Zerstört von Bulldozern der israelischen Armee: Jenin, ein Flüchtlings­lager im Norden des Westjordan­lands.

Eine Reise auf der Suche nach Hoffnung

Während der Krieg in Gaza tobt, wird auch die Situation im Westjordan­land immer prekärer: Seit Jahren gab es nicht mehr so viel Gewalt, Angriffe und Verhaftungen von Palästinensern. Ist eine friedliche Zukunft noch möglich?

Eine Reportage von Eleonora Vio (Text), Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung) und Gianluca Panella (Bilder), 20.02.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Der Hightech-Checkpoint, der Jerusalem von Bethlehem trennt, ist mehr als eine physische Barriere. Ursprünglich lief hier die Waffen­stillstands­linie von 1949 durch, die sogenannte «Grüne Linie», die Israel von den palästinensischen Gebieten trennte. Während der zweiten Intifada wurde hier die Trennungs­mauer gebaut, weil die Israelis sich vor palästinensischen Angriffen schützen wollten. Heute, nach dem von der Hamas verübten Massaker vom 7. Oktober und dem darauf­folgenden massiven Gegen­angriff Israels im Gazastreifen, scheinen die Motive für den Konflikt so grundlegend zu sein, dass eine friedliche Zukunft schwer vorstellbar ist.

Aber ist sie das wirklich?

Das ist die Frage, die mich auf dieser Reise durch das Westjordan­land begleitet. Sie beginnt am gleichen Ort, an dem ich mich vor vielen Jahren zum ersten Mal in die komplexen Gefilde der nach wie vor ungelösten palästinensischen Frage vorwagte.

Zur Autorin

Eleonora Vio befasst sich als freie Journalistin hauptsächlich mit Radikalismus, Extremismus, sozialen Fragen und der Geschichte der Frauen. Sie lebte und arbeitete 8 Jahre lang in mehreren Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, unter anderem in den palästinensischen Gebieten und in Israel. Sie führte auch Co-Regie bei einem Dokumentarfilm über den Rechts­extremismus in Europa. Vio schreibt für zahlreiche Medien, darunter «Wired», die WOZ und «Annabelle».

Nach dem Checkpoint biegen wir links ab, vor einem roten Schild, auf dem steht: «Diese Strasse führt zum Gebiet A der Palästinensischen Autonomie­behörde. Der Zutritt für israelische Bürger ist verboten.» Gemäss dem 1995 unterzeichneten Abkommen Oslo II wird das Westjordan­land verwaltungs­technisch aufgeteilt:

  • in die Gebiete A (18 Prozent) unter ziviler und sicherheits­politischer Kontrolle der Palästinensischen Autonomie­behörde;

  • B (22 Prozent) unter ziviler palästinensischer Kontrolle und gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheits­kontrolle und

  • C (60 Prozent) unter israelischer ziviler und sicherheits­politischer Kontrolle.

Gedacht war dies als Übergangs­regelung, bei der die Zuständigkeit schrittweise an die Palästinensische Autonomie­behörde übertragen wird. Doch fast 30 Jahre später besteht immer noch die gleiche Aufteilung. Mehr noch: Hundert­tausende von israelischen Siedlerinnen leben gemäss internationalem Recht illegal im Westjordanland und in Ostjerusalem. Seit 1995 ist ihre Zahl von knapp 300’000 auf rund 700’000 angestiegen.

Wer wie wir ein Auto mit gelbem Nummern­schild hat, darf sich sowohl auf den palästinensischen als auch auf den israelischen Strassen bewegen. Das ist ein enormer Vorteil, da die israelischen Behörden nach dem 7. Oktober «schwere und systematische Einschränkungen der Bewegungs­freiheit der Palästinenser» verhängt haben, wie es in einem Uno-Bericht vom 28. Dezember 2023 heisst. Die israelischen Sicherheits­kräfte hätten zudem «fast alle Eingänge zu palästinensischen Dörfern und Städten für Fahrzeuge gesperrt», heisst es weiter, «und palästinensische Städte von den Haupt­strassen abgetrennt, indem sie Schranken geschlossen und Erdwälle oder Beton­sperren errichtet haben». Wenn sich Palästinenserinnen ausserhalb ihrer Heimat­städte bewegen wollen, haben sie zurzeit keine andere Möglichkeit, als dieselben verschlungenen und ungepflasterten Strassen zu benutzen wie vor Jahrzehnten die palästinensischen Hirten.

