach halten.

Verlassen Sie sich dieses Mal nicht darauf.

Den Umfragen zufolge wird der Aufschwung der Rechten 2024 deutlicher ausfallen. Eine der Prognosen sagt voraus, dass die nationale Rechte und die Rechts­extremen im Juni ein Viertel der Sitze im Europäischen Parlament erobern könnten.

Selbst wenn Mitte-rechts, bei der ein Wahlsieg wahrscheinlich ist, sich weigert, eine Regierungs­koalition mit den immer stärker werdenden Splitter­parteien zu bilden, besteht eine grosse Chance, dass die extreme Rechte zum ersten Mal in der Lage sein wird, die politische Agenda in Europa zu beeinflussen. Dann könnte sie unveräusserliche Werte der EU wie Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte bedrohen und wichtige Umwelt- und Klima­gesetze blockieren oder sogar kippen.

«Wir werden einen bedeutenden Recht­sruck erleben», sagt Simon Hix, Professor für Vergleichende Politik­wissenschaft am Europäischen Hochschul­institut, mit Blick auf die Wahlen im Juni, bei denen 400 Millionen Menschen in der gesamten Europäischen Union 720 Volksvertreter ins Europa­parlament nach Brüssel schicken werden.

Hix prognostiziert, dass die rechts­extreme Fraktion Identität und Demokratie (ID) im Juni 40 Sitze hinzugewinnen wird. Dann würde sie 99 Abgeordnete stellen und wäre nicht mehr Nummer sechs von sieben, sondern die drittgrösste Fraktion im Europa­parlament, und würde den derzeitigen Rang der Liberalen übernehmen. Der ID haben sich bereits die AfD und der französische rechts­extreme Rassemblement National (RN) angeschlossen.

Sollte auch die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) um 18 Sitze zulegen, was Hix erwartet, dann wäre die politische Heimat der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der italienischen Regierungs­partei Fratelli d’Italia neu die viert- statt die fünft­grösste Fraktion im Europa­parlament. Die EKR würde damit die Grünen und die Liberalen überholen.

Gemeinsam mit den 12 Mitgliedern der Fidesz-Partei des ungarischen Minister­präsidenten Viktor Orbán, die politisch heimatlos sind, könnten EKR und ID 25 Prozent der Sitze im nächsten Europa­parlament auf sich vereinen. Das ergab eine Umfrage im Auftrag des Europäischen Rats für Auswärtige Beziehungen.

Orbán hat im Februar bereits bekannt gegeben, dass die ungarischen Fidesz-Abgeordneten nach der Wahl der rechten EKR-Fraktion beitreten werden. Das würde die Reihen der EKR stärken. Die polnischen Nationalisten, die die Fraktion seit dem Austritt der britischen Konservativen dominieren, sind dafür offen. EKR-Sprecher Michael Strauss sagte: «Wenn es nach den Wahlen einen Antrag gibt, werden wir gerne verhandeln und sehen, was passiert.»

Gergely Gulyás, der Leiter des ungarischen Minister­präsidenten­büros, sagt mit Blick auf EKR und ID: «Ich sehe eine realistische Chance, dass diese beiden Fraktionen gemeinsam die stärkste im Europäischen Parlament werden.» Dies wiederum würde die Politik prägen, die von den beschluss­fassenden EU-Institutionen ausgeht.

Ein hoher Beamter der Europäischen Volks­partei (EVP), der grössten Fraktion im Europa­parlament, sagt: «Selbst wenn sie die aktuelle Mehrheit im nächsten Parlament halten, würde sich die Dynamik der gesamten parlamentarischen Arbeit ändern, auch mit Blick auf die Vergabe der Spitzen­posten.» Der Beamte äusserte sich anonym, damit er offen sprechen konnte.

Ein Aufstieg des rechten Flügels könnte zum Beispiel den parlamentarischen Prozess schwierig gestalten, mit dem Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen wieder­gewählt werden sollte. Von der Leyen hat Mitte Februar bekannt gegeben, dass sie eine zweite Amtszeit anstrebt.

