«Ich glaube, dass dieser furchtbare Krieg zu einer neuen Chance führt»

Die Palästinenserin Rana Salman und der Israeli Yair Bunzel kämpfen für ein Ende der Gewalt. Ein Gespräch über Zusammen­arbeit mit dem Feind und den Einsatz für Frieden in Zeiten des Krieges.

Von Daniel Binswanger (Text) und Jozo Palkovits (Bilder), 26.03.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Rana Salman und Yair Bunzel, fotografiert im März 2024 im palästinensischen Restaurant Khouris in Zürich.

Es war ein Gespräch mit einem ungewöhnlichen Duo, das in den Redaktions­räumen der Republik stattfand: Rana Salman ist Palästinenserin aus Bethlehem, Ende dreissig und amtet heute als Co-Direktorin für die NGO Combatants for Peace («Kämpfer für den Frieden»). Yair Bunzel ist Anfang sechzig, Israeli aus Haifa und ebenfalls als Aktivist bei Combatants for Peace engagiert. Die NGO mit Büros in Tel Aviv und Beit Jala kämpft für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern. Auch heute, nach dem 7. Oktober, mitten im Krieg in Gaza.

Es gibt einige israelische NGOs, die sich für eine Friedens­lösung für den Palästina-Konflikt einsetzen, zu den bekanntesten zählen Peace Now, Standing Together oder Women Wage Peace. Doch nur Combatants for Peace ist auf so dezidierte Weise binational, palästinensisch-israelisch. Die Organisation wurde von ehemaligen «Kombattanten» aus beiden Lagern gegründet – das heisst von israelischen Soldaten, die der Besatzung der Palästinenser­gebiete nicht mehr zustimmen konnten, und von Palästinensern, die wegen gewaltsamer Aktionen in israelischen Gefängnissen inhaftiert gewesen waren. Sie nahmen den Dialog auf – und fanden zusammen im Kampf für den Frieden.

Heute bekommt die NGO international verstärkte Aufmerksamkeit. Salman und Bunzel waren für eine Reihe von Veranstaltungen in der Schweiz, unter anderem auf Einladung der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch (JLG) und der Israelitischen Cultus­gemeinde Zürich (ICZ). Auf dem Programm standen auch Treffen mit Vertreterinnen des Aussen­departements und verschiedenen Menschenrechts­organisationen.

Der Krieg beherrscht die Geister. Aber das Bedürfnis, mit der anderen Seite ins Gespräch zu treten, wird deshalb nicht geringer. Im Gegenteil.

In Gaza wütet der Krieg. Wie ist Ihre persönliche Lage?
Rana Salman:
Ich lebe in Bethlehem, also in den besetzten Gebieten, unweit von Jerusalem. Sofort nach dem 7. Oktober wurde die Bewegungs­freiheit stark eingeschränkt. Ich konnte nicht einmal mehr mein Büro erreichen, das am Rand von Bethlehem liegt. Ohnehin wagte man sich kaum mehr auf die Strasse. Es ist zu so vielen gewalttätigen Zwischen­fällen gekommen, vonseiten der Siedler, teilweise auch von palästinensischer Seite. Die Menschen haben grosse Angst. Zudem sind alle Bewilligungen, in Israel zu arbeiten, annulliert worden. Viele Männer aus Bethlehem arbeiten auf israelischen Baustellen. Jetzt haben die Leute keine Jobs mehr. Und auch vor Ort sieht es düster aus.

Weshalb?
Salman:
Bethlehem ist ein Tourismusort, es lebt vom Fremdenverkehr. Doch seit dem 7. Oktober gibt es keine Touristen mehr. Bethlehem ist eine Geisterstadt. Die Hotels, die Restaurants, die Souvenir­shops: Alles steht still. Und die Situation ist extrem angespannt. Es besteht die Angst, dass die ökonomische Krise zu weiteren Gewalt­ausbrüchen führt, weil es ja schon zu so vielen Gewalttaten gekommen ist. In zahlreichen Flüchtlings­lagern kam es zu Militär­aktionen, in Tulkarm, Jenin, Nablus, auch in Bethlehem. Sehr viele Menschen sind erschossen oder verhaftet worden.

