«Ich liebe die AHV – doch es gibt ein entscheidendes Aber»
Die Präsidentin der FDP-Frauen lehnt die 13. AHV-Rente ab und befürwortet die Erhöhung des Rentenalters. Im Interview erklärt Susanne Vincenz-Stauffacher, wieso.
Von Priscilla Imboden, 16.02.2024
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Frau Vincenz-Stauffacher, machen Sie sich Sorgen?
Ja, das mache ich mir tatsächlich, zumindest bezogen auf die Abstimmungen am 3. März. Sonst geht es mir eigentlich sehr gut. Ich bin nicht so ein sorgenvoller Mensch.
Die Frage war schon politisch gemeint.
Das dachte ich mir. Ich mache mir Sorgen, weil das Anliegen einer 13. AHV-Rente wirklich sehr sympathisch daherkommt. Wer will den eigenen Eltern oder Grosseltern nicht etwas Gutes tun? Wer will etwas ablehnen, das man dazubekommt? Doch konsequenterweise müsste man auch fragen: «Wie finanzieren wir das?»
Susanne Vincenz-Stauffacher ist Anwältin in St. Gallen. 2019 wurde sie in den Nationalrat gewählt, seit 2020 ist sie Präsidentin der «FDP. Die Liberalen Frauen Schweiz». Sie war vor drei Jahren bereits zu Gast bei Roger de Weck im Republik-Podcast «Im Gespräch»: «Ja, ich verzweifle manchmal an meiner Partei.»
Sie haben eiligst ein Frauenkomitee gegen die 13. AHV-Rente gegründet und segeln damit gegen den Wind: Laut Umfragen möchte eine Mehrheit der Stimmberechtigten der 13. AHV-Rente zustimmen. Es ist ungewöhnlich, dass eine Gewerkschaftsinitiative so populär ist. Weshalb dringen Sie mit Ihren Argumenten nicht durch?
Das liegt wohl daran, dass die Initiative das Preisschild nicht benennt. Ob das Absicht ist, um ihre Chancen zu erhöhen, weiss ich nicht. Die Folge ist aber: Es liegt nun an uns, den Gegnerinnen und Gegnern der Initiative, zu sagen, was sie kostet. Somit haben wir die Spielverderber-Funktion.
Eine undankbare Rolle.
So ist es. Ich habe neulich gegen den früheren SP-Ständerat und Gewerkschaftspräsidenten Paul Rechsteiner debattiert. Er hatte die schönere Aufgabe, weil er den Leuten sagen konnte: «Wir sehen eure Sorgen und lösen sie mit einer 13. AHV-Rente.»
Sehen Sie die Sorgen jener Rentnerinnen und Rentner auch, die wegen der sinkenden Kaufkraft finanziell unter Druck geraten?
Natürlich tue ich das. Aber ich finde die Lösung falsch, die hier präsentiert wird. Es gibt andere Möglichkeiten. Die Zustimmung zur Initiative wäre in den Umfragen tiefer ausgefallen, wenn ehrlicher gefragt worden wäre: «Sind Sie für eine 13. AHV-Rente und bereit, diese mit höheren Lohnabzügen und/oder einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zu finanzieren?»
Der Gewerkschaftsbund plädiert für eine Finanzierung über Lohnprozente und nicht über die Mehrwertsteuer, weil das sozialer sei. Die Sozialabgaben sind in den letzten Jahren insgesamt gesunken. Würden die 0,4 Lohnprozent für die Arbeitnehmenden tatsächlich ins Gewicht fallen?
Aber sicher! Arbeit in der Schweiz ist im internationalen Vergleich enorm teuer. Es fehlt nicht mehr viel, bis es kippt und dann wirklich zu teuer wird. Gerade eben haben wir Lohnprozente erhöht für die Sanierung der AHV. Zudem müssten die Arbeitgeber weitere 0,4 Prozent finanzieren, insgesamt wären es also 0,8 Lohnprozent.
Macht das wirklich so viel aus?
Nimmt man einen mittleren Lohn, werden im Falle einer Finanzierung der 13. AHV-Rente via Lohnprozente im Portemonnaie künftig 320 Franken pro Jahr fehlen. Das ist in der heutigen Zeit mit dem Kaufkraftverlust im Einzelfall nicht zu unterschätzen. Und weil der Arbeitgeber ja dieselbe Summe zahlen muss, fällt es auch gesamtwirtschaftlich ins Gewicht – gerade bei KMU kann es eng werden. Unser Wohlstand basiert auf einer gesunden Wirtschaft. Das darf man nicht einfach ausblenden. Es ist letztlich auch für unser Sozialwerk entscheidend, dass es der Wirtschaft gut geht.
Ungewöhnlich an diesem Abstimmungskampf ist, dass sich gleich fünf bürgerliche Alt-Bundesräte in einem offenen Brief für ein Nein ausgesprochen haben. Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss hingegen sagt, sie sei für die Initiative, weil sie die AHV liebe. Und Sie?
Ich liebe die AHV ebenfalls, sie ist ein sensationelles Instrument! Die Idee unserer Vorfahren, 1948 eine derart solidarische Versicherung einzuführen, war wahnsinnig gut. Doch es gibt ein entscheidendes Aber: Man kann die Solidarität irgendwann überstrapazieren. Und ich glaube, an diesem Punkt sind wir jetzt.
Auf die Solidarität der Finanzmärkte kann man aber auch nicht zählen: Die Pensionskassenrenten sinken gewaltig, unter anderem wegen tiefer Zinsen. Seit 2005 haben sie sich um 13 Prozent reduziert. Gleichzeitig steigen die Lebenskosten. Ist das kein Problem?
Ich sehe durchaus, dass es Rentnerinnen und Rentner gibt, die mit dem Kaufkraftverlust in Schwierigkeiten geraten. Jene, die aber noch viel häufiger von Armut betroffen sind, sind die Alleinerziehenden, oft sind es Frauen. Ihnen sollen wir jetzt zumuten, dass sie noch weniger Lohn haