«Nie wieder ist jetzt»: Mehr als 1000 Menschen waren auf der Strasse bei der Anti-AfD-Demonstration in Gotha, Thüringen (Februar 2024). Ingmar Björn Nolting/laif

«Die AfD eine Partei der Ostdeutschen? Eben nicht!»

Deutschland fürchtet den Rechtsruck und schaut dabei vor allem auf die Bundesländer, die früher zur DDR gehörten. Autorin Susan Arndt interveniert: Ganz Deutschland habe ein eklatantes Problem.

Ein Interview von Karen Merkel, 20.03.2024

Vorgelesen von Egon Fässler
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Seit Anfang Jahr haben Hundert­tausende in Deutschland demonstriert, um zu sagen: Wir wollen keine AfD. Dennoch ist die Zustimmung zur rechts­extremen Partei gross, besonders in Ostdeutschland. Beobachterinnen blicken mit heftiger Sorge auf die Landtags­wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September. Wahl­prognosen lassen befürchten, dass die Partei in diesen drei ostdeutschen Bundesländern bis zu 35 Prozent der Wähler­stimmen holen wird. Damit könnte sie dort stärkste Partei werden.

Auch die Autorin Susan Arndt ist erschüttert über das Wähler­potenzial der AfD. Dennoch widerspricht sie, selbst Ostdeutsche, entschieden der Wahrnehmung, die AfD sei vor allem ein ostdeutsches Phänomen.

Frau Arndt, Sie als Ostdeutsche haben Ihre Herkunft lange nicht gross zum Thema gemacht. Jetzt haben Sie gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Was hat sich verändert?
Für mich stand lange im Vordergrund, meine Privilegien als Wissenschaftlerin einzusetzen, um das Bewusstsein gegenüber Rassismus und Sexismus zu vertiefen. Als dann immer stärker öffentlich davon die Rede war, dass Deutschland kein Rassismus­problem habe, sondern nur Ostdeutschland, hat sich das mit meinen Themen vermengt. In der Zeit von 2015 bis 2017, also um die Zeit der Flüchtlings­debatte in Deutschland, habe ich gemerkt, dass etwas schieflief. Ich hatte mich seit mehr als 17 Jahren mit Rassismus in Deutschland beschäftigt. Und plötzlich ging es wieder laut um «das Volk» im völkischen Sinne. Dazu tauchte überall die Erzählung auf, allein die Ostdeutschen seien rassistisch. Und immer stärker wurde gleichgesetzt: Die AfD, das ist eine Partei der Ostdeutschen. Das hat mich auch deswegen empört, weil es am Kern dessen, wo wir Rassismus anpacken müssen, völlig vorbeiging.

Zur Person

zVg

Susan Arndt lehrt Englische Literaturwissenschaft und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth. Ihr Fokus liegt auf transkultureller Anglistik und der kulturwissenschaftlichen Forschung zu Sexismus, Intersektionalität, Feminismus und Rassismus.

Susan Arndt: «Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention». C. H. Beck, München 2024. 175 Seiten, ca. 26 Franken.

Inwiefern?
Die politischen Entwicklungen in Ostdeutschland werden oft so begründet: «Die Ostdeutschen sind ökonomisch abgehängt, sie sind politik­verdrossen.» Das sind aber keine Gründe, warum Menschen rassistisch sind. Das sind Gründe, die der Populismus instrumentalisiert, um die Leute in Rage zu bringen und Zuspruch zu gewinnen. Und um vom eigenen Rassismus abzulenken. Die AfD hat sich selbst als Stimme der Ostdeutschen geriert, und im medialen Diskurs stand die Zustimmung zur AfD in Ostdeutschland im Vordergrund. Da habe ich verstanden, dass es wichtig ist, hier mehr Differenzierung hineinzubringen. Rassismus und das Wähler­potenzial der AfD werden zu sehr als auf Ostdeutschland begrenzt betrachtet.