Rana Salman

Rana Salman ist Anglistin, Übersetzerin, sie kann sich erinnern an das Leben vor der zweiten Intifada, vor dem Bau der Trenn­mauer, als Israelis und Palästinenserinnen noch nicht auf engem Raum vollkommen separierte Lebenswelten hatten. Um überhaupt Israelinnen kennenzulernen und sich mit ihnen zu befreunden, musste Salman an einem Sommercamp in Kroatien teilnehmen, das von einer internationalen Friedens­organisation durchgeführt wurde. Es war der Anfang ihres Austauschs mit der anderen Seite. Der schliesslich zu ihrem Engagement bei Combatants for Peace führte.

Was hat der Krieg in Gaza für einen Einfluss auf die Stimmung in den besetzten Gebieten? Viele Palästinenserinnen im Westjordan­land dürften Verwandte in Gaza haben.
Salman:
Was soll ich Ihnen sagen? Ein Aktivist von Combatants for Peace hat fünfzig Familien­mitglieder in Gaza verloren. Fünfzig. Aber auch israelische Mitglieder unserer Organisation sind direkt von der Gewalt betroffen.

Wie haben Sie die letzten Monate erlebt, Yair Bunzel?
Yair Bunzel:
Auch israelische Aktivistinnen haben geliebte Menschen verloren bei der Hamas-Attacke, obwohl zum Glück niemand von uns selbst ums Leben gekommen ist. Am 7. Oktober und auch noch mehrere Wochen danach war Israel im völligen Ausnahme­zustand. Da war zunächst der unfassbare Schock, der die Gefühle der Menschen bis heute beherrscht. Und natürlich gab es auch zahlreiche Schwierigkeiten im Alltag. Ich fuhr zum Beispiel nicht mehr zur Arbeit nach Tel Aviv, und es gab den regelmässigen Raketen­beschuss. Das Leben kam nicht zum Stillstand, aber alles war herunter­gefahren. Heute hat sich das Alltagsleben für die meisten Israelis aber wieder einiger­massen normalisiert, sehr im Gegensatz zum Leben der Palästinenserinnen. Natürlich gilt das nicht für die Familien von Bürgerinnen, die entführt oder ermordet wurden. Massiv betroffen sind zudem weiterhin die 200’000 Bürgerinnen, die von der Nordgrenze und von der Grenze mit Gaza evakuiert worden sind und nun weiterhin bei Verwandten oder in Hotels unterkommen müssen. Israel hat eine lange Geschichte der Kriege und Terror­anschläge, der Gewalt und Gegengewalt. Aber nichts ist vergleichbar mit dem, was jetzt geschehen ist. Und Sie dürfen nicht vergessen: Israel ist ein kleines Land.

Was meinen Sie damit?
Bunzel:
Die meisten Leute kennen Menschen, die betroffen sind. Die Schwester eines engen Freundes von mir zum Beispiel hat ihren Sohn verloren und ihre Schwieger­tochter. Sie lebten in einem der Kibbuzim, die überfallen wurden, und wurden beide erschossen. Das war am frühen Morgen, etwa um 7 Uhr, aber bevor sie erschossen wurden, gelang es ihnen, ihre beiden Babys im safe room zu verstecken. Abends um zehn hatte das israelische Militär den Kibbuz zurückerobert. Sie fanden die Kinder, sie lebten. Das sind Geschichten, die schwer zu bewältigen sind. Aber es ist wichtig, dass wir nicht in einen Wettbewerb eintreten.

