Binswanger

Kommt die 13. Rente?

Die Debatte zur AHV-Initiative ist extrem aufgeladen – und verläuft in seltsamen Bahnen. Eine Annahme wäre ein historischer Wende­punkt.

Von Daniel Binswanger, 24.02.2024

Vorgelesen von Danny Exnar
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Es liegt etwas Grosses in der Luft. Am nächsten Wochen­ende findet die Abstimmung über die 13. AHV-Rente statt. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, ob die Initiative angenommen oder verworfen wird, ob sie eine Mehrheit der Stimm­bürgerinnen überzeugen und die Hürde des Stände­mehrs tatsächlich nehmen kann. Zweifelsfrei steht aber fest: Gemäss den Umfragen besteht eine realistische Chance, dass die Vorlage durchkommt.

Nur schon diese Tatsache ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die 13. AHV-Rente wäre die erste Volks­initiative in der Geschichte der Eid­genossenschaft, die ein sozial­politisches Ausbau­projekt der Gewerkschaften an der Urne durchsetzt. Etwas Grundsätzliches im Schweizer Politik­gefüge scheint sich zu verschieben. Die Abstimmung vom kommenden Wochenende könnte zu einem epochalen politischen Wende­punkt werden.

Nicht nur die Umfragen deuten darauf hin. Es zeigte sich auch darin, wie ungeheuer aufgeladen und emotionalisiert die Abstimmungs­debatte verläuft. Da war zum Beispiel der sagenhafte Shitstorm, den der Abstimmungs­propaganda-Brief der fünf bürgerlichen Alt-Bundesrätinnen ausgelöst hat. Hat es so etwas schon einmal gegeben?

Sicherlich, diese für Schweizer Gepflogenheiten eher ungewöhnliche Aktion war auch einfach ungeschickt. Dass man glaubte, ausgerechnet Ex-Magistraten mit einer Jahres­rente von rund 230’000 Franken könnten die Botschaft des grossen Verzichts unters Volk tragen, zeugt nur begrenzt von kampagnen­technischem Sach­verstand. Aber dass die Alt-Bundesräte, die im Grundsatz über ein sehr grosses Vertrauens­kapital verfügen, mit ihrem Einsatz derart heftige Empörung ausgelöst haben, ist dennoch bemerkenswert. Vor zehn Jahren wäre das wohl noch völlig anders gewesen.

Nicht weniger aussagekräftig ist der Mega-Shitstorm, den «Tages-Anzeiger»-Chefredakteurin Raphaela Birrer mit einem Leitartikel auslöste, in dem sie dringend die Ablehnung der 13. AHV-Rente empfahl. Ihr Appell für ein Nein zu «diesem kurzsichtigen Populismus» provozierte über 1000 zum grössten Teil sehr gehässige Kommentare. Auch der nachgelieferte Erklär­artikel, der darlegte, nach welchem Prozedere die «Tages-Anzeiger»-Redaktion jeweils ihre Positionierung in den Abstimmungs­debatten festlegt, konnte die Gemüter mehrheitlich nicht beruhigen.

Birrer hat im Zuge der verstärkten Rechts­ausrichtung des «Tages-Anzeigers» schon einige sehr rechte Positions­bezüge veröffentlicht. Zu derart heftigen Reaktionen wie aufgrund ihres aktuellen Leitartikels zur Abstimmung ist es trotzdem nie gekommen. Die 13. AHV-Rente suspendiert bis auf Weiteres die normalen Spielregeln des politischen Diskurses in unserem Land. Es geschieht gerade etwas Aussergewöhnliches.