Die AfD inszeniert sich oft als Partei der Ostdeutschen. Inwiefern nützt ihr das?
Es ist richtig, die AfD setzt sich oft in Szene als die einzige Partei, die sich für die Ostdeutschen einsetzt und sie wirklich versteht. Sie zielt darauf ab, die Wahl der AfD zum Ausdruck der ostdeutschen Identität zu machen. Damit erweitert die AfD die Stamm­wählerschaft. Zugleich gräbt sie einen neuen Graben. Der Westen, der über den Osten schmunzelt, fühlt sich erhaben – und das erhöht den Frust in Ostdeutschland. Das bringt im Osten neue Wählerinnen, und im Westen kann sich der wachsende Zuspruch nach rechts immer hinter dem Argument verstecken, nicht so schlimm wie der Osten zu sein.

Im Regen: AfD-Anhängerinnen hören Alice Weidel bei der Veranstaltung in Gütersloh, Nordrhein-Westfalen (August 2017). Hannes Jung/laif

Inwieweit ist die AfD denn eine Partei der Ostdeutschen?
Das ist sie eben nicht. Partei­mitgründerin Frauke Petry kommt aus Dresden, sie trat aber 2017 aus der Partei aus. Von den aktuellen Spitzen­politikerinnen der AfD stammen Maximilian Krah und Tino Chrupalla aus dem Osten, sie wurden in der DDR sozialisiert. Andere führende Köpfe wie Alexander Gauland und Alice Weidel sind Westdeutsche. Björn Höcke beruft sich gern auf seine Grosseltern, um sich «ost-preussisch» zu nennen, wurde allerdings im nordrhein-westfälischen Lünen geboren. Und noch eines …

Ja?
Auch auf der Ebene der zahlenden Mitglieder ist die AfD nicht ostdeutsch. Die Mehrheit der Mitglieder sind Westdeutsche.

Allerdings lag der Wähleranteil für die AfD in Ostdeutschland deutlich höher und legt weiter zu. Warum ist die Bereitschaft im Osten grösser, für die AfD zu stimmen?
Der Zuspruch für die AfD ist tatsächlich in den ostdeutschen Bundesländern besonders stark. Zum einen spielt dabei eine Rolle, dass Ostdeutsche sich als «Andere Deutsche» ausgegrenzt sehen und deswegen zu dem leider tradierten Prinzip der Entsolidarisierung greifen: nach unten treten, solange es geht. Zudem ist es wichtig, eine der zentralen Ursachen dafür zu verstehen: den Einfluss ostdeutscher Sozialisations­muster. Zum Beispiel fehlte der DDR die Auseinandersetzung mit Rassismus. Im Kinder­garten habe ich gelernt, dass ich nicht rassistisch sei. Es hiess, der böse Imperialismus im Westen sei rassistisch. Wir sind automatisch die Guten. Ich habe noch zu DDR-Zeiten mal versucht, Rassismus gegenüber Gastarbeitern aus Mosambik anzuzeigen, den ich beobachtet hatte. Die Polizei antwortete: «Das können Sie nicht anzeigen, wir haben keinen Rassismus in der DDR.»

Rassismus war also tabuisiert.
Auch über Sexismus zu sprechen, war verboten. Man stützte sich darauf, dass Frauen in der DDR meistens erwerbstätig waren, und beschloss: Damit waren Frauen gleichberechtigt. Dass sie zum Beispiel nach wie vor den Haushalt meistens allein führten, blieb dabei ausgeblendet. Im Gegenteil, sich feministisch zu organisieren, hätte bedeutet, sich gegen den Staat zu wenden. Ostdeutsche haben Reflexions­prozesse über Rassismus und Sexismus darum nicht gelernt. Das Nachwirken dieser Prägungen ist ein Pfund, mit dem die AfD punkten kann. Es wäre trotzdem falsch, daraus einen ostdeutschen Sonderweg abzuleiten.