Was für einen Wettbewerb?
Bunzel:
Der Wettbewerb, wer mehr leidet. Das ist nicht der richtige Ansatz. Und so furchtbar der 7. Oktober auch gewesen ist, er ist nicht der Ausgangspunkt. Die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts hat nicht an diesem Tag angefangen. Natürlich sind der 7. Oktober und der Gaza-Krieg ein riesiger Einschnitt. Für Israel, aber auch für die Palästinenser, für die dieser Krieg mit seinen über 30’000 Toten wohl das furchtbarste Ereignis darstellt seit der Nakba 1948. Im Gegensatz zu Gaza geht das Leben in Israel nun aber wieder einigermassen weiter – ausser natürlich für die Angehörigen der Geiseln. Und für die Familien der Reservisten, die einberufen wurden. Mein Sohn hat sich nach Ausbruch des Krieges freiwillig gemeldet, er hätte nicht einrücken müssen, da er in Deutschland lebt. Aber er stieg ins erste Flugzeug.

Ist er immer noch im Einsatz?
Bunzel:
Nein, nach drei Monaten liess er sich vom Dienst wieder befreien, was er konnte, weil er freiwillig da war. Er ging zurück nach Deutschland, um weiterzumachen mit seinem Leben. Das israelische Militär hat sein Aufgebot inzwischen generell reduziert. Die Reservisten sind zu einem grossen Teil wieder zu Hause. Doch die jungen Soldaten zwischen 18 und 21, die ihren Militärdienst ableisten, die sind nun im Kampf. Und die Sorge um diese Soldatinnen – auch Frauen sind nun an der Front, was bisher ausser 1948 nie der Fall war – bestimmt das Leben vieler Israelis. Unglücklicher­weise haben viele deshalb keinen Platz mehr in ihrem Herzen, um sich um die Kinder und die Familien zu sorgen, die in Gaza leben und keine Hamas-Kämpfer sind. Die Menschen, die sterben. Ich will das nicht entschuldigen. Aber ich glaube, man kann es verstehen: Wenn das eigene Herz voller Angst, Schmerz und Wut ist, dann wird es schwierig, noch Platz zu finden für den Feind. Für den Feind und sein Leiden.

Yair Bunzel

Yair Bunzel ist Fremdenführer, Vater von drei Söhnen und kommt, wie er sagt, aus einer erzzionistischen Familie von ungarischen Holocaust-Überlebenden. Er war Fallschirm­jäger der israelischen Armee, hat als Reserve­offizier den ersten Libanonkrieg bestritten und während der beiden Intifadas gedient. Vor sieben Jahren nahm er teil an einer von Combatants for Peace organisierten Tour ins Westjordanland. Er sei zum ersten Mal ohne Waffe und Uniform Palästinensern in den besetzten Gebieten begegnet. Er habe gespürt, dass sie neugierig auf ihn seien – und er sei selbst neugierig geworden. Seither pflegt er den Kontakt zu Beduinen im nördlichen Jordantal, Menschen, von deren Existenz er bis vor ein paar Jahren gar nichts gewusst habe und die doch nur eine kürzere Autofahrt von seinem Wohnort entfernt lebten.

Auch das Leiden der anderen Seite zu sehen, ist eines der Ziele von Combatants for Peace. Wie ist die Bewegung überhaupt entstanden?
Salman:
Es war ein Zusammen­schluss von Israelis, die in der Armee dienten, und von palästinensischen Widerstands­kämpfern, die Haftstrafen in israelischen Gefängnissen verbüsst hatten. Sie beschlossen, die Waffen niederzulegen und mit vereinten Kräften der Besatzung, der Gewalt und der Unter­drückung entgegenzutreten.

Wann war das?
Bunzel:
2005, 2006 im Kontext der zweiten Intifada. Ausgelöst wurde alles durch Mitglieder von Elite­einheiten der israelischen Armee, die anfingen, den Dienst zu verweigern, weil sie mit der Besatzungs­politik nicht einverstanden waren. Das war ein riesiger Skandal in Israel. Palästinenische Aktivisten, die davon hörten, haben sie in der Folge kontaktiert. So kam es zum ersten Treffen.

Man hat sich einfach mal verabredet?
Salman:
So simpel war das nicht. Das Treffen fand in der Westbank statt, in der C-Besatzungszone in der Nähe von Bethlehem, weil die Palästinenser die Grenze zu Israel nicht hätten passieren können und weil Israelis nur die C-Zone betreten durften. Die Israelis hatten riesige Angst, es handle sich um eine Falle und sie würden umgebracht. Sie hatten in der Westbank gedient, aber es war zum ersten Mal, dass sie sich dort in Zivil und ohne Waffe bewegten. Auch die Palästinenser hatten schwere Bedenken: Es hätte eine Aktion des israelischen Inland­geheimdienstes sein können. Sie fürchteten, dass sie verhaftet würden. Man sollte nicht unterschätzen, wie verteufelt schwierig es für Palästinenserinnen und Israelis sein kann, sich überhaupt nur physisch zu begegnen. Aber dem Treffen folgten noch viele weitere, und daraus entstand Combatants for Peace.

Und seither gibt es diese palästinensisch-israelische NGO?
Bunzel:
Es war ein langer Prozess, Vertrauen, Respekt und gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Es ist auch nicht so, als ob wir uns in allem einig wären. Im Gegenteil: Wir haben immer wieder heraus­fordernde Debatten. Auch nach dem 7. Oktober gab es viele schwierige Gespräche. Aber wir haben ein gemeinsames Fundament, das wir über lange Jahre erarbeitet haben.

Und das selbst in dieser extremen Situation nun tragfähig ist?
Salman:
Viele haben sich gefragt, ob wir den 7. Oktober überleben würden. Ich denke, wir können das überstehen, weil wir seit fast zwanzig Jahren eine Gemeinschaft von Aktivistinnen aufgebaut haben. Und weil wir es geschafft haben, den Schmerz, die Angst und die Wut irgendwie zu zügeln. Ich erinnere mich, wie wir am 9. Oktober das erste gemeinsame Gespräch hatten, über Zoom. Es dauerte mehr als drei Stunden. Und als wir uns wieder physisch treffen konnten und zum ersten Mal wieder ein Seminar anboten in unseren Räumlichkeiten in Tel Aviv, hatten wir mehr als sechzig Teilnehmerinnen. Und neue Mitglieder, die Teil der Bewegung werden wollten.

Das hat Sie überrascht?
Bunzel:
Wir hatten geglaubt, dass die Leute sich nach diesen schrecklichen Ereignissen zurückziehen würden, dass sie mit der anderen Seite nichts mehr zu tun haben wollen. Das Gegenteil war der Fall: Sich einer Gemeinschaft anzuschliessen, wo Israelis und Palästinenserinnen miteinander im Gespräch sind, schien Hoffnung zu geben. Vor gut einem Monat konnten wir zusammen sogar eine Demonstration gegen den Krieg organisieren, in der Westbank, in der Nähe von Jericho. Sie war allerdings klein und wurde von den israelischen Sicherheits­kräften sofort wieder aufgelöst. Ich glaube, es war die kürzeste Demonstration, an der ich je teilgenommen habe.

Wie viele Menschen haben Sie jeweils mobilisiert vor dem 7. Oktober?
Bunzel:
Wir sind eine kleine Bewegung.
Salman: Nein, wir sind nicht klein. Du unterschätzt uns, auch wenn es schwierig ist, genaue Zahlen zu nennen.
Bunzel: Sehen Sie, da sind wir uns schon nicht einig. Wir können schon auch grössere Veranstaltungen machen, wie beispiels­weise das Treffen jedes Jahr zum israelischen remembrance day, an dem etwa 10’000 Leute live und 200’000 Leute online teilgenommen haben. Aber es gibt bekanntere Friedens­organisationen wie zum Beispiel Breaking the Silence, die präsenter sind in Israel als wir. Wir sollten unseren Status nicht überhöhen. Aber mit dem 7. Oktober hat sich etwas geändert.