Auf dem Weg nach Bethlehem wird mir bewusst, dass es 10 Jahre her ist, dass ich zum ersten Mal hierherkam, um dem zu entkommen, was 2014 als der grausamste Krieg in Gaza bezeichnet wurde. Durch das jüngste Blut­vergiessen ist dieser Krieg heute völlig in den Hinter­grund gedrängt worden.

Das Stadtzentrum von Bethlehem hat sich drastisch geleert. Keine der Bars hat überlebt, die ich früher besucht hatte. Nur etwa die Hälfte der Läden und zwei Hotels sind noch in Betrieb. Ich entfliehe der beklemmenden Atmosphäre, indem ich die winzige Tür öffne, die vom Krippen­platz in die Geburts­kirche führt, eine der ältesten Kirchen der Welt. Der Überlieferung nach befindet sich die Kirche über der Grotte, in der Jesus geboren wurde.

Ich treffe Rami Asakrieh, einen in Jordanien geborenen katholischen Priester, der seit mehr als 20 Jahren in Bethlehem tätig ist. Nur 1 bis 2 Prozent der palästinensischen Bevölkerung sind Christinnen, aber von den in Bethlehem lebenden Palästinensern sind es je nach Quelle zwischen 4 und 13 Prozent (2008 waren es noch 28 Prozent). Die Kirche spielt eine zentrale Rolle in der palästinensischen Gesellschaft: Nach den Behörden und der Uno ist sie die dritt­wichtigste Organisation, die den Menschen Bildung und soziale Unter­stützung zukommen lässt. Vielleicht deshalb ist Priester Rami nicht nur ein spiritueller Mann, sondern auch ein erfreulich lebensnaher Mensch.

«Ich teile den Schmerz der Menschen, aber meine Aufgabe ist es, die Menschlichkeit zu stärken»: Rami Asakrieh, Priester in Bethlehem.

«Seit dem 7. Oktober erlebt unsere Gemeinschaft zwei parallele Phänomene», sagt er. «Einerseits wandern immer mehr Menschen ins Ausland aus, weil sie mit der wirtschaftlichen Situation zu kämpfen haben. Andererseits strömen neue Menschen in unsere Kirche, die nach geistlicher Unter­stützung suchen, um die aktuelle Notlage zu ertragen.»

Da die Stadt kein Industrie- oder Handels­zentrum ist und weitgehend vom Tourismus und von Arbeits­plätzen in Jerusalem abhängt (das seit Oktober Palästinenserinnen kaum mehr Arbeits­bewilligungen gibt), sind viele Menschen in Not geraten. «Ich war schockiert, als uns kürzlich einige wohlhabende Männer aus der Gemeinde um Almosen baten», sagt Priester Rami.

Bethlehem unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht vom Rest des Westjordan­lands. Der Wendepunkt in seiner Geschichte war, als die israelische Armee die Geburtskirche im Jahr 2002 während der zweiten Intifada 40 Tage lang belagerte, um die palästinensischen Kämpfer gefangen zu nehmen, die sich in ihr versteckt hatten. Diese stellten sich schliesslich Israel. Das war der Beginn eines neuen Kapitels für Bethlehem.

Wenige Monate später unterzeichneten der israelische Verteidigungs­minister und eine palästinensische Delegation ein Abkommen: Es sah vor, dass Israel seine Streitkräfte aus Bethlehem abzieht und stattdessen palästinensische Sicherheits­kräfte zum Einsatz kommen. Im Zuge dessen mussten die Palästinenser «die Verantwortung für die Beruhigung der Sicherheitslage und die Verringerung von Gewalt und Terror» übernehmen. Militante Gruppen wie die Hamas, der Islamische Jihad und die Volksfront zur Befreiung Palästinas lehnten das kategorisch ab, und viele Palästinenserinnen sehen es noch heute als eine Kapitulation. Doch mit dem Abkommen wandelte sich die Stadt von einer weiteren Bastion des bewaffneten palästinensischen Widerstands in eine heilige und vor allem touristische Stätte.

