Ein Staat muss mit allen Bürgern fertig­werden

Der antisemitische Angriff auf einen orthodoxen Juden in Zürich erschüttert die Schweiz. Was geschieht nun mit dem jugendlichen Täter?

Von Carlos Hanimann und Basil Schöni, 09.03.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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An der Monbijou­strasse in Bern, bei der Haus­nummer 51, ist seit letztem Sommer auf dem Trottoir ein Pflaster­stein aus Messing in den Asphalt eingelassen. «Hier wohnte Arthur Bloch», steht auf dem Stein, der an ein Verbrechen vor über 80 Jahren erinnert:

«Ermordet von Schweizer Antisemiten.»

Am 16. April 1942 lockten fünf Nazi-Sympathisanten den Berner Arthur Bloch unter einem Vorwand in einen Stall in Payerne, wo sie ihn schlugen, erschossen und bestahlen. Anschliessend zerstückelten sie seine Leiche und versenkten sie im Neuenburgersee.

Hinter dem Mord steckte ein rechts­extremer, protestantischer Pfarrer und Journalist namens Philippe Lugrin. Er stiftete vier weitere Bewunderer Nazi-Deutschlands dazu an, den ihnen unbekannten Bloch zu töten, um ein Exempel an einem jüdischen Bürger zu statuieren.

Der Stolperstein an der Monbijou­strasse ist ein Mahnmal für einen Mord, der bis heute als eines der schwersten Gewalt­verbrechen gegen Juden in der Schweiz gilt. Nach der antisemitischen Messer­attacke vom vergangenen Samstag­abend in Zürich ist es wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Dabei muss man nicht 80 Jahre zurück­gehen; Gewalt gegen Jüdinnen gab es auch in jüngerer Vergangenheit immer wieder.

1995 zum Beispiel tötete ein psychisch kranker Mann in einer Mord­serie einen orthodoxen Juden am helllichten Tag in Zürich. Im August 1999 stach ein Mann in Zürich auf einen israelischen Touristen ein, der eine Kippa trug. 2001 erschoss ein unbekannter Täter einen israelischen Rabbi in Zürich. 2008 griff ein Unbekannter in Zürich einen 60-jährigen Juden mit einem Messer an und rief: «I have to kill jews!» 2011 stach ein 22-Jähriger mit einem Messer auf einen orthodoxen Juden in Genf ein. Im selben Jahr griffen drei Männer den Assistenten des Rabbiners von Lausanne an, und so weiter­ und so fort – die Chronologie antisemitischer Angriffe ist lang.

Und doch ist der antisemitische Messer­angriff auf einen 50-jährigen orthodoxen Juden in der Stadt Zürich am letzten Samstag­abend in vielerlei Hinsicht ausser­ordentlich: die Brutalität der Tat, das jugendliche Alter des mutmasslichen Täters, die Täter-Opfer-Konstellation, dass also ein islamistisch Radikalisierter auf einen Juden einsticht – das alles zusammen ist neu.

Das Attentat hat die Schweiz erschüttert. Auf den Schock folgen Unsicherheit und Stimmungs­mache. Die politischen Debatten sind lanciert: Braucht es härtere Strafen für Jugendliche? Mehr Überwachung? Soll dem mutmasslichen Täter das Bürger­recht entzogen werden, auch wenn er minderjährig ist und sein ganzes Leben hier verbracht hat?

1. Das Attentat

Am vergangenen Samstag­abend machte sich der 50-jährige M., ein orthodoxer Jude, auf den Weg, seine Schwieger­eltern in Zürich Selnau zu besuchen. Er klingelte unten an der Tür, doch die Treppe zur Wohnung stieg er nie hoch.

Bevor er das Haus betreten konnte, griff ihn der 15-jährige Teenager A. mit einem Messer an und verletzte ihn lebensgefährlich.

Gemäss Zeugen­aussagen, über die das jüdische Magazin «Tachles» zuerst berichtete, sagte der Teenager: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.»

Passanten stellten den Angreifer und hielten ihn fest, bis die Polizei eintraf. Seither befindet sich der Teenager auf Anordnung der Jugend­anwaltschaft in Untersuchungshaft.

Das Opfer erlitt schwere Verletzungen, schwebt mittlerweile aber nicht mehr in Lebensgefahr.

Zum Interview: «Antisemitismus ist kein natur­gegebener Reflex»

Wie hat «Tachles»-Chefredaktor Yves Kugelmann die Messer­attacke erlebt? Republik-Co-Chefredaktor Daniel Binswanger hat mit ihm gesprochen. Und ihn zudem gefragt: Wie schätzt er die Situation angesichts des Krieges im Nahen Osten generell ein, gerade auch in der Schweiz? Und wie beurteilt er die Reaktion der jüdischen Menschen auf die Situation in Gaza?

