Europaweite Unzufriedenheit: Auch in Frankreich, wie hier bei Narbonne, gehen die Landwirte auf die Strasse. Idriss Bigou-Gilles/Hans Lucas

«Für die Bauern vor 200 Jahren war das grösste Risiko das Wetter. Für die Land­wirte heute ist es die Agrar­politik»

Der Landwirtschafts­historiker Ernst Langthaler erklärt, warum Bauernproteste halb Europa erfassen.

Von Angelika Hardegger, 23.02.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Ernst Langthaler, in Spanien rollen Traktoren auf Madrid zu. In Deutschland mussten die Grünen vergangene Woche eine ihrer wichtigsten politischen Veranstaltungen im Jahr abbrechen, weil Landwirte protestierten. Auch in Italien, Griechenland, Polen, Tschechien und Litauen gehen die Bauern auf die Strasse. Was sehen wir da gerade?
Die Medien sprechen durchwegs von «Bauern­protesten», aber ich frage mich: Sind es tatsächlich «Bauern», die protestieren? Wenn Sie diese Traktoren betrachten, diese Riesen­maschinen, erkennen Sie: Das sind keine kleinen Bauern. Das sind grosse Agrar­unternehmer. Es ist die Kern­klientel der industrialisierten Landwirtschaft, die hier protestiert.

Wogegen?
Die Proteste entzündeten sich am Entscheid der deutschen Regierung, die Subvention von Agrar­diesel zu beenden. Auch in Frankreich oder Spanien war der Anlass, dass der Staat Zuwendungen an die Landwirte streichen wollte. Das zeigt das Problem im Hintergrund, nämlich dass die europäische Landwirtschaft hochgradig abhängig ist von EU- und Staats­förderungen. Je nach Betriebs­typ machen öffentliche Zahlungen um die Hälfte des landwirtschaftlichen Einkommens aus. Das bedeutet, um es plakativ zu sagen: Für die Bauern vor 200 Jahren war das grösste Risiko das Wetter. Für die Landwirte heute ist es die Agrar­politik.

Zur Person

privat

Der Historiker Ernst Langthaler gehört zu den besten Kennern der Landwirtschafts­geschichte in Europa. Er forscht und lehrt als Professor für Sozial- und Wirtschafts­geschichte an der Johannes Kepler Universität Linz. Zudem ist er Vorstand des Instituts für Geschichte des ländlichen Raums in St. Pölten. Langthalers Arbeiten zur Agrar- und Ernährungs­geschichte beschäftigen sich unter anderem mit der Global­geschichte der Sojabohne oder der Regional­geschichte der Agrargesellschaft im National­sozialismus. Er ist Mitherausgeber historischer Zeitschriften, unter anderem des «Jahrbuchs für Geschichte des ländlichen Raumes», sowie von Buchreihen, darunter «Agro-Food Studies».

Aber warum bricht das jetzt auf? Es ist doch seit Jahrzehnten so, dass Landwirte abhängig sind vom Staat.
Die hohen Zahlungen gehen zurück auf einen Deal, den der Wohlfahrts­staat nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Bauern­verbänden schloss: Er forderte von den Bauern, billige Lebensmittel für die wachsende Industrie­gesellschaft zu produzieren. Der Staat ermöglichte das durch Preis­stützungen und sonstige Förderungen, die den Bauern halfen, Kunst­dünger, Pestizide, Traktoren und andere industrielle Technologien zu finanzieren. Diese Agrar­industrialisierung war sozial­politisch motiviert, aber heute ist offensichtlich, dass sie an ökologische Grenzen stösst. Darum fordert der Staat nun Umweltschutz­massnahmen, die den hochgerüsteten Agrar­produzenten wehtun. Aus deren Sicht wird der bisherige Deal infrage gestellt.