Wir sprechen ja auch immerhin 35 Jahre nach dem Mauerfall miteinander. In diesen Jahrzehnten hat ein erheblicher demokratischer Lernprozess stattgefunden.
Wir sind an einem ganz anderen Punkt als 1989 oder auch noch in den Neunziger­jahren. Die Generationen, die im vereinten Deutschland geboren wurden, wurden ja schon ganz anders sozialisiert. Ausserdem, und das ist sehr wichtig: Wer sich nach dem Mauerfall auf die Reise machen wollte, der konnte das. Und das haben eben auch die allermeisten getan. Denn es ist wichtig, festzuhalten: Knapp 70 Prozent der Ostdeutschen wählen nicht die AfD.

Vier Jahre nach dem Mauerfall: Eine vietnamesische Frau im Jahr 1993 mit ihrem Kind im Ostberliner Stadtteil Marzahn. Fast 70’000 Menschen aus Vietnam hatten in der DDR gearbeitet, nach der Wiedervereinigung verloren sie wegen des ungeklärten Aufenthalts­status ihren Job. Ann-Christine Jansson/SZ Photo/Keystone
«Ausland den Ausländern»: Dieses Wohnheim in Hoyerswerda, Sachsen, war 1991 brutalen Angriffen von Neonazis ausgesetzt. Sie warfen gegen die Bewohner, die mehrheitlich nicht aus Deutschland kamen, Molotow­cocktails und Steine. Ann-Christine Jansson/SZ Photo/Keystone

Ihnen ist wichtig, diesen Punkt bewusst zu machen: Die AfD ist ein gesamt­deutsches Phänomen. Was meinen Sie damit?
Auch wenn mehr Ost- als Westdeutsche die AfD wählen, heisst das nicht, dass West­deutschland kein AfD-Problem hätte. Das bundesweite Potenzial der AfD beträgt derzeit immerhin 17 Prozent. Lange hat sie in den Umfragen zugelegt, aktuell ist dieser Trend leicht gedämpft. Wichtig ist, wir dürfen die Affinität der Westdeutschen für die AfD nicht kleinreden, indem wir nur auf den Osten schauen. Es gibt insgesamt einen eklatanten Rechtsruck, der sich etwa auch bei der letzten Landtagswahl in Bayern zeigte.

Wie empfinden Sie denn den Blick auf den Osten?
Ich schäme mich dafür, dass ein Drittel der Ostdeutschen hinter der AfD steht. Doch diese Minderheit wird oft als repräsentativ für die gesamte Bevölkerung in Ostdeutschland wahrgenommen. Das ist absurd. Fast alle Ostdeutschen, die ich kenne, sind offen gegen die AfD. Und doch würde es mir schwerfallen, zu sagen, dass ich stolz bin, Ostdeutsche zu sein. Denn in diesen Tagen klänge es nach AfD-Zuspruch.

Es fällt tatsächlich nicht ganz leicht, sich innerlich von dem Bild der breiten Unterstützung für die AfD im Osten zu lösen. Wie würden Sie stattdessen die Mehrheit der Gesellschaft in Ostdeutschland beschreiben?
Zum einen, jeder, der wollte, konnte die Rassismusdebatte nachholen, die in der DDR gefehlt hatte. Dafür hatte jede Ostdeutsche mittlerweile genügend Raum und Zeit. Dabei fällt auch ins Gewicht, dass wir in Ostdeutschland eine Revolution gestemmt haben. Das war nicht ungefährlich. Und es war eine einschneidende Erfahrung, zu sehen, dass Protest eben doch Mauern einstürzen kann. Zum Zweiten sprechen wir hier über die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West. Wir können hier, mit Blick auf Gesamt­deutschland, fragen: Was macht die Mitte der Gesellschaft aus? Es ist viel passiert in den vergangenen Jahrzehnten, die Gesellschaft ist über weite Teile doch zusammen­gewachsen. Es ist eben auch kein spezifisch ostdeutscher Weg, sich gegen die AfD zu stellen. Wenn es ein Kriterium gibt, warum Ostdeutsche im Besonderen gegen die AfD sind, dann eben in dieser umgekehrten Logik: Ich habe Diskriminierung erfahren als Ostdeutsche, also bin ich genau deswegen solidarisch.