Was?
Bunzel:
Es wird mehr über die Combatants for Peace geredet. Ich glaube, viele Menschen haben heute ein noch grösseres Bedürfnis, sich um Frieden zu bemühen. Und was uns besonders macht und auch von den vielen anderen Friedens­organisationen unterscheidet: Wir bestehen sowohl aus Israelis als auch aus Palästinenserinnen aus der Westbank. Wir sind wohl die einzige Bewegung, die wirklich binational ist.

Aber ist es nicht gerade heute sehr schwierig, sich für Frieden zu engagieren in Israel? Wirft man Ihnen nicht vor, Sie würden mit dem Feind zusammen­arbeiten?
Bunzel:
Diesen Vorwurf gibt es nicht erst seit dem 7. Oktober. Die Arbeit, die wir machen, war nie einfach, weil wir uns in einem gesellschaftlichen Umfeld bewegen, das uns ablehnt. Aber wir haben auch zwei unterschiedliche Publika. Es gibt einen grossen Unterschied, ob wir uns an die israelische oder die palästinensische Öffentlichkeit richten. Wenn wir in Tel Aviv eine Demonstration organisieren für einen Waffen­stillstand, stösst das auf grosse Sympathie in der Westbank. Wir versuchen Geschichten von Hoffnung und Partnerschaft in den Diskurs zu tragen. Wir möchten vermitteln, dass Frieden möglich ist. Dass wir gemeinsam etwas tun können. Wir stellen nicht in Abrede, dass furchtbare Dinge geschehen, aber wir versuchen uns auf den Effort zu konzentrieren, diese schmerzlichen Realitäten zu verändern. Diese Botschaft wird immer noch gehört.

«Wenn das eigene Herz voller Schmerz ist, dann wird es schwierig, noch Platz zu finden für den Feind.» Salman und Bunzel versuchen es trotzdem.

Aber hat sich unter dem Einfluss des Krieges nicht auch in der Westbank die Stimmung stark verschlechtert? Denken nicht auch da inzwischen immer mehr Palästinenserinnen, dass nur noch der bewaffnete Widerstand bleibt?
Salman:
Es hat in den letzten Wochen auf israelischem Territorium tatsächlich ein paar Terror­anschläge von Palästinensern gegeben, in Jerusalem und anderswo. Aber die Westbank ist relativ ruhig geblieben, obwohl das israelische Militär sehr provokant aufgetreten ist, zum Beispiel in Jenin, und obwohl beispielsweise der Zugang zur Al-Aqsa-Moschee für das erste Freitags­gebet des Ramadan begrenzt wurde, was viele Gläubige sehr frustriert hat. Natürlich kann das alles schnell zu Gewalt­ausbrüchen führen. Aber wir wissen, dass Gewalt nur Gegengewalt hervorruft.

Welchen Einfluss hat der Ramadan auf die Wahrnehmung des Krieges?
Salman:
Wir hatten in Bethlehem schon keine Weihnachten, weil alle Festivitäten abgesagt wurden. Jetzt ist Ramadan, und nein, es ist kein Freudenfest. Gleichzeitig mit dem Ramadan wird die humanitäre Krise im Gazastreifen immer schlimmer. Wir fühlen uns völlig hilflos, als ob wir allein gegen die ganze Welt stehen würden. Der Hunger in Gaza ist menschen­gemacht, er könnte verhindert werden. Kinder sterben an Unter­ernährung. Und der Ramadan ist für die Palästinenser – wie für die ganze muslimische Welt – eine Zeit der Familie und der Gemeinschaft. Man kommt zusammen zum Fasten­brechen und feiert. Man postet Fotos der grossen Fest­mahlzeiten in den sozialen Medien. Doch jetzt herrscht Hunger, und viele Menschen haben ihre Familie verloren. Oder sie sorgen sich um Verwandte, die in Gaza sind und von denen sie keine Nachrichten haben. Kein Mensch teilt heute Bilder von seiner Ramadan-Tafel. Es wäre obszön.