Der Staat verlangt heute einen neuen Deal, einen Green Deal.
Genau. Was in der umweltbewegten Zivil­gesellschaft seit den 1970er-Jahren diskutiert wurde, ist angekommen in der etablierten Politik. In Deutschland sitzen die Grünen in der Regierung und stellen den Agrar­minister. Dadurch fühlen sich die Träger der industrialisierten Landwirtschaft bedroht. Materiell, aber auch ideell, in ihrer Identität.

Dann suchen die Landwirte auf der Strasse nicht nur Geld, sondern auch Geltung?
Ja, sie sehen sich konfrontiert mit der Frage: Bin ich als Angehöriger der Bauernschaft noch ein geschätztes Mitglied der Gesellschaft? Oder werde ich in meiner Existenz grundlegend infrage gestellt?

Die ehrliche Antwort darauf ist: Ja, eine grüne Wende in der Landwirtschaft stellt gewisse Agrar­produzenten existenziell infrage.
Da wäre es die Aufgabe der Politik, den institutionellen Rahmen zu setzen für einen Übergang in ein nachhaltigeres Agrar- und Ernährungs­system, der sozialverträglich ist. Die Politik muss den Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten und leben, eine Überlebens­perspektive ermöglichen.

Viele Bauern stellen die Rolle der Politik bei diesem Übergang infrage. Sie sagen: Will die Gesellschaft eine Wende, muss sie sie selbst herbeiführen – über den Konsum.
Natürlich ist die Agrar­frage auch eine des Konsums. Aber aus historischer Sicht ist es Unsinn, die Verantwortung allein den Konsumenten aufzubürden. Der Staat hat sich im 20. Jahrhundert zum Regulator des Agrarsektors gemacht. Er hat gezeigt, dass er in der Lage ist, eine Agrarwende herbeizuführen in Richtung Industrialisierung. Genauso hätte er es in der Hand, die Wende hin zu einer sozial­ökologischen Landwirtschaft einzuleiten.

Das versucht er doch bereits – nur wird er durch den Widerstand der Bauern blockiert. Die EU-Kommission hat bereits ein Gesetz zurückgezogen, das den Umgang mit Pestiziden neu regeln sollte. Glauben Sie, ein agrar­politischer Green Deal rückt durch die Proteste in die Ferne?
Die punktuellen Zugeständnisse, die nun gemacht werden, dienen eher dazu, den momentanen Druck abzubauen. Ich sehe nicht, dass sie den Green Deal grundsätzlich infrage stellen.

Sie sagten eingangs, der Kompromiss zwischen Bauern und Staat, der in der Nachkriegs­zeit entstand, werde neu verhandelt. Was damals auf den Weg gebracht wurde, mündete in eine land­wirtschaftliche Revolution. Wie gross ist die Veränderung, mit der die Landwirtschaft heute konfrontiert wird?
Ich glaube nicht, dass der Green Deal eine Revolution beabsichtigt. Denn er hinterfragt die Agrar­industrialisierung nicht grundsätzlich. Er will die Landwirtschaft bloss in eine weniger natur­zerstörerische Richtung lenken. Das ist kein radikaler, sondern ein reformistischer Ansatz.

Bauern­proteste gibt es alle paar Jahre. Die letzten Grossen kamen 2019 zustande. Sind die aktuellen Proteste anders?
Auffällig an den gegenwärtigen Protesten sind die Versuche von rechts­radikalen Bewegungen, die Veranstaltungen zu kapern. Das sahen wir zwar schon 2019. Aber gerade in Deutschland, wo die AfD seither gewachsen ist, hat diese Vernetzung mit dem rechts­extremen Lager eine neue Dimension.

Man sah die als rechtsextrem eingestufte «Identitäre Bewegung» auf einem Protest. Andernorts gab es offenbar ein Schild mit der Aufschrift: «Tötet Özdemir». Macht Ihnen das Angst?
Das ist schon besorgniserregend. Mein Eindruck ist aber, dass der Main­stream der Proteste nicht auf einem rechts­extremen Kurs unterwegs ist. Es handelt sich um einen radikalisierten Rand, dem man entschieden entgegentreten muss.