Die Kirche habe eine Verantwortung, sich für den Frieden einzusetzen – denn wenn sie auf Tragödien aufmerksam mache, höre die Aussenwelt zu, sagt Priester Rami. «Es gibt keinen Grund, immer wieder Gewalt anzuwenden. Ich teile den Schmerz der Menschen, aber meine Aufgabe ist es, die Menschlichkeit zu stärken und all jene zusammen­zubringen, die in Frieden leben wollen.»

Mehr Tote, mehr Verhaftete, mehr Angriffe

Nicht weit vom Stadtzentrum entfernt befindet sich das Flüchtlings­lager Aida. Dort wartet Saed Zboun auf mich, der in dessen Jugend­zentrum Freiwilligen­arbeit als Lehrer leistet. Aida hat den Ruf, weniger problematisch zu sein als andere Flüchtlings­lager im Westjordan­land. Man sagt, das liege daran, dass seine Bewohner hauptsächlich Fatah-Anhängerinnen seien, die den bewaffneten Kampf schon vor langer Zeit aufgegeben haben. Oder liegt es an der Nähe zur Mauer und den wachsamen Augen der israelischen Soldaten, die für Ruhe sorgen sollen? Trotzdem sind die Menschen hier in letzter Zeit Opfer der gleichen repressiven Massnahmen geworden, die auch anderswo angewandt werden.

Das Muster und die Art der aktuellen Verstösse seien vergleichbar mit denjenigen, die in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der israelischen Besetzung des Westjordan­lands gemeldet wurden, sagte der Uno-Hoch­kommissar für Menschen­rechte Volker Türk im Dezember 2023: «Doch eine solche Intensität der Gewalt und Unter­drückung gab es seit Jahren nicht mehr.»

Jenin

Zeita

Tulkarm

Westjordanland

Mittelmeer

Tel Aviv

Jerusalem

Bethlehem

Israel

Totes Meer

Masafer Yatta

Gazastreifen

Jordanien

10 km

Route 60

Jenin

Zeita

Mittelmeer

Tulkarm

Westjordanland

Tel Aviv

Jerusalem

Israel

Bethlehem

Totes Meer

Masafer Yatta

Gazastreifen

Jordanien

Route 60

10 km

Geteiltes Land: Die von Israel kontrollierte Route 60 zieht sich quer durchs Westjordanland.

Die Uno konnte im Westjordan­land zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 29. Januar 2024 den Tod von 367 Palästinenserinnen nachweisen – darunter 94 Kinder. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnung im Jahr 2005. Die israelische Armee ist für die Tötung von mindestens 357 Palästinensern verantwortlich, Siedler töteten 8, und 2 wurden entweder von der Armee oder von Siedlern getötet. Mehr als 4700 Palästinenserinnen wurden verhaftet. Gemäss dem Uno-Bericht gab es zudem massiv mehr Luftangriffe sowie Angriffe von gepanzerten Kampf­fahrzeugen und Bulldozern auf Flüchtlings­lager und andere dicht besiedelte Gebiete im Westjordan­land, was zu Toten, Verletzten und «erheblichen Schäden an zivilen Objekten und der Infra­struktur führte».

Im Flüchtlings­lager Aida tötete die israelische Armee in diesem Zeitraum einen 17-jährigen Jungen und verhaftete 56 Personen, darunter 9 Minder­jährige und 3 Frauen. Die Zahlen werden vom Jugend­zentrum erfasst, wie Saed Zboun sagt. Das Zentrum, das die Jugendlichen durch Bildung dazu befähigen soll, Verantwortung in ihrer Gemeinschaft zu übernehmen, hat ebenfalls einen hohen Preis gezahlt. Sowohl der Vorstand als auch der Geschäfts­führer wurden verhaftet und in Administrativ­haft genommen, was bedeutet, dass sie auf unbestimmte Zeit ohne Gerichts­verfahren festgehalten werden können, ohne eine Straftat begangen zu haben.

Diese Praxis ist im palästinensischen Kontext nicht ungewöhnlich. Nach Angaben der israelischen Menschenrechts­organisation Hamoked befanden sich vor dem 7. Oktober 1200 Palästinenser in Administrativ­haft. Anfang Januar waren es bereits 3291 von insgesamt 8600 inhaftierten Palästinenserinnen. Die israelische Armee argumentiert, dass Administrativ­haft nur angewendet werde, wenn «eine Person eine echte Gefahr für die Sicherheit in der Region darstellt». Doch gemäss der israelischen Nichtregierungs­organisation B’Tselem ist Administrativ­haft nicht nur «illegal» und «unmoralisch», sondern auch ein «Mittel zur Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung».