Wie sieht es auf der israelischen Seite aus? Wie erreichen Sie mit Ihrer Botschaft nun die Israelis?
Bunzel:
Es gibt zwei entgegen­gesetzte Kräfte. Die eine arbeitet gegen uns. So haben einige meiner Freunde, die auch als Aktivisten für Combatants for Peace aktiv waren, mich wissen lassen, dass sie ihr Engagement auf Eis legen. Sie sagen: Ich habe meine Meinung überhaupt nicht geändert, wir brauchen Frieden. Aber jetzt ist Krieg. Ich kann heute nicht mit einem T-Shirt rumlaufen, das zum Frieden aufruft, ich kann nicht an Demonstrationen gehen. Wir müssen uns wegducken, abwarten, bis der Tsunami über unsere Köpfe hinweggerollt ist, dann schauen wir, ob irgendetwas übrig bleibt, mit dem wir wieder arbeiten können. Manche Friedens­aktivistinnen haben das Gefühl, dass wir wieder ganz von vorn anfangen müssen.

Weil die Gewalt­eskalation so extrem war?
Bunzel:
Die Eskalation der Gewalt – und das Gefühl der Verwundbarkeit. Manchmal muss ich zurückdenken an 1991, als irakische Raketen niedergingen auf Israel, da gab es auch ganz plötzlich ein neues Gefühl der Verwundbarkeit. Auch während der zweiten Intifada, als es zu den schrecklichen Suizid­attentaten kam, war die Verzweiflung gross. Aber wir sagten uns damals noch: Oslo ist erschüttert, das scheint nicht zu funktionieren, aber irgendwie werden wir es schon hinbekommen. Es gab auf der einen Seite die Palästinensische Autonomie­behörde und auf der anderen Seite die Hamas, und es bestand immer noch die Hoffnung, dass die Autonomie­behörde sich längerfristig durchsetzen würde und eine Lösung möglich wird.

Heute hat die Autonomie­behörde ihre Glaubwürdigkeit verloren?
Bunzel:
Sie wird von den Palästinensern selbst nicht mehr respektiert. Und die Passivität der internationalen Gemeinschaft hat Netanyahu bei der Marginalisierung der Autonomie­behörde natürlich sehr geholfen. Die europäischen Staaten, die Schweiz, die USA, alle diese Länder sind daran gescheitert, die Autonomie­behörde zu einem relevanten Faktor zu machen. Das Ergebnis davon ist, dass viele Israelis nun der Überzeugung sind, die Hamas repräsentiere das ganze palästinensische Volk, was ja schon für die Bevölkerung in Gaza in keiner Weise zutrifft. Und von da ist dann auch der Schritt nicht mehr gross, zu behaupten, die ganz Welt sei antisemitisch und stehe auf der Seite der Hamas, weil es rund um den Globus Demonstrationen gibt gegen Israel. Und weil man immer sagen kann: Der 7. Oktober wird nicht erwähnt. Und selbst wenn, dann wird gesagt: Er wird nicht genug erwähnt. Absurde Anschuldigungen haben heute ungeheure Zugkraft. Insofern kann einem die Situation wirklich hoffnungslos erscheinen.

Aber Sie sagten, es gibt auch eine entgegen­gesetzte Kraft.
Bunzel:
Ja, wie Rana schon ausführte, unsere Seminare sind plötzlich gut besucht, und auch für unsere Aktionen im Jordantal, wo wir potenziell mit Gewalt von Siedlern oder dem Militär konfrontiert werden, gibt es plötzlich dreimal so viele Freiwillige. Es zeigt, wie gespalten die Gesellschaft ist. Auf der einen Seite stehen diejenigen – sicherlich die überwältigende Mehrheit –, die sagen, ich will nichts mehr hören von Frieden. Aber auf der anderen Seite gibt es auch Bürgerinnen, die zum Schluss kommen: Jetzt muss ich etwas tun. Jetzt werde ich Friedens­aktivist.