In einem Dutzend europäischer Länder, darunter in Frankreich und Deutschland, standen bereits im Dezember einwanderungs­feindliche Hardliner-Parteien weit vorn oder gar an der Spitze der Umfragen. Einige dieser Parteien sind extremer als Geert Wilders’ Partei für die Freiheit.

Im Laufe der Jahrzehnte haben viele Wähler in ganz Europa den etablierten Parteien den Rücken gekehrt. Diese hatten zu kämpfen mit steigenden Lebenshaltungs­kosten, einem grossen Finanz­crash, Millionen von Flüchtlingen an den Ost- und Südgrenzen, Terror­anschlägen in den grossen Haupt­städten und stark steigenden Energie­preisen inmitten eines stagnierenden Krieges. Und dennoch gelang es ihnen, die Bedrohung durch rechts­extreme Parteien bei jeder Wahl abzuwehren.

Hans Kundnani ist Autor eines Buchs mit dem Titel «Eurowhiteness», das von der Möglichkeit einer rechts­extremen EU handelt. Er sagt: «Die extreme Rechte kann gewinnen, ohne zu gewinnen, wenn die rechte Mitte ihre gesamte Rhetorik und Politik übernimmt, vor allem in Bezug auf die Fragen zu ihrer Politik, zur Identität, zur Einwanderung und zum Islam.»

Nach Hochrechnungen wie der von Hix durchgeführten würden die drei Fraktionen der politischen Mitte immer noch eine Mehrheit halten, wenn auch mit 30 Sitzen weniger. Das heisst nicht, dass der Einfluss der Rechts­extremen nicht zunehmen wird. Und bis zur Wahl sind es noch gut zwei Monate.

Alle schauen auf Mitte-rechts

Die Rechtsextremen in Brüssel lecken sich die Lippen bei der Aussicht, mehr Einfluss zu haben auf Themen wie Einwanderung oder Klimagesetze über den Hebel der wechselnden Koalitionen, die sich bei jeder Abstimmung in der EU-Legislative bilden.

Das Europäische Parlament hat es Vertreterinnen der extremen Rechten stets verwehrt, einflussreiche Positionen im Parlament zu bekleiden, zum Beispiel Ausschüssen vorzusitzen, an Verhandlungen teilzunehmen oder Teil des Präsidiums zu werden, das sich mit den internen Angelegenheiten des Europa­parlaments und seinem Jahresbudget in Höhe von 2 Milliarden Euro befasst.

Die Hauptakteure der Rechten planen nun, die wichtigsten Fraktionen zu spalten, indem sie die Mitte-rechts-Fraktion von den Sozialistinnen und Liberalen wegmanövrieren.

Laut Marco Zanni, Politiker der italienischen Lega und Vorsitzender der ID-Fraktion, hat diese Taktik in den vergangenen Monaten bereits funktioniert: «Was in Sachen Einwanderung und bei einigen Dossiers zum Green Deal umgesetzt wurde, zeugt von dem Druck, den wir auf Mitte-rechts ausgeübt haben, um ihre Position zu verschieben und den Vertrag mit Linken unkonkreter und weniger institutionell verankert zu gestalten.»

EVP-Chef Manfred Weber wiederum sagt, die Fraktion habe eine rote Linie gegenüber der antieuropäischen radikalen Rechten gezogen: «Als Partei­vorsitzender habe ich drei Prinzipien definiert: Alle unsere Partner müssen pro Europa sein, pro Ukraine und pro Rechts­staatlichkeit.»

Dennoch sieht sich die EVP seit Monaten der Kritik der Sozialistinnen, Liberalen und Grünen ausgesetzt, weil sie mit Parteien rechts von sich flirtet. Nachdem die EVP über Jahre frustriert hat mitansehen müssen, wie linke Fraktionen ohne sie verhandelt haben, könnten durchaus einige ihrer Vertreter versucht sein, auch ohne offizielle Koalitions­vereinbarung mit rechten Parteien zusammen­zuarbeiten.

Weber jedoch weist die Möglichkeit einer Zusammen­arbeit mit rechts­extremen Parteien zurück und bezieht sich dabei explizit auf Polens euroskeptische PiS in der EKR, die AfD und den französischen Rassemblement National.