Als ich einen Rundgang durch das neu renovierte Zentrum mache, sagt Lehrer Saed Zboun zu mir: «Wir haben immer an den gewaltlosen Widerstand geglaubt, aber ich habe die Hoffnung verloren. Ich gehöre zu den Kindern, die hier im Camp geboren wurden und grosse Ambitionen hatten. Ich habe einen Abschluss in Literatur- und Sprach­wissenschaften und träume immer noch davon, eines Tages Universitäts­professor zu werden. In der Zwischen­zeit habe ich angefangen, hier zu unterrichten. Mein Lieblings­thema war immer die Zeit der Aufklärung, weil ich über Gerechtigkeit sprechen konnte und über die Freiheit des Denkens.» Er macht eine Pause. «Aber ich musste diesen Kurs streichen. Es ist sinnlos. Wir werden ausgelöscht … Auch wenn die Israelis wissen, dass unser Zentrum eine wichtige Anlaufstelle für die Menschen hier im Lager ist, denen es an Dienst­leistungen und Möglichkeiten mangelt, tun sie alles, um uns zu behindern.»

«Sie sollen keinen Vorwand finden, uns zu vertreiben»

Im Flüchtlingslager Dheisheh, ebenfalls in Bethlehem, lerne ich Suad al-Khmour kennen, deren jüngster Sohn bei einer nächtlichen Razzia Anfang 2023 von der Armee getötet wurde, während ihre älteren Söhne vor kurzem ebenfalls bei einer Razzia verhaftet wurden. Im Haus hängen riesige Poster der drei Söhne, versehen mit dem Logo der «Volksfront zur Befreiung Palästinas» (PFLP).

Suad al-Khmour bleiben nur Trauer und Erinnerung: Ihr jüngster Sohn wurde bei einer Razzia im Flüchtlingscamp Dheisheh durch die israelische Armee getötet.

Bilder von George Habash, dem Gründer der PFLP, hängen in vielen Ecken des Flüchtlings­lagers. Doch die Partei hat den grössten Teil ihrer Macht verloren, seit sich Hamas und Fatah bei den Wahlen von 2006 durchgesetzt haben, den letzten, die abgehalten wurden. Die PFLP, bekannt für ihre bewaffneten Flugzeug­entführungen in den 1960er- und 1970er-Jahren und von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft, setzt mittlerweile nicht mehr auf Selbstmord­attentate und trat in den letzten Jahren generell weniger in Erscheinung. Sie bleibt aber radikal in ihrer Haltung, anerkennt den Staat Israel nicht und tritt für eine Einstaaten­lösung ein.

«Dass die Jugendlichen ständig mit der Armee konfrontiert sind, hat auf sie einen stärkeren Einfluss als das, was sie in der Schule lernen», sagt Naji Owda, der Direktor des Jugend­zentrums im Flüchtlings­lager. «Wenn sie mich fragen: ‹Warum leben wir so ein beschissenes Leben?›, habe ich keine Antwort.»

Militante Gruppen wie der «Islamische Jihad in Palästina» und die Hamas konnten in den vergangenen Jahren kaum ins Westjordan­land eindringen. Das hat auch damit zu tun, dass die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomie­behörde die Bevölkerung fest im Griff hat. Doch seit 2022 nimmt die politische Gewalt wieder stark zu: Es gibt mehr Siedler­gewalt, mehr Einsätze der israelischen Armee, und nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten sind auch die bewaffneten palästinensischen Gruppen im Westjordan­land wieder aufgetaucht. So unterstützen der «Islamische Jihad in Palästina» und die Hamas die Gründung neuer lokaler Gruppen und bewaffneten sogar Fatah- und PFLP-nahe Kämpfer.

Nach dem 7. Oktober hat sich das Leben der Menschen im Flüchtlings­lager Dheisheh weiter verschlechtert. Vielen erschienen deshalb die Hamas oder andere bewaffnete Gruppen als einziger Ausweg, sagt Naji Owda – weil sie sich an den festen Glauben klammerten, dass nur der bewaffnete Kampf sie vor ihrem hoffnungs­losen Schicksal retten könne. «Der Westen sollte verstehen, dass Hamas keine Person ist», sagt Owda, «sondern eine Ideologie.»