Bereits einige Stunden vor der Tat hatte der Teenager, ein schweizerisch-tunesischer Doppel­bürger, im Internet ein Bekenner­video veröffentlicht. Darin liest er auf Hocharabisch einen Text vor, in dem er seinen Angriff ankündigt und sich zur Terror­organisation Islamischer Staat bekennt.

Der vorgelesene Text bezieht sich stark auf eine Ansprache des offiziellen IS-Sprechers von Anfang Januar. Dort rief der IS als Reaktion auf den Krieg in Gaza zu Anschlägen auf. In seinem Bekenner­video erwähnt A. nicht nur, dass er dem IS-Aufruf gefolgt sei, sondern übernimmt gewisse Formulierungen sogar direkt aus der Rede.

Der Kriminologe Ahmed Ajil geht davon aus, dass A. den Text seines Bekenner­videos nicht selber verfasst hat. «Sein Arabisch ist nicht fliessend. Er stockt immer wieder, muss manche Wörter mehrmals lesen.»

Ajil forscht seit Jahren zu jihadistischem Terrorismus an der Universität Lausanne, aktuell arbeitet er an einem Forschungs­projekt zu den Effekten von Anti-Terror-Massnahmen in der Schweiz. «Ich halte es für wahrscheinlich, dass ihm jemand diesen Text gegeben oder ihn zumindest mit ihm ausgearbeitet hat», sagt er.

Dafür spreche auch, dass A. immer wieder über Wörter stolpere, als er von seinem Plan erzählt, in eine Synagoge zu gehen und so viele Juden wie möglich zu töten. «Das Stolpern passt nicht zu einem selbst verfassten Plan», sagt Ajil.

«Das wirkt eher wie ein Standard­drehbuch, das er vorgelegt bekommen hat. Er hat sein Opfer ja dann auch nicht in einer Synagoge angegriffen, sondern auf offener Strasse.»

Dass A. womöglich mit einer Dritt­person in Kontakt stand, passt gemäss Ajil auch zum bisherigen Vorgehen der Terror­miliz. «Es ist schon länger eine Strategie des IS, dass man sich verletzlicher und anfälliger Personen annimmt und diese dann motiviert, einen Angriff durchzuführen.»

Dass sich der IS bisher nicht offiziell zum Anschlag bekannt hat, sollte man indes nicht über­bewerten, sagt Ajil. «Der IS ist keine Medien­agentur, die 24 Stunden am Tag läuft. Er hat keine militärische Macht mehr und deshalb auch keinen sicheren Ort, von wo aus er operieren kann. Heute besteht der IS aus verschiedenen Leuten an verschiedenen Orten in der Welt, die irgendwie versuchen, das Ganze zusammen­zuhalten. Sie kämpfen alle um ihr Überleben. Sowohl physisch als auch im virtuellen Raum. Da sollte man nicht allzu viel Kohärenz erwarten.»

2. Die Radikalisierung

Auch eine Woche nach dem Attentat in Zürich herrscht Fassungslosigkeit: Wie konnte es so weit kommen, dass ein 15-jähriger Jugendlicher, den Mitschüler gegenüber Medien als «Einzelgänger» beschrieben und dem ein Angehöriger «eine Art von Autismus» nachsagte, zu so einer Tat schritt?

Einem konkreten Anschlag gehe immer ein Radikalisierungs­prozess voraus, sagt Terrorismus­experte Ahmed Ajil. Dieser setze sich aus persönlichen, lokalen und globalen Faktoren zusammen.

Auf der persönlichen Ebene könnten etwa eine individuelle Leidens­geschichte oder eine Identitäts­krise eine Rolle spielen. Häufig kämen jihadistisch Radikalisierte gar nicht aus religiösen Familien. «Man spricht von ‹Reborn Muslims›, also quasi Neukonvertierten.» Im Bekenner­video kritisiert der Jugendliche A. denn auch Eltern und Verwandte als «Abtrünnige».

Die lokalen Faktoren betreffen vor allem Reibungen mit der Gesellschaft. Islam­feindlichkeit und persönliche Diskriminierungs­erfahrungen spielen oft eine Rolle, aber auch soziale Isolation.

Auf der globalen Ebene seien geopolitische Ereignisse wichtig, wie etwa die Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober und die folgende Bombardierung des Gaza­streifens.