Nun sagen aber viele Leute, auch aus der Friedens­bewegung in Israel, dass die Zweistaaten­lösung nicht mehr möglich sei, unter anderem, weil es heute viel zu viele Siedlungen gebe im Westjordanland. Was wäre denn jetzt die richtige Strategie?
Bunzel:
Gute Frage, auf die ich auch keine Antwort habe. Eines kann ich Ihnen aber mit Gewissheit sagen: Depression ist keine Strategie. Israel ist in einer tiefen Depression. Es gab den Schock des 7. Oktober, und dass man nun wie wild zurückschlägt, kann ihn nicht heilen. Und schon davor gab es so viele Waffengänge mit der Hamas in Gaza und mit der Hizbollah im Libanon. Aber diese Art des Managens des Konflikts ist nun vorbei. Es funktioniert nicht. Es muss nun definitiv etwas Neues kommen. Für die palästinensische Seite war diese Politik des verwalteten Konflikts natürlich noch viel schlimmer, weil die Palästinenser in einer völligen Perspektiven­losigkeit gefangen sind.

Besteht nicht die Gefahr, dass in den besetzten Gebieten die Hamas immer mehr Sympathien bekommt? Unter dem Motto: Die tun wenigstens etwas?
Salman:
Vereinzelt mag das zutreffen. Ich persönlich glaube jedoch, dass dieser furchtbare Krieg zu einer neuen Chance führt. Die Zweistaaten­lösung, die ja für viele Jahre im Koma gelegen hat, ist wieder auf dem Tisch.

Sie wird jetzt international diskutiert. Aber wird diese Diskussion auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geführt?
Salman:
In Palästina sind die Menschen einfach unglaublich desillusioniert und ermüdet von allem, was geschehen ist. Im Grunde wollen die Leute einfach ihr Leben leben, in Sicherheit und Frieden. Deshalb glaube ich, dass wir jetzt eine grosse Gelegenheit haben, zu handeln, damit sich nicht alles immer wieder von neuem wiederholt. Aber es muss jetzt sehr rasch etwas geschehen, weil sonst in der Westbank die Lage ausser Kontrolle gerät. Die Stimmung ist unglaublich angespannt. Deshalb sollte die internationale Gemeinschaft sich nun unbedingt einschalten, damit wir damit aufhören können, den Konflikt lediglich zu managen, und endlich eine Lösung gefunden wird.
Bunzel: Für beide Seiten ist heute die Sicherheit das zentrale Anliegen. Und auch die israelische Gesellschaft wird zur Einsicht kommen: Man kann nicht mit Nachbarn auf so engem Raum zusammenleben, die unter so schlechten Bedingungen existieren müssen wie heute die Palästinenser. Das funktioniert nicht. Sehen Sie: Auch der Jom-Kippur-Krieg war für Israel ein nationales Trauma, ich bin alt genug, um mich noch an den damaligen Schock zu erinnern. Für viele Israelis ist er bis heute nicht überwunden. Und dennoch hat Jom Kippur schliesslich zu einem Friedens­abkommen mit Ägypten geführt. Es bräuchte aber auf alle Fälle mehr Druck von der internationalen Gemeinschaft, nicht nur von den USA.

Was meinen Sie?
Bunzel:
Deutschland, dem Israel zum Beispiel seine U-Boote abgekauft hat, könnte auch seinen Einfluss geltend machen. Auch die Schweiz könnte sicher viel mehr tun. Die Schweiz müsste sich doch aktiv für einen Waffen­stillstand engagieren. Ihr Land hat doch alle diese grossen Traditionen mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und so weiter. Die Schweiz kommt mir nicht mehr sehr schweizerisch vor. Wo ist jetzt, da das Leiden so unendlich gross ist, die humanitäre Hilfe?

Aber Israel muss sich doch auch aus eigener Kraft bewegen.
Bunzel:
Wir werden hoffentlich noch 2024 Neuwahlen haben, und ich weiss nicht, ob das nur meine Wünsche sind, die hier sprechen, aber ich habe die Hoffnung, dass es dann zu einer Veränderung kommt. Das Problem ist, dass wir jetzt sofort einen Waffen­stillstand benötigen, das kann nicht warten bis zu einem Regierungs­wechsel. Jeder weitere Kriegstag tötet Menschen, tötet die Hoffnung, verkleinert die Chancen, dass wir je zu einer Lösung kommen.

