Über das Hässliche in der Nacht der Schönen
Bei den Oscars hat auch das Übel einen Platz. Aber es ist geplant, gestriegelt und geschnitten. Eine Nachbetrachtung.
Von Ronja Beck, 12.03.2024
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Es gab dieses Jahr keinen besseren Tag für Gesichtsherpes als den 11. März. Nur in einem Moment ausserordentlicher Hässlichkeit ist es möglich, sich der Vervollkommnung der Vollkommenen bedingungslos hinzugeben. Ganz ohne die eigene kümmerliche Existenz mit den Stars auf dem roten Teppich zu vergleichen, was natürlich auch in Abwesenheit des nässenden, blasenartigen Gewächses lächerlich wäre.
Immer weniger Menschen schauen sich die Oscarverleihung noch an. Was so eigentlich falsch ist. Man sieht sich die Oscars ja nicht einfach an. Man durchdringt sie, so wie sie einen selbst durchdringen. Ein durch und durches Durchdringen.
Doch was bleibt nach der ganzen Durchdringerei zurück? Und was ist am Anfang überhaupt da?
Herpes, ja. Nicht zu vergessen die Hautunreinheiten. Aber auch hübsche Kleider.
Stunden vor der Show tänzeln die Grossen der Filmwelt über den Teppich, gerne rot. Es ist der Moment, ab dem die Entität der sozialen Netzwerke dem Wahnsinn verfällt, noch mehr als sonst, und sich im Livechat zur Übertragung auf Youtube Rufe nach Ariana Grande, «free Palestine» und für Betrugsmaschen werbende Bots im Millisekundentakt abwechseln, als hätten diese Freaks mein dummes Hirn angezapft.
Sandra Hüller soll Schiaparelli tragen. Ich knalle die Wäsche in den Trockner und meide alle Spiegel. Mein Gesicht geht unter. Aber die Welt ja auch, habe ich mir sagen lassen.
Seit einigen Jahren, in denen die Kleider auf den roten Teppichen immer extravaganter, exzentrischer, extremer geworden sind – manchmal kann kaum von Kleidern die Rede sein –, machen Vergleiche mit den «Hunger Games» die Runde. Gemeint ist die apokalyptische Buchreihe von Suzanne Collins, erst vergangenes Jahr kam der fünfte Film dazu ins Kino. Collins’ Welt ist in Distrikte unterteilt. Im superreichen Distrikt 1 kleiden sich die Leute gerne extravagant, exzentrisch, extrem, manchmal kann kaum von Kleidern die Rede sein. Während in den untersten Distrikten die Menschen verhungern. Suzanne Collins beginnt ihre Geschichte am Ende des Kapitalismus.
Später bei der Preisverleihung werden sie einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm «Nawalny» von 2022 zeigen, es ist Alexei Nawalnys Nachricht an Russland für den Fall seiner Ermordung. Dann singen Andrea Bocelli und Sohn, was sonst, «Time to Say Goodbye». Es wird mich dramatischerweise fast zu Tränen rühren. Bis das Orchester mit lüpfiger Musik die nächsten Superstars ankündigt.
Das Übel der Welt hat einen Platz. Aber es ist geplant, gestriegelt und geschnitten.
Showman Hugh Jackman hatte diese Kunst einst auf die Spitze getrieben. Die Oscars 2009, die ersten seit Ausbruch der Finanzkrise, eröffnete er mit einer abgespeckten Musicalperformance – mit schnell zusammengeklebten Requisiten und Tänzerinnen (angeblich aus Kleinanzeigen), weil Krise. Eine Meisterleistung, in der Jackman jeden Anflug von Sorge wegtänzelte.
Schön sind sie, die Menschen, die Kleider, die Reden, die Performance. Aber ist dieser Anlass nun ein Fingerzeig zur Hoffnung oder zum Untergang?
Als Ryan Gosling in Vollpink und Halbernst den Barbie-Hit «I’m just Ken» sang, grinste ich, worauf das Fieberbläschen platzte und mir die hochinfektiöse Flüssigkeit in den Mundwinkel floss.
Meine Hässlichkeit war ansteckend, aber seine Schönheit war es auch.
Während der wichtigsten Kategorien steckte ich kerzengerade im Sofa und fühlte mich wie die daheim gelassene Mutter der Nominierten.
Ich schaue die Oscarverleihung seit bald zwanzig Jahren, mit Unterbrechung. Und seit ich am Morgen des 27. März 2022 die Push-Meldungen zur Oscarnacht mehrmals lesen musste, nehme ich die Sache wieder todernst.
In jener Nacht war Will Smith auf die Bühne marschiert und hatte dem Witze reissenden Chris Rock eine Schelle verpasst. Ein hollywoodscher Super-GAU. Nicht weil es eine Spontanaktion war. Sondern weil sie derb, roh, weil sie, wenn man so will, hässlich war.
So ehrlich hässlich waren die Oscars zuletzt 2003, als Dokumentarfilmer Michael Moore in seiner Siegesrede den Präsidenten am Schlafittchen packte («Shame on you, Mr. Bush!») und ihn Orchester und Publikum («Buh!») von der Bühne befahlen.
1974 rannte ein Flitzer über die Bühne. 2024 wollte Moderator Jimmy Kimmel die Aktion «nachstellen» mit Wrestler John Cena, der Muskelbombe, die dann mit der Siegeskarte vor dem Gemächt über die Bühne krebste. So verkommt ein erfrischender Skandal zum lauwarmen Sketch.
Es gewinnt schliesslich Oppenheimer, in mehreren Kategorien, so wie das alle erwartet hatten, aber das wirkt dann schon fast wie eine Nebensache.
Vielleicht doch einen Blick in den Spiegel wagen?
Dieser Preis war auch für die angeblich Besonderen besonders, das ahnte man. Während die monatslohnteuren Roben auf die Schösse der Sitznachbarn wucherten, quollen bereits beim Vortragen der Nominationen die Tränen. Manchmal vielleicht auch bei mir.
Es heisst, die Familie des früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt habe sich anderen überlegen gefühlt. Das soll, schreibt sein Biograf Robert Dallek, auch beim kleinen Franklin der Fall gewesen sein. Nur verfügte er über die Gabe, seine Wahrheit für sich zu behalten.
Die Oscars möchten das auch. Nur schaffen sie es nicht so richtig. Es lohnt sich, eine Nacht lang auf die Momente des Misslingens zu warten. Auch wenn Schlafmangel Lippenherpes begünstigt, wie ich soeben mit Entsetzen nachgelesen habe.