«Der IS instrumentalisiert schon lange verschiedene Konflikte für seine eigenen Interessen», sagt Terrorismus­forscher Ajil. «Diese Ereignisse sind stark mediatisiert.» Solche Bilder führten oft zu sogenannten moral shocks: Für junge Menschen breche dann ein ganzes Weltbild zusammen. Dass es Gesetze gebe beispielsweise und eine internationale Gemeinschaft, die für Gerechtigkeit sorge. «Das kann einen Radikalisierungs­prozess beschleunigen.»

Im konkreten Fall des Jugendlichen A. geht Ajil aber davon aus, dass schon vorher eine Basis vorhanden gewesen ist. «Womöglich gab es schon Kontakt zu einer Einfluss­person aus dem Umfeld des IS, vielleicht sogar zu einem IS-Mitglied selbst. Wahrscheinlich vorwiegend über virtuelle Kanäle.» Wenn dann ein solches globales Ereignis hinzukomme, könne es plötzlich schnell gehen, bis eine Person zur Tat schreitet.

Welchen Weg die Radikalisierung von A. genommen haben könnte, haben diese Woche «Tages-Anzeiger» und CH Media recherchiert. Verschiedene Social-Media-Accounts des Teenagers zeigen demnach, wie sich A. ungefähr ab 2022 radikalisierte und spätestens seit dem Sommer 2023 dem Islamismus zuwandte. Gemäss den Recherchen habe A. seinen Angriff schon am Vortag in codierter Form auf Social Media angekündigt. Obwohl Anti-Terror-Gesetze verschärft und die staatlichen Möglichkeiten zur Überwachung gestiegen sind, entdeckten die Sicherheits­behörden die Ankündigungen aber offenbar nicht.

3. Die Debatten

Nach dem Messer­angriff vom vergangenen Samstag dauerte es keine 24 Stunden, bis der Zürcher Sicherheits­direktor Mario Fehr begann, politisch Stimmung zu machen. Der NZZ sagte er schon am Sonntag­abend, für ihn handle es sich um einen «Terroranschlag». Am Montag forderte er dann, dem jugendlichen Täter müsse der Pass entzogen werden – obwohl völlig unklar ist, ob das rechtlich überhaupt zulässig ist.

Das zuständige Staats­sekretariat für Migration (SEM) hat bisher noch nie einem Minder­jährigen das Bürger­recht entzogen, wie es auf Anfrage erklärt.

International sorgte vor ein paar Jahren der Fall der Britin Shamima Begum für viel Aufmerksamkeit. Sie war als 15-Jährige zum IS nach Syrien gereist. Mit 19 Jahren wurde sie entdeckt und ihr sofort der britische Pass entzogen – obwohl sie keine andere Staats­bürgerschaft besass. Das steht zwar klar im Widerspruch zu internationalen Übereinkommen, aber der Fall kam nie vor ein Gericht.

Möglich ist der Entzug des Bürger­rechts in der Schweiz denn auch grundsätzlich nur, wenn die betroffene Person Doppel­bürgerin ist und ihr Verhalten «den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist».

Konkret bedeutet das: Es muss dazu ein schweres Verbrechen im Rahmen von terroristischen Aktivitäten vorliegen.

«Die Idee, dass man jemandem das Bürger­recht entziehen konnte, galt lange als unzivilisiert», schreibt die Staats­rechtlerin Barbara von Rütte in einer juristischen Analyse der aktuellen Schweizer Ausbürgerungs­praxis. Die Schweiz ging lange von der Unverlierbarkeit der Staats­bürgerschaft aus. Das Ausbürgern erinnert denn auch an die mittel­alterliche Praxis der Verbannung.

Als die Sicherheits­behörden in den letzten Jahren mit dem Problem jihadreisender foreign fighters konfrontiert waren, sahen sie in der Ausbürgerung eine Massnahme, um die terroristische Gefahr von der Schweiz fernzuhalten.

Das Staats­sekretariat für Migration hat seither drei erwachsenen Schweizer Bürgern den Pass entzogen, wie es auf Anfrage schreibt. Zwei Verfahren sind momentan am Bundes­verwaltungs­gericht hängig. In allen Fällen geht es um terroristische Aktivitäten. Bei einem Dutzend Personen laufen Straf­verfahren, nach deren Abschluss das SEM prüft, ob auch ihnen die Staats­bürgerschaft entzogen werden kann.

Die Staats­rechtlerin Barbara von Rütte hat grundsätzliche Zweifel daran, ob die Praxis des SEM rechtlich haltbar ist. «Man muss immer prüfen, ob die Massnahme verhältnismässig ist», sagt von Rütte. Sie müsste also beispielsweise geeignet sein, die innere Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten. Studien zeigten jedoch, dass Ausbürgerungen nicht zu mehr Sicherheit führen.