Sie haben erklärt, dass Landwirte sich durch die Agrar­politik bedroht fühlen – also durch den Staat. Das kann ein fruchtbarer Boden sein für staats­feindliches Gedankengut.
Es gibt in der Geschichte Beispiele dafür, dass Bauern­proteste zu einem Resonanz­raum wurden für Rechts­extremismus. In den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren wurde im Norden des Deutschen Reiches eine Bauernprotest­bewegung, die aus der Weltwirtschafts­krise hervorgegangen war, zu einem Forum, in das die NSDAP eindringen konnte. Dort wurden die Bauern zu einer Kerntruppe der erstarkenden national­sozialistischen Bewegung. Die Gefahr des Rechts­abdriftens solcher Bauern­proteste besteht also sehr wohl. Da sollten alle demokratisch Gesinnten wachsam sein.

Wie erklären Sie, dass der Protest von Deutschland aus halb Europa erreichen konnte?
Er geht sogar über Europa hinaus. Zeitgleich mit den europäischen Agrar­produzenten gehen ja auch indische Bauern auf die Strasse. Da spielt die grenz­überschreitende Medien­vernetzung mit: Die Signale bäuerlichen Protests verbreiten sich via soziale Medien und regen weitere Proteste an.

Dann sehen wir eher eine Nachahmung als eine Solidarisierung?
Es kann beides sein.

Gibt es denn so etwas wie eine internationale bäuerliche Identität?
Da muss man aufpassen, denn «die Bauern» gibt es nicht. Es gibt global gesehen die eigentlichen Bauern, grossteils im Globalen Süden, die mit ihrer Familie relativ autonom ein Stück Land bewirtschaften, um sich und die regionale Gemeinschaft zu versorgen. Dann gibt es die Agrar­unternehmer im Globalen Norden: Sie sind viel stärker abhängig von der Agrar­politik und den Märkten. Dazu kommt die kapitalistische Landwirtschaft: profit­maximierende Agrar­fabriken, die für den Weltmarkt produzieren, etwa die Nachfolger der Produktions­genossenschaften in den ex-kommunistischen Ländern. Land­wirtschaft ist so vielfältig, dass wir über sie nicht im Singular, sondern nur im Plural sprechen sollten.

Aktuell protestieren Agrarunternehmer neben Klein­bauern oder Biobauern. Es scheint, als habe die Landwirtschaft mindestens eine grosse Fähigkeit, die Reihen über diese Differenz hinweg zu schliessen.
Aber diese Geschlossenheit besteht nicht einfach so, sie wird durch Organisation erzeugt. Dazu braucht es Akteure, die innerhalb der Landwirtschaft Hegemonie herstellen. Die also einen Diskurs prägen, in dem die Identitäts­positionen einzelner Gruppen als die «bäuerliche Identität» der Gesamtheit erscheinen.

Sie meinen die Bauernverbände?
Zum Beispiel. Das hat sich in Deutschland klar gezeigt: Zum Protest aufgerufen hatte der Deutsche Bauernverband. So ein Protest passiert ja nicht einfach so. Er muss angestossen werden.

Der Deutsche Bauernverband ist wie alle Bauern­verbände mächtig. Die Strasse aber ist der Raum der Ohnmächtigen. Wie geht das zusammen?
Ich sehe die Strasse eher als einen öffentlichen Raum. Schaut man in die Geschichte, hat die bäuerliche Welt hier schon früher Macht verhandelt. In Österreich zum Beispiel, wo die Bauern stark im katholischen Milieu verhaftet waren, fanden auf der Strasse Prozessionen statt. Oft auch als Kontrapunkt zu den Mai­aufmärschen der Sozial­demokraten. Insofern ist es nicht abwegig für protest­wütige Bauern, mit Traktoren auf die Strasse zu fahren.