Wie sieht es auf der palästinensischen Seite aus, wer kann da der Partner für Frieden werden?
Salman:
Das wird nicht einfach: Es war die Strategie von Israel, die Hamas zu stärken und die Autonomie­behörde zu schwächen. Zudem sagt die israelische Regierung auch ganz explizit, dass sie keine Zweistaaten­lösung will. Die Palästinenser haben im Augenblick eigentlich gar keine Führung. Zwar versucht sich die Zivil­gesellschaft zu mobilisieren, mit den Medien zu kommunizieren, der Welt zu vermitteln, was in Gaza geschieht. Aber die Autonomie­behörde, die ja die legitime Repräsentantin des palästinensischen Volkes sein sollte, ist weitgehend abwesend. Sie ist so geschwächt, dass sie zum Handeln gar nicht mehr fähig ist. Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die Autonomie­behörde verloren. Sie können irgendeinen jungen Palästinenser in den besetzten Gebieten fragen, und niemand wird Ihnen sagen, dass die Autonomie­behörde die Führung ist. Schon eher werden sie Abu Obaida, den Sprecher des militärischen Arms der Hamas, als Vorbild nennen. Wenn der eine Rede hält, wird er gehört.

Was muss geschehen, damit sich das ändert? Würden Wahlen etwas ändern?
Salman:
Es bräuchte sie unbedingt. Seit achtzehn Jahren haben in Palästina keine Wahlen mehr stattgefunden. Vor ein paar Jahren hätten zwar Wahlen durchgeführt werden sollen, aber weil die Autonomie­behörde sie auch in Ostjerusalem stattfinden lassen wollte …
Bunzel: … und Israel sich dem widersetzte …
Salman: … wurden schliesslich gar keine Wahlen veranstaltet.

Es gibt auch den Vorwurf der Korruption gegen die Autonomie­behörde. Braucht es einen Wechsel, damit die palästinensische Bevölkerung wieder eine Regierung hat, der sie vertraut?
Salman:
Es braucht Reformen und es braucht Wahlen, aber wir müssen anknüpfen an das, was ist. Die Regierung, die wir haben, ist die Autonomie­behörde. Unser Präsident Mahmoud Abbas hat immer an den gewaltlosen Widerstand geglaubt. Er ist gewissermassen das exakte Gegenteil der Hamas. Aber niemand hat ihn unterstützt. Weder Israel noch die internationale Gemeinschaft haben ihn zu einem Partner für eine Friedens­lösung gemacht.

Was ist mit Marwan Barghouti? Es heisst immer wieder, er könnte aus dem Gefängnis entlassen werden und hätte sofort die Autorität, um der neue palästinensische Führer zu sein.
Salman:
Viele Palästinenser glauben, er werde ihr Nelson Mandela.

Glauben Sie das auch?
Salman:
Ich weiss es nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass jemand, der so lange im Gefängnis war, der durch so viel Leid gegangen ist, vermutlich Zeit braucht, um seine Wunden heilen zu lassen. Ich denke, es wäre falsch, so jemanden mit diesem Amt zu belasten. Aber vielleicht täusche ich mich.

Es ist ohnehin fraglich, ob Israel Barghouti freilassen würde.
Bunzel:
Netanyahu bestimmt nicht, aber vielleicht der nächste Premier­minister. Schauen Sie, das zeigt doch, wie fucked-up alles ist – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Es müsste in den besetzten Gebieten doch politische Strukturen und eine Regierung geben. Wie sind wir in eine Situation geraten, in der das palästinensische Volk erst darauf warten muss, ob der Premierminister von Israel jemanden aus dem Gefängnis entlässt, damit es vielleicht wieder eine richtige Regierung bekommt? Dieser Irrsinn muss aufhören.

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