Rechtsextreme Politiker haben aber offenbar einen Plan, wie sie die Brandmauer umgehen können, die sie seit langem von Macht und Einfluss abhält.

Maximilian Krah, ein rechts­extremer deutscher Europa­abgeordneter, steht auf dem ersten Listenplatz der AfD, die im nächsten Europa­parlament voraussichtlich an Grösse zulegen wird. Er sagt: «Ich möchte aus dem Cordon sanitaire ausbrechen und die Möglichkeiten dieses Parlaments konstruktiv nutzen.» Er bezieht sich dabei auf das Prinzip der Brandmauer, nach dem sich demokratische Parteien verpflichten, nicht mit antidemokratischen Kräften zusammen­zuarbeiten. «Ich bin nicht hier, um zu zerstören.»

Der hochrangige EVP-Vertreter wiederum sagt, die Idee sei es, ebenjenen Cordon sanitaire aufrecht­zuerhalten.

Zerwürfnisse innerhalb der Neuen Rechten

Ein Silberstreif am Horizont für Progressive und Pro-Europäerinnen bildet die Tatsache, dass die Rechte sich offenbar nicht in den Griff bekommt.

Die deutschen Abgeordneten der AfD im Europäischen Parlament haben sich zum Beispiel weitgehend untereinander zerstritten. Diejenigen, die eher der alten Schule angehören, sind sich nicht einig mit dem neuen rechten Flügel der Partei.

Die Fraktion Identität und Demokratie – die sich naturgemäss aus Nationalisten zusammensetzt – ist fast vorsätzlich alles andere als eine gut geölte Maschine und überlässt es jeder nationalen Partei selbst, wie sie abstimmt. Tobias Teuscher, stellvertretender General­sekretär der Gruppe, sagt: «Die ID ist die am stärksten dezentralisierte Fraktion von allen.»

Im Februar hatte Marine Le Pen ihre deutschen Kollegen von der AfD scharf kritisiert, nachdem Journalistinnen Pläne zur Abschiebung von Millionen von Menschen aus Deutschland aufgedeckt hatten, die an einer Konferenz in Potsdam diskutiert worden waren. Le Pen stellt seither infrage, ob ihr Rassemblement National und die AfD auf EU-Ebene in der gleichen Fraktion bleiben könnten.

Ein gross angelegtes Vorhaben, die ID mit der EKR und Orbáns Abgeordneten zu fusionieren, ist mittlerweile gescheitert. Orbáns Abgeordnete, die 2021 aus der EVP gedrängt wurden, scheiterten in dieser Legislatur­periode. ID-Fraktionschef Zanni bezeichnete dies als potenziellen Wendepunkt.

Orbán, Meloni …

Doch es geht nicht nur um die Sitze im Europäischen Parlament. Der Europäische Rat, der sich aus den Regierungs­chefs der EU zusammensetzt, gibt die politische Richtung der EU vor und leitet die mächtige Europäische Kommission, die neue Gesetze vorschlägt. Am Tisch des Europäischen Rats sitzen bereits Italiens rechtsextreme Minister­präsidentin Giorgia Meloni, Ungarns starker Mann Viktor Orbán und sein populistischer slowakischer Verbündeter Robert Fico.

Zanni sagt: «In Zukunft wollen wir Vertreter der ID-Fraktion im Rat haben.»

Ein EU-Diplomat sagte, dieser Trend werde anhalten und könnte «weitreichende Folgen haben.» Wenn auch nicht so sehr jetzt, mehr «auf lange Sicht». Er fügte hinzu: «Dieses Mal wird es nicht leicht werden, die Zugewinne der extremen Rechten zu ignorieren. Es sieht aus, als würde eine neue Phase beginnen.»

Zum Autor

Eddy Wax ist Politik­reporter beim Magazin «Politico», wo er sich schwerpunkt­mässig mit dem Europäischen Parlament befasst. Zuvor arbeitete er bei BBC News in Brüssel und bei der Satire­zeitschrift «Private Eye» in London.

Dieser Text erschien am 6. Februar 2024 bei «Politico» unter dem Titel «This Time, the Far-Right Threat Is Real». Jakob Hanke Vela und Jacopo Barigazzi trugen zur Bericht­erstattung bei.

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