Die Ursachen­forschung ist eigentlich nicht übermässig komplex – aber verblüffender­weise haben diese Ursachen in der Abstimmungs­debatte höchstens eine untergeordnete Rolle gespielt. Rufen wir sie trotzdem in Erinnerung:

Erstens: Das aktuelle Schweizer Renten­system stellt einen krassen Fall von Politik­versagen dar. Auch das macht die alt-bundesrätlichen Belehrungen so ätzend. Die Vorsorge­leistungen in der Schweiz sind miserabel, und die Schweizer Rentnerinnen leiden darunter. Das ist, wenn man sich die Alters­einkommen im internationalen Vergleich anschaut, eine einfach belegbare Tatsache. Erstaunlicherweise wurde im Rahmen der Abstimmung aber kaum darüber diskutiert, wie eine faire, vernünftige und ausreichende Alters­rente eigentlich aussehen müsste. Sondern vornehmlich darüber, ob wir uns AHV-Erhöhungen überhaupt noch leisten können – oder damit nicht in verantwortungsloser Weise das gesamte Renten­system in Gefahr bringen, sodass künftige Generationen am Ende über gar keine Rente mehr verfügen werden. Panik­orchester statt Policy-Diskussion.

Die Qualität eines Renten­systems bemisst sich zunächst daran, ob es den Bezügerinnen einen Lebens­abend garantiert, der ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem Einkommens­niveau, das sie während der Erwerbs­jahre erreichten, nicht allzu stark verschlechtert, und ob es die unteren Einkommens­schichten vor der Alters­armut schützt. Wie steht die Schweiz im Hinblick auf diese Basis­leistung da, gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern? Diese Frage ist relativ objektiv zu beantworten. Sie unterliegt zum Beispiel einem ständigen und sehr ausführlichen Monitoring, etwa im voluminösen Renten­bericht, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD alle zwei Jahre veröffentlicht.

Man hätte ja vermuten können, dass der Vergleich mit anderen Ländern nun den Abstimmungs­kampf beherrscht, dass intensive Debatten darüber entbrennen, was wir, gemessen an anderen Renten­systemen, gut machen, was wir verbessern könnten, wo der Wurm drin ist. Aber weit gefehlt! Wir Schweizer sind schliesslich ein Sonder­fall. Will sagen: Wir können es ohnehin besser. Allerhöchstens wird gelegentlich das Beispiel Dänemark in den Medien evoziert. Liegt dort das Renten­alter nicht schon heute bei 67 Jahren?

Das härteste Kriterium zur Beurteilung eines Vorsorge­systems ist zunächst die Lohnersatz­quote. Die Rente darf nicht zu weit unter dem Erwerbs­lohn liegen, sonst müssen zu starke Abstriche beim Lebens­standard gemacht werden. Wie hoch genau die Ersatz­quote deshalb sein sollte, kann unterschiedlich bewertet werden und ist abhängig vom Lohn­niveau vor der Pensionierung. Ein als vernünftig betrachteter Richtwert für eine gute Lohn­ersatzquote liegt bei mindestens 60 Prozent.

Wo steht heute die Lohn­ersatzquote im Schnitt der OECD-Länder für Rentnerinnen, die als Berufstätige den Durchschnitts­lohn verdienten? Bei bescheidenen 50,7 Prozent. Und wo liegt sie – wenn wir von der dritten Säule absehen, die de facto nur für die obersten Lohn­kategorien eine Rolle spielt – in der Schweiz? Bei 39,9 Prozent. In Deutschland liegt die entsprechende Lohn­ersatzquote bei 43,9 Prozent, in Frankreich bei 57,6 Prozent, in Österreich bei 74,1 und im viel zitierten Dänemark bei 73,1 Prozent – also beinahe doppelt so hoch wie in der Schweiz. Doppelt so hoch!

Nicht nur die Menschen in den untersten Lohn­kategorien, die von Alters­armut bedroht sind, werden schlecht behandelt vom Schweizer System. Wer einen Durchschnitts­lohn verdient hat, läuft zwar nicht Gefahr, im Alter unter das Existenz­minimum zu fallen. Aber auch hier sind die Einkommens­einbussen massiv.