Ausserdem wertet von Rütte die Tatsache, dass es eine Art Sonder­gesetz­gebung nur für Doppel­bürger gebe, als einen Verstoss gegen das verfassungsmässig garantierte Diskriminierungs­verbot.

Betroffen davon ist rund ein Viertel der Bevölkerung. In dieser Gruppe übervertreten sind ethnische und religiöse Minderheiten. Die rechtliche Voraussetzung für einen Bürgerrechts­entzug treffe deshalb überwiegend Personen ausländischer Herkunft und nicht-christlicher Religion.

Eine fragwürdige Ungleichbehandlung.

Man dürfe auch nicht vergessen, dass Minder­jährige besonderen Schutz genössen, sagt von Rütte. «Der Entzug des Bürger­rechts ist im Sinne des Gesetz­gebers immer Ultima Ratio. Die Schwelle muss sehr hoch angesetzt werden. Es ist fraglich, ob Kindern das Bürger­recht überhaupt entzogen werden kann.»

Im Fall des jugendlichen Attentäters von Zürich bezweifelt von Rütte, dass die rechtlichen Voraus­setzungen gegeben sind. «Bei einem Kind kann man nicht davon ausgehen, dass es sich der Schwere der Tat voll bewusst ist. Rein strafrechtlich gesehen kann ein Kind gar nicht so eine schwere Tat begehen.» Aber selbst wenn man zum Schluss käme, dass der mutmassliche Täter sich dessen bewusst war und einen terroristischen Akt begangen hat, stelle sich die Frage, ob die Ausbürgerung verhältnismässig sei.

Ausserdem sieht die Kinderrechts­konvention für Minder­jährige besonderen Schutz der Staats­angehörigkeit vor. Das unterscheide diesen Fall auch von früheren, bereits erfolgten Ausbürgerungen von erwachsenen verurteilten IS-Anhängerinnen, sagt Staats­rechtlerin von Rütte. Ohnehin könne man das Problem – in diesem Fall antisemitische Gewalt – nicht einfach ins Ausland abschieben.

Der Kriminologe Ahmed Ajil fügt an, dass man den Teenager wegen des Folter­verbots vermutlich gar nicht ausschaffen könne, wenn ihm im Ursprungs­land eine unmenschliche Behandlung droht. «Es ist wahrscheinlich, dass diese Person noch viele Jahre in der Schweiz bleiben wird», sagt Ajil.

Deshalb müsse man möglichst rasch mit dem Jugendlichen zusammen­arbeiten und ein Setting herstellen, in dem Sicherheits­massnahmen mit sozial-präventiven, erzieherischen und therapeutischen Massnahmen kombiniert werden können. Damit habe man gute Erfahrungen gemacht bei sogenannten Rückkehrern aus Syrien.

Das sollte man auch in diesem Fall tun, sagt Ajil. «Diese Person muss wieder Anschluss finden an die Gesellschaft. Sie nun als ‹Terroristen› abzuschreiben, wird kontra­produktiv sein. Man muss vermeiden, dass sie sich weiter radikalisiert. Das ist auch unsere kollektive Verantwortung.»

4. Schlechte Bürger

Die Gesetzes­grundlage, die heute dafür herhalten soll, den jugendlichen Attentäter von Zürich auszubürgern, entstand übrigens im Zweiten Weltkrieg. Damals regierte der Bundesrat im Vollmachten­regime. Mit Sonder­gesetzen versuchte die Regierung, Schweizer Nazis im Ausland von der Schweiz fernzuhalten.

86 Personen bürgerte die Schweiz zwischen 1940 und 1952 aus, die meisten, weil sie sich national­sozialistischen Gruppen angeschlossen hatten. In über fünfzig Fällen entliess die Schweiz die Betroffenen sogar in die Staaten­losigkeit. Die Historikerin Nicole Schwalbach hat die Ausbürgerungs­praxis im und nach dem Zweiten Weltkrieg akribisch untersucht für ihre Dissertation mit dem Titel: «Ein Staat kann nicht nur gute Bürger haben, er muss auch mit den schlechten fertig werden».

Philippe Lugrin allerdings, der als Drahtzieher des antisemitischen Mords an Arthur Bloch gilt, floh zuerst ins von Nazis besetzte Paris, wurde später in die Schweiz ausgeliefert und im Jahr 1947 zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er verliess das Gefängnis nach 13 Jahren. Das Schweizer Bürger­recht hat er nie verloren.

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