«Wenn die Jugendlichen mich fragen: ‹Warum leben wir so ein beschissenes Leben?›, habe ich keine Antwort»: Naji Owda, Direktor des Jugendzentrums im Flüchtlings­lager Dheisheh.
Blick auf Jenin.

Während Bethlehem gemäss Oslo II zum Gebiet A und somit zum Kerngebiet der Palästinensischen Autonomie­behörde gehört, ist die Situation im Gebiet C nochmals komplett anders, das unter vollständiger administrativer und militärischer Kontrolle Israels steht. Hier leben rund 450’000 israelische Siedlerinnen in 146 Siedlungen und über 144 Aussenposten (wenn man Ostjerusalem dazuzählt, sind es 700’000 Siedler). Siedlungen sind von der israelischen Regierung genehmigt, Aussenposten nicht. Beide sind jedoch gemäss internationalem Recht illegal: Die Uno-General­versammlung, der Uno-Sicherheits­rat und der Internationale Gerichtshof haben alle bestätigt, dass sie gegen die vierte Genfer Konvention verstossen.

Anders sieht das die Regierung Netanyahu: Deren radikalste Vertreter, wie Finanz­minister Bezalel Smotrich und der rechts­extreme Sicherheits­minister Itamar Ben-Gvir, leben in massiv umzäunten Wohn­sitzen im West­jordanland, während die Situation für Palästinenser immer prekärer wird. Seit Anfang Oktober 2023 wurden 15 Gemeinden ganz oder teilweise zwangs­umgesiedelt, wovon bis zu 828 Menschen betroffen sind.

Am 13. Oktober, knapp eine Woche nach den Hamas-Angriffen, ging Zakaria al-Adra zum Gebet in seiner Gemeinde. Als er die Moschee verliess, sah er eine Drohne über seinem Kopf schwirren und zwei Siedler und einen Soldaten, die aus der nahe gelegenen Siedlung Ma’on auf ihn zustürmten. Adra hatte kaum Zeit zu begreifen, was geschah, als er von einem Gewehr­kolben am Kopf getroffen wurde. Als er das Gewehr instinktiv wegstiess, wurde er angeschossen. «Ich spürte Feuer in mir», sagt er, vier Tage nachdem er aus dem Spital entlassen worden war, wo er drei Monate verbracht hatte. Das Geschoss hatte seinen Magen, den Dickdarm, die Bauchspeichel­drüse und die Milz zerrissen. In den kommenden Monaten stehen weitere Operationen an, ob er je wieder ein normales Leben führen kann, ist unklar.

Zakaria al-Adras Familie war nach der Nakba nach At-Tuwani gezogen, eines der 19 Dörfer, die das als Masafer Yatta bekannte Gebiet im Süden des Westjordan­lands bilden, und hat im Laufe der Jahre viele Angriffe erlebt. «Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir mit Steinen angegriffen werden, dass unsere Häuser zerstört werden und dass wir beschimpft werden, wenn wir versuchen, unsere Weiden und Felder zu betreten», sagt er. «Aber die Siedler haben nie Waffen gegen uns eingesetzt.»

Ob er jemals wieder ein normales Leben führen kann, ist völlig unsicher: Zakaria al-Adra erlitt bei einem Angriff von israelischen Siedlern und einem Soldaten schwere Verletzungen.
Hafez Hurani, der Onkel von Zakaria al-Adra, in seinem Haus in At-Tuwani in der Region Masafer Yatta.
Ein Haus in Jenin, nachdem es von israelischen Soldaten gestürmt wurde.

Wie die Uno berichtet, ist in den Wochen nach dem 7. Oktober die Zahl der Angriffe sprunghaft angestiegen: Während es zuvor durchschnittlich drei Vorfälle pro Tag waren, sind es heute sechs – darunter Angriffe mit Schuss­waffen sowie Brand­anschläge auf Häuser und Fahrzeuge.