Ihre ostdeutschen Wurzeln sind eigentlich die einer Kritikerin. Sie waren Teil der oppositionellen Bürger­bewegung gegen das DDR-Regime.
Kurz vor der Wende habe ich mich der Bürgerbewegung in Berlin angeschlossen, wo ich damals lebte. Das stimmt. Ich war aber lange Zeit Opportunistin und habe mich dem System der DDR in vieler Hinsicht angepasst. Als Resultat vieler schwieriger Erfahrungen bin ich 1989 wachgerüttelt worden, konnte mich auch von meinem opportunistischen Elternhaus lösen. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig politisiert. Denn in die Szene des Widerstandes einzutreten und kurz danach den Mauerfall zu erleben, das war natürlich der absolute Hammer. Eine erfolgreiche Revolution, wer schafft das schon?

Nicht schlecht für den Anfang.
Darum glaube ich auch so fest an Veränderung und dass wir diese gestalten können. Mich hat die Erfahrung von 1989 geprägt. Ich glaube daran, dass es einen Unterschied macht, ob ich das Wort ergreife und handle oder nicht.

Inwiefern hatten Sie sich denn dem System angepasst?
Ich bin ja in die DDR hineingeboren worden und wurde von Anfang von ihr geprägt. Als ich 2009 Michael Hanekes Spielfilm «Das Weisse Band» sah, verstand ich zum ersten Mal in meinem Leben, woher ich komme. Das weisse Band steht für ein erdrückendes Weltbild, das keinen Millimeter Abweichung aus dem Gleichtritt duldete und dabei hehren Idealen völkischen Deutschseins folgt. Die Wurzeln dieses Erziehungsstils liegen im National­sozialismus, aber die DDR hat nicht mit ihm gebrochen. So bin ich aufgewachsen. In der Folge hatte ich verinnerlicht, was von mir erwartet wurde, und mich in meinem Verhalten angepasst, ohne dies zu hinterfragen.

Wie hat sich das geäussert?
Es war zum Beispiel normal für mich, meine eigene Meinung zu verstecken. Wie viele wurde ich von meinen Eltern ganz selbstverständlich zum Lügen angestiftet. Mir wurde beigebracht, dass ich der SED-Propaganda immer recht geben sollte. Wir schauten fast nur West­fernsehen, auch das war verbreitet. Wenn es dann aber an der Tür klingelte, wurde zuerst auf DDR-Fernsehen umgeschaltet, bevor geöffnet wurde. Als ich mich einmal verplapperte, behaupteten meine Eltern, dass sie dafür ins Gefängnis kommen könnten, und bestraften mich. Für meine Eltern war Lügen ein Überlebens­konzept. Ich lernte also, reflexartig die offizielle Version herzubeten. Es wurde für Jahre mein wichtigstes Lebensziel, nicht ins Gefängnis zu kommen. Mein Empfinden für Gerechtigkeit war durch das Bejahen von Lügen, von Gewalt und durch die Bestrafung von Wahrheit stark irritiert.

Was hat Ihnen die Kraft gegeben, schliesslich doch Widerstand zu leisten?
Als Heranwachsende versuchte ich zunächst, mir die DDR anzueignen. Frisch als Studentin wollte ich mir Mitbestimmung in der Freien Deutschen Jugend verschaffen. Doch jeder kleinste Versuch einer Transformation wurde im Keim erstickt, und ich verstand schnell, dass es unmöglich war, eine diktatorische Struktur aus sich heraus zu kippen. Als ich das erkannt hatte, fuhr ich noch am selben Abend nach Berlin und machte bei der Bürgerrechts­initiative «Neues Forum» mit. Wir wollten die friedliche Revolution der DDR zur Demokratie.