Die meisten anderen OECD-Länder sind also viel grosszügiger mit ihren Rentnerinnen als die Schweiz. Die Eidgenossenschaft – das Land mit den vierthöchsten Löhnen – liegt im OECD-Vergleich beim Lohnersatz auf dem zehntletzten Platz. Und obwohl das steigende Durchschnitts­alter der Bevölkerung in allen Ländern ein Problem ist, finden andere Staaten sehr im Gegensatz zur Schweiz einen Weg, ihre viel grosszügigeren Renten zu finanzieren. Wollen wir das so?

Den Grund, weshalb das Schweizer Vorsorge­system in einem so schlechten Zustand ist, muss man nicht lange suchen: Die zweite Säule funktioniert nicht mehr. Das duale Vorsorge­system der Schweiz galt lange Zeit als besonders raffiniert und vorbildlich. Die Kombination von Kapitaldeckungs- und Umlage­verfahren hat gerade auch im Hinblick auf die demografischen Verschiebungen unzweifelhaft ihre Vorteile. Im heutigen Niedrigzins­umfeld sind die Leistungen der Pensions­kassen jedoch ungenügend geworden, haben zu einem massiven Einkommens­verlust der Rentenbezüger geführt und die Lohnersatz­quote auf ein klägliches Niveau sinken lassen. Die anstehende BVG-Reform wird – sollte sie durchkommen – das Absinken der Leistungen noch einmal verschärfen.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines heute 55-jährigen, alleinstehenden Mannes, der ein gutes mittelständisches Brutto­einkommen hat, 120’000 Franken pro Jahr. Gemäss einer Modellrechnung der Vorsorge­beratungsstelle VZ hätte dieser im Jahr 2002 mit einer zukünftigen Rente von knapp 75’000 Franken rechnen können. Heute sind es noch knapp 60’000 Franken – ein Einkommens­verlust von 20 Prozent innerhalb von 20 Jahren. In welchem anderen Politik­feld müssten wir auch nur darüber diskutieren, ob ein solcher Rückschritt akzeptabel ist?

Die Schweizer Renten werden pitoyabel. Nicht nur für die untersten Lohnkategorien, sondern auch für den Mittel­stand. Die Schweizer Politik verschränkt seit Jahrzehnten die Arme und sorgt nicht für Abhilfe. Das ist der sehr simple Grund, weshalb die 13. AHV-Rente eine realistische Chance hat. Nicht das plötzliche Ausbrechen einer Selbstbedienungs­mentalität.

Zweitens: Die Debatte zur 13. AHV-Rente kreist vorwiegend um die Alters­armut. Das ist nachvollziehbar, denn Alters­armut ist ein gravierendes Problem und ein vernünftiges Vorsorge­system sollte selbstredend dafür sorgen, dass die arbeitende Bevölkerung nicht von diesem Schicksal betroffen ist, auch nicht in den unteren Lohn­kategorien. Das absolut Verblüffende an der Schweizer Diskussion ist nun allerdings, wie sogenannt bürgerliche und sogenannt liberale Kräfte den sozialstaatlichen Paternalismus predigen.

Das heutige Schweizer Renten­system erzeugt strukturelle Altersarmut. Über ein Viertel der Bürgerinnen hat heute Anspruch auf Ergänzungs­leistungen – oder hätte ihn theoretisch. Rund 12 Prozent der Rentner beziehen Ergänzungs­leistungen und rund weitere 16 Prozent tun dies nicht, obwohl sie einen Anspruch hätten. In allen Industrie­staaten dieser Welt werden die niedrigen Renten querfinanziert und durch Umverteilung aufgebessert, weil die niedrigsten Einkommen in der Nähe der Armuts­grenze liegen und weil deshalb, wenn diese Einkommen durch Renten mit einer zu niedrigen Lohnersatz­quote abgelöst werden, ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zwangsläufig in die Armut abgleitet. In der Schweiz allerdings ist diese Quer­finanzierung zu bescheiden.