Seit die israelische Armee Zakaria al-Adras Wohngebiet Masafer Yatta Anfang der 1980er-Jahre zur Sperrzone erklärte und zunehmenden Druck auf die Bewohner auszuüben begann, das Gebiet zu verlassen, leisten diese friedlichen Widerstand. Was hat sich geändert, jetzt, wo die Gewalt so stark zugenommen hat? «Das Hauptziel der Siedler ist es, so viel palästinensisches Land wie möglich zu stehlen, und der Gazakrieg ist ein guter Vorwand dafür», antwortet Zakaria al-Adras Onkel Hafez. Zwar hätten diejenigen, die unter Besetzung lebten, das Recht, sich zu wehren, sagt er, doch: «Wenn wir uns für Gewalt entscheiden, geben wir den Siedlern einen Grund, noch mehr Gewalt gegen uns anzuwenden. Sie haben die Macht dazu.» Sein pragmatischer Ansatz lässt in diesen düsteren Zeiten etwas Hoffnung aufkommen: «Wir wollen nicht, dass sie einen Vorwand finden, um uns zu vertreiben, und unsere Strategie funktioniert. Nach all den Jahren sind wir Palästinenser immer noch da.»

Als wären sie eins

Als wir im Auto auf dem Weg zurück in den Norden sind, erfahren wir, dass der 19-jährige Khaled Zubaidi soeben in Zeita getötet wurde, einem Dorf in der Nähe von Tulkarm. Am folgenden Tag findet die Beerdigung statt. Obwohl wir sehr früh losfahren, kommen wir wegen der vielen Strassen­sperren erst an, als das Gebet bereits begonnen hat. Die Menschen sind in Massen erschienen. Da Frauen keinen Zutritt zur Moschee haben, nutze ich die Zeit, um im Gespräch mit seinem Cousin und einigen seiner Freunde die Umstände von Khaled Zubaidis Tod zu rekonstruieren.

Es war 20.30 Uhr am 13. Januar, als Zubaidi, ein Universitäts­student, gerade seine Arbeits­schicht in einem Café beendet hatte. Er unterhielt sich draussen mit Freunden, als die israelische Armee innerhalb von Sekunden das Gebiet stürmte. In einem Video, das später zirkulierte, sieht man, wie die jungen Männer ausgezogen und verprügelt werden. Dann ist ein Schuss zu hören und Zubaidi fällt zu Boden. Die Soldaten verschwinden, aber die Ambulanz trifft erst eine halbe Stunde später ein, da sie nicht durch die militärische Absperrung durchgelassen wurde. Als die Ambulanz mit dem Verletzten schliesslich das Spital erreicht, ist es bereits zu spät.

Die Menschen beginnen die Moschee zu verlassen, der tote Körper wird hoch­gehoben und weiter­gereicht. Maskierte junge Männer mit Gewehren über den Schultern gesellen sich zu den anderen Trauernden. Sie marschieren kompakt, als wären sie eins. Palästinensische Fahnen wehen neben denen der Al-Aqsa-Märtyrer­brigaden (des bewaffneten Zweigs der Fatah), der Hamas, des Islamischen Jihad. «Gebt uns eine Chance, frei zu sein», schreit mir Sayd Abulaiz ins Ohr, ein Bauer um die 60. «Unsere einzige Chance, zu überleben, ist, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen!»

Trauer, Zorn, Verzweiflung: Die Beerdigung von Khaled Zubaidi in Tulkarm.
Khaled Zubaidi, 19 Jahre, unterhielt sich mit Freunden vor einem Café, israelische Soldaten stürmen heran, dann fällt ein Schuss.

Dass viele Menschen wie er so denken, hat auch damit zu tun, dass es seit dem 7. Oktober für Bauern aufgrund der häufigen israelischen Militär­angriffe immer gefährlicher geworden ist, ihre Felder zu bewirtschaften. Dies und das Ausbleiben einer politischen Lösung sowie die zunehmende illegale Landnahme der Siedler machen viele Menschen verzweifelt und empfänglicher dafür, gewalt­tätige Gruppen zu unterstützen.

Als wir den Friedhof erreichen, werden die Leute still. Es ist Zeit für die Familie, in Ruhe zu trauern. Nachdem die Leiche auf den Boden gelegt und mit Erde bedeckt wurde, ziehen sich die Menschen langsam zurück. Die Mutter und die Schwestern des Toten können sich kaum zu ihrem Auto schleppen, der Vater muss sie festhalten.