Auf dem Weg zur Wiedervereinigung: Eine Demonstration für Meinungsfreiheit und gegen Übergriffe von Volkspolizei und Stasi im damaligen Ost-Berlin … Rolf Zöllner/Imago
… die ausschliesslich friedlich verlaufene Demonstration wurde am Abend mit massivem Einsatz von Sicherheitskräften beendet (7. Oktober 1989).Imago/epd

Die DDR war aber bis zum Schluss keine Demokratie, sondern eine Diktatur. Was haben Sie mit Ihrem Widerstand riskiert?
Das konnten wir selbst im Herbst 1989 nicht absehen. Doch an diesem Punkt war mein Frust gross, und aus der allgemein mutigen Stimmung erwuchs Hoffnung, die stärker wurde als meine Angst, im Gefängnis zu landen. Gegen Hoffnung kommt nicht einmal eine Diktatur an. Was ich tat, mag aus der Sicherheit einer Demokratie harmlos erscheinen: Ich begann, Unterschriften für das «Neue Forum» zu sammeln. Da ich dies immer offener tat, wurden wir bald vom Vater eines Kommilitonen verraten. Daraufhin folgte eine sogenannte Aussprache, ich sass dabei zehn Personen von FDJ bis SED und Stasi gegenüber. Ich musste schriftlich zu meiner «Tat» Stellung nehmen, was ich machte. Dann sollte ich die Namen anderer «Staatsfeinde» nennen, was ich verweigerte. Daraufhin wurde ich vor die Entscheidung gestellt, Informelle Mitarbeiterin zu werden, andernfalls würde ich exmatrikuliert. Dass ich die Kraft fand, mich hier dagegen zu entscheiden, hat mir mein Leben gerettet. Wenn ich im September 1989 noch IM geworden wäre, wäre ich mein Leben lang nicht mehr auf die Füsse gekommen. Mit meinem Studium hatte ich dann enormes Glück: Der 9. November 1989 kam meiner Ex­matrikulation zuvor.

Diese Schilderungen zeigen, wie repressiv das System der DDR selbst zum Schluss noch agierte. Warum ist die Zugehörigkeit als Ostdeutsche trotzdem von Bedeutung für Sie?
Ich bin relativ schnell nach der Wende selten als Ostdeutsche eingeordnet worden. Das war allerdings auch einfach, denn die Stereotype, die über Ostdeutsche kursierten, waren absurd. Dass sie alle Kopftuch tragen, als einzige Fremdsprache Russisch sprechen und, der Klassiker, den ganzen Tag Bananen essen, weil es in der DDR keine gab. Dem habe ich – wie eigentlich alle Ostdeutschen – nicht entsprochen und wurde entsprechend auch nicht so gelesen. Das hatte allerdings zur Folge, dass Menschen mir gegenüber unverblümt herabwürdigende Witze und Sprüche über Ostdeutsche machten. Das hat mich getroffen, empört und traurig gemacht. Und ich habe plötzlich ein Bedürfnis gespürt, mich mit dem Land zu verbinden, dessen Herkunft ich ja eigentlich abgelehnt hatte.

Ein Widerspruch.
Es war eine starke Ambivalenz. Ich hatte immer eine grosse Sehnsucht, zur freien Welt zu gehören. Aber durch die Ablehnung von aussen habe ich ein starkes Zugehörigkeits­empfinden zu Ostdeutschland entwickelt.

Wie hat sich das geäussert?
Diskriminierung funktioniert ja so: Diejenigen, die die Macht haben, haben viele Privilegien. Zum Beispiel das Privileg, ihr Deutschsein gar nicht verteidigen zu müssen. Ich bin deutsch, Punkt. Wer diskriminiert wird, sagt zwar: Ich gehöre dazu. Aber in dem Wissen, dass es letztlich nicht stimmt, weil die Macht­struktur die Person woanders einordnet. Mir ist bewusst, dass dies auch auf Ostdeutsche zutrifft. Und selbst wenn ich oft nicht dazugezählt wurde, wusste ich natürlich, dass ich eben ostdeutsch bin und darum in gewisser Hinsicht nicht dazugehöre.

Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Die Ausgrenzung hatte zum einen ein starkes Wir-Gefühl zur Folge. Wir Ostdeutsche, in Abgrenzung zu Westdeutschen. Zugleich hat es den Wunsch bewirkt, sich gegen ein starkes normierendes Narrativ zu stellen. Da gibt es verschiedene Wege, damit umzugehen. Ein Weg besteht darin, unsichtbar zu werden. Sich so stark zu assimilieren, dass man selbst glaubt, man sei gar nicht ostdeutsch. Das war nicht mein Weg, weil ich durch die Wende eben stark politisiert worden bin. Bei mir hat es eher das Gefühl ausgelöst, ich muss jetzt schon wieder für mein Land kämpfen. Gegen die stereotypen Wahrnehmungen, zum Beispiel auch dagegen, dass Ostdeutsche alle Nazis sind. Das hat mich beschäftigt, allerdings fand auch ich es nicht so zentral, darüber viel zu sprechen.

Warum nicht?
Da ich der Überzeugung bin, dass wir Ostdeutsche im globalen Vergleich immer noch unglaublich privilegiert sind. Wir haben einen deutschen Pass und sind grundsätzlich finanziell abgesichert. Es stimmt, die Arbeitslosen­rate schoss in den ostdeutschen Bundes­ländern seit den Neunziger­jahren in die Höhe, auf bis zu 20 Prozent. Sie lag damit phasenweise gute zehn Prozent­punkte höher als in Westdeutschland, erst seit gut 15 Jahren gleichen sich die Verhältnisse langsam an. Diese Erfahrung der Massen­arbeitslosigkeit war schwierig für viele, auch wenn sie ökonomisch betrachtet keine Verschlechterung darstellte. Wer im vereinten Deutschland nur das Minimum hatte, war besser­gestellt als zur Zeit der DDR. Viel stärker ins Gewicht als das Materielle fielen hier die mentalen und seelischen Brüche, die viele Ostdeutsche erlebt haben.

Fest der Einheit am ersten Oktober-Wochenende 1990 am Brandenburger Tor in Berlin. Manfred Vollmer/Image Broker/Imago

Seit Anfang Jahr sind Hundert­tausende Menschen in ganz Deutschland auf die Strasse gegangen, um gegen die AfD und gegen Rechts­extremismus zu protestieren. Gerade mit Ihrer Erfahrung der Bürger­proteste von 1989, was bedeutet Ihnen das?
Dass es nun doch zu diesem Protest kam, bewegt mich. Als ich selbst bei diesen Demos war, bekam ich Gänsehaut. Was mir besonders viel bedeutete, war, anhand der Plakate zu erkennen, dass hier ganz unterschiedliche gesellschaftliche Kreise zusammenkamen; verbunden durch das Ziel, die Demokratie zu verteidigen und dem Rechts­extremismus die rote Karte zu zeigen.

Was braucht die Bevölkerung in Ost und West, um ihre Resilienz gegenüber der AfD zu stärken?
Wir müssen verstehen, dass alles, was wir jetzt tun, ein Zünglein an der Waage ist. Auch nichts zu tun, ist eine politische Haltung. Denn sie bestärkt die aktuelle Tendenz. Und diese zeigt gen Rechtsruck. Es steht aber auch an, sich der Aufarbeitung von Kolonialismus, Rassismus oder Sexismus zu stellen. Viele machen es sich zu einfach. Sie sagen: «Ich bin gegen die AfD, also kann ich ja nicht rassistisch sein.» Doch wir müssen uns als Gesellschaft aus Komfort­zonen wagen und auch über den strukturellen Rassismus reden, der in Deutschland Realität ist. Eine Studie hat gezeigt, dass Deutschland im Vergleich mit zwölf anderen EU-Staaten am schlechtesten abschneidet bei der Frage, wie ausgeprägt Rassismus ist. Alle, die dem Kulturkampf das Wort reden, möchte ich zurufen: Regt euch endlich mal über Rassismus auf statt über den Genderstern. Ihr müsst geschlechter­gerechtes Sprechen nicht selbst mögen oder anwenden. Aber dieses zu attackieren, während es eine blaubraune Diktatur abzuwenden gilt, finde ich absurd. Solange jenen, die Diskriminierung widersprechen, vorgeworfen wird, einen Kulturkampf zu führen, giessen wir Wasser auf die Mühlen der AfD.

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