Dieses Problem ist erkannt. Erstaunlich ist allerdings die «Lösung» der bürgerlichen Kräfte: nicht eine ausreichende Alters­absicherung, sondern sozialstaatliche Hilfe, das heisst eben die Ergänzungs­leistungen. Die Ansage lautet: Wir bieten keine angemessene Vorsorge, aber keine Angst, wir kompensieren das dann durch Sozial­leistungen. Die bekommt man zwar nicht automatisch, sondern muss sie beantragen, muss seine gesamten Finanzen offenlegen, sein Vermögen weitestgehend verzehren, sich Höchst­grenzen für Miete und Kranken­kasse vorschreiben lassen, darf nicht im Ausland leben, wird gegängelt, wie das eben sein muss, weil die Zahlungen nicht als abgegoltene Leistungen, sondern als Almosen betrachtet werden.

Ihr habt zwar euer ganzes Leben eingezahlt und gearbeitet, aber jetzt seid ihr Sozialfälle und werdet entsprechend behandelt – das ist die Botschaft des Nein-Lagers. Entspricht dieser krasse Paternalismus wirklich der Werte­haltung des sogenannt liberalen Schweizer Bürgertums?

Natürlich sind Ergänzungs­leistungen das billigste Mittel gegen Altersarmut. Aber auch die Schweiz – wie die überwiegende Mehrheit der anderen OECD-Staaten – sollte in der Lage sein, Wege zu finden, um eine bessere Vorsorge zu finanzieren. Natürlich müssen zusätzliche Ressourcen mobilisiert werden, natürlich wird aufgrund der demografischen Entwicklung eine Erhöhung des Rentenalters voraussichtlich irgendwann kommen. Wenn die Bürgerinnen sich auf faire Leistungen verlassen können, genügend Flexibilität besteht und gesetzlich gesichert wird, dass in physisch belastenden Berufen das Rentenalter tiefer bleibt, werden auch die Schweizer Bürgerinnen einer Rentenalter­erhöhung zustimmen. Zuerst allerdings müsste man den Leuten ein anständiges Angebot machen.

Drittens: Das Absurdeste an dieser Abstimmungs­debatte ist, wie sehr das Nein-Lager nun mit dem Angst-Argument operiert. Ja, die 13. AHV-Rente muss gegenfinanziert werden, ja, das ist eine Belastung und ja, die Finanzierung der Altersvorsorge wird aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft einen grösseren Teil des Bruttoinlands­produkts beanspruchen als in der Vergangenheit. Das stellt eine Herausforderung dar – die in der Schweiz aber genauso zu bewältigen ist wie in allen anderen Industrie­staaten auch.

Verantwortungslos und politisch destruktiv erscheint jedoch die Art und Weise, wie nun der Generationen­vertrag kaputt­geredet und den Bürgerinnen vermittelt wird, auf die Institutionen, von denen ihre wirtschaftliche Sicherheit abhängt, sei kein Verlass mehr. Ist das wirklich die Art und Weise, wie die bürgerliche Schweiz dem viel beschworenen Verlust des politischen Gemeinsinns entgegenwirken will? Dass sogar Alt-Bundesräte sich an diesem Spielchen beteiligen, ist ein unschönes Indiz dafür, wie sehr sich das politische Urteils­vermögen inzwischen allenthalben eingetrübt hat.

Es liegt etwas Grosses in der Luft. Die Schweiz dürfte weiss Gott die wirtschaftlichen Ressourcen haben, um ein Vorsorge­system zu finanzieren, das den Schutz vor Altersarmut nicht zum Almosen erklärt und das dem breiten Mittelstand eine vernünftige Lohnersatz­quote bietet. Es ist sehr betrüblich, dass über so fundamentale Grundlagen kein politischer Konsens mehr besteht.

Aber jetzt sprechen die Urnen.

Illustration: Alex Solman

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