Eine Alternative zur Gewalt

In derselben Nacht stürmt die israelische Armee das Flüchtlings­lager Jenin. Im Hotel Cinema, eine 5-Sterne-Unterkunft, die auch in London, Paris oder Tokio stehen könnte, lässt sich ein guter strategischer Überblick über das verschaffen, was zum Symbol des bewaffneten palästinensischen Wider­stands geworden ist. «Ich wusste, dass es passieren würde», sagt Shada, eine lokale Reporterin, als wir uns in der Lobby über den Weg laufen, während die Sirenen heulen, die die Präsenz der israelischen Armee in der Stadt ankündigen. Wir beobachten das Ganze via die Überwachungs­kameras des Hotels, hören das Donnern der Granat­werfer und die Schüsse.

Am nächsten Morgen schauen wir uns die Spuren an. Ich war schon mehrmals im Flüchtlings­lager in Jenin, und meine besten Erinnerungen sind diejenigen an das Freedom Theatre. Inspiriert wurde es von einer klugen israelischen Frau, Arna Mer, einer Schauspielerin, die einen christlichen Palästinenser geheiratet und einen ausser­gewöhnlichen Sohn zur Welt gebracht hatte, Juliano Mer-Khamis. Der Schauspieler, Regisseur und Friedens­aktivist gründete das Freedom Theatre und widmete sein Leben der Aufgabe, den Jugendlichen des Camps eine Alternative zur Gewalt zu bieten – bis er 2011 vor seinem Theater erschossen wurde. Der Mord wurde nie aufgeklärt.

Klar ist aber, dass das Freedom Theatre viele erzürnt hatte: sowohl rechte Israelis, die empört waren, dass Mer-Khamis sich als «100 Prozent Palästinenser und 100 Prozent Jude» bezeichnete, als auch islamische Fundamentalisten, die sich ärgerten, weil er sich für die Rechte von Frauen einsetzte und junge Männer und Frauen gemeinsam auf der Bühne auftreten liess.

Seit seiner Gründung 2006 ist es das Ziel des Freedom Theatre, Tabus zu brechen: Es befasste sich mit Korruption, Tradition, dem Kampf für die Selbst­bestimmung Palästinas, mit Geschlechter­rollen und individueller Freiheit.

Am Tag meines Besuchs hat das Theater seine Pforten geschlossen, da sein Leiter nach dem 7. Oktober verhaftet und unter Administrativ­haft gestellt und das Haus mehrmals gestürmt wurde. Die Projekte des Theaters werden jedoch fortgesetzt, wenn es die Umstände zulassen, im Lager, sonst halt ausserhalb, im Stadt­zentrum von Jenin, wo junge Freiwillige traumatisierten Kindern trotz aller Schwierigkeiten weiterhin einen Raum bieten, um sich zu entfalten.

Als ich an dem ikonischen Theater­eingang vorbeigehe, versuche ich mich daran zu erinnern, wo der Onkel von Zakaria Zubeidy lebt, dem Co-Gründer des Theaters. Überall im Lager hängen noch die gleichen Bilder von Hunderten von jungen Kämpfern, die in Kampf­anzügen posieren, aber Menschen sind kaum zu sehen. Die meisten sind in der vergangenen Nacht vor der Armee geflohen und noch nicht zurückgekehrt.

Am Morgen nach einer Razzia der israelischen Armee: Shisha-Raucher in Jenin.
Das Freedom Theatre nach einer Attacke der israelischen Armee.
«Die Jugend will kämpfen, sie glaubt nicht mehr an die Verhandlungen»: Jamal Zubeidy in seiner Wohnung in Jenin.

Dort, wo vorher gepflasterte Strassen waren, sind nun Krater, die sich durch den starken Regen mit Wasser gefüllt haben. Ich versuche gerade, das Gleich­gewicht auf einem schlammigen Hügel zu halten, um einen Blick auf die letzten zerbombten Häuser zu werfen, da höre ich ein Kichern. Inmitten der Trümmer rauchen ein paar Buben Shisha: «Brauchst du Hilfe?», fragen sie. Dann begleiten sie mich zum Haus von Jamal Zubeidy.