Dann suchen sie dort nicht nur Geld und Geltung. Sondern in erster Linie Öffentlichkeit?
Ja klar. Die Bauern­verbände verstehen: So kommt man auf die Titel­seiten der Zeitungen und in das Live-Fernsehen.

Ist das dann noch ein Protest? Oder bloss eine Kampagne?
Diese Grenzen sind fliessend. Ich glaube, es ist beides: eine Kampagne in dem Sinn, dass der Protest durch professionelle Funktionäre organisiert wird. Ein Protest, weil Landwirte die Widersprüche des Systems, in dem sie agieren, hier ausdrücken.

In der Schweiz gibt es keine ernst zu nehmenden Proteste. Der Bauern­verband hat im Gegenteil versucht, Protest­aufrufe im Keim zu ersticken. Er dringt politisch im Moment derart durch, dass er fürchten müsste, durch Strassen­blockaden Wohlwollen zu verlieren.
Das zeigt die Doppelrolle der Bauern­verbände im Industrie­staat. Sie vertreten zum einen Interessen der Bauern, oder, genauer gesagt: die Interessen jener bäuerlichen Fraktionen, die durchschlags­kräftig sind. Zum anderen gestalten Bauern­verbände die staatliche Agrar­politik mit und setzen sie gegenüber ihren Mitgliedern auch durch. Das erklärt, warum auch in Österreich kein ernst zu nehmender Protest zustande kam: Die traditionelle «Bauernpartei», die ÖVP, sitzt aktuell in der Regierung. Anders als in Deutschland, wo die CDU/CSU in der Opposition ist.

Die Bauern blockieren mit ihren Traktoren den Verkehr. So wie das zuletzt die Klima­kleber taten. Auf Letztere reagierte die Gesellschaft sehr negativ, obwohl diese Aktivistinnen für ein übergeordnetes Ziel handelten. Bei den Landwirten steht klar das Eigen­interesse im Vordergrund, aber die Reaktionen sind wohlwollender. Wie erklären Sie das?
Das zeigt, wie Hegemonie funktioniert. Das agrar­industrielle System erzeugt nicht nur billige Nahrungs­mittel, sondern über die Werbung auch wirkmächtige Vorstellungen. Da sehen wir naturverbundene Bauern auf idyllischen Höfen, die mit glücklichen Tieren auf grünen Wiesen unsere Lebens­mittel erzeugen. Da sympathisiert man als Konsument eher mit den Protest­bauern, die unser Essen produzieren, als mit verstörenden Klima­kleberinnen, die uns Auto, Schnitzel und Urlaubsflug verbieten wollen.

Vielleicht rührt die Sympathie auch daher, dass die Gesellschaft weiss: Jene Landwirte, die es noch gibt, sind Überlebende.
Gewiss. Die Erfahrung, einer schrumpfenden Gruppe anzugehören, prägt auch die Bauern selbst. Das erklärt mit, warum bei einem Aufruf zum Protest auch viele bereit sind, ihr Gefühl, an den Rand gedrängt zu werden, auf die Strasse zu tragen.

Weil sich der Protest am Treib­stoff entzündete, wurden früh Parallelen zur Gelbwesten-Bewegung in Frankreich gezogen. Jetzt halten die Proteste seit Wochen an. Kann er in eine Bewegung münden?
Das ist nicht ausgeschlossen. Aber mir erscheint wahrscheinlicher, dass die Organisatoren der Proteste versuchen, den Konflikt von der Strasse zurück an den Verhandlungs­tisch zu tragen. Denn der Strassen­protest birgt auch das Risiko des Kontroll­verlusts, wie die rechts­extremen Unterwanderungs­versuche zeigen. Das Hinter­zimmer hingegen ist kontrollierbares Umfeld. Hier wird Agrarpolitik seit 70 Jahren gemacht.

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