Sein Wohnzimmer sieht aus wie ein Mausoleum. Es ist leer, abgesehen von den Postern, auf denen die Kämpfer der Familie zu sehen sind: Die meisten von ihnen sind im Gefängnis oder tot. In der Mitte hängt ein Schwarz-Weiss-Porträt von Jamal Zubeidy selbst aus den Tagen der Schlacht von Jenin. «Was Sie hier sehen», sagt er, «ist die Fortsetzung eines Kampfes, der vor langer Zeit begann. Unsere Generation von Kämpfern hat die neuen Kämpfer hervor­gebracht, die heute kämpfen.»

Der prägendste Moment für die Palästinenserinnen im Flüchtlings­lager Jenin war im Jahr 2002, als die israelische Armee nach einer Reihe von palästinensischen Selbstmord­attentaten auf israelischem Gebiet eine massive Invasion startete. Mehr als 50 Palästinenser und 23 israelische Soldaten wurden bei den Kämpfen getötet. Das Militär zerstörte ausserdem rund 400 Häuser, und mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Camps wurde obdachlos. Mehr als 20 Jahre später sind die Auswirkungen immer noch zu spüren.

Zwar haben Jamal Zubeidy und viele andere seiner Generation ihre Waffen mittlerweile abgelegt, doch die jüngere Generation hat übernommen. «Was dem Camp angetan wurde, hat sie geprägt – die Zerstörung, das Blut, die Gewalt», sagt Zubeidy, während er pausenlos raucht. «Und heute sehen sie, wie das Gleiche noch einmal passiert.» Bei den Bewohnern des Flüchtlings­lagers komme viel zusammen: die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die düstere politische Perspektive und die häufigen israelischen Militär­angriffe, die in den letzten Monaten immer tödlicher geworden seien. «Was erwarten Sie da?», murmelt er, während er sich eine weitere Zigarette ansteckt und dabei vergisst, dass er sich gerade eine angezündet hat. «Die Jugend will kämpfen, sie glaubt nicht mehr an die Verhandlungen.»

Die jungen Menschen im Westjordanland kennen nichts anderes als die israelische Militär­besetzung und eine zunehmend autoritäre palästinensische Regierung, die seit 18 Jahren keine demokratischen Wahlen mehr abgehalten hat. Sie durften nie wählen und können die Hoffnung der Generation ihrer Eltern auf einen Friedens­prozess kaum mehr nachvollziehen.

In den Wochen vor dem Anschlag vom 7. Oktober befürworteten gemäss einer Umfrage noch 24 Prozent der Palästinenserinnen im Westjordanland, im Gaza­streifen und in Ost­jerusalem die Idee eines palästinensischen Staates, der neben Israel existiert; 2012 waren es noch 59 Prozent gewesen. Wenig überraschend sind die jungen Palästinenser – die 69 Prozent der Bevölkerung ausmachen – deutlich weniger enthusiastisch: Nur jede sechste Palästinenserin zwischen 15 und 25 Jahren spricht sich für eine Zwei­staaten­lösung aus, verglichen mit jeder dritten im Alter von 46 Jahren und älter.

«Alle Palästinenser, hier im Camp und darüber hinaus, verbindet der gleiche Schmerz», sagt Jamal Zubeidy. «Der Krieg in Jenin begann vor langer Zeit, vor dem Krieg in Gaza, aber wann immer jemand in Rafah weint, hört man auch hier jemanden weinen.»

Ein Hoffnungs­schimmer

Die Fahrt von Jenin zum Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv dauert statt der üblichen zwei Stunden fünf Stunden wegen der vielen Strassen­sperren, die uns immer wieder zwingen, umzukehren und noch einmal von vorne anzufangen. So habe ich viel Zeit, meine Gedanken zu sammeln.

Während der Krieg im Gazastreifen immer noch tobt und alle Menschen erschüttert, und während die Gewalt im Westjordanland von Tag zu Tag zunimmt, fällt es schwer, Raum für Hoffnung und Optimismus zu finden. Dennoch denke ich an die Worte von Priester Rami: «Krieg kann nicht der einzige Weg sein.»

Menschen wie er sorgen in dieser düsteren Zeit für einen Hoffnungs­schimmer, aber auch Saed Zboun, der Lehrer im Jugend­zentrum, Zakaria al-Adra, der trotz schwerer Verletzungen für friedlichen Widerstand plädiert, und die Initianten des Freedom Theatre.

Sie erinnern uns daran, dass wir darüber nachdenken sollten, was uns als Menschen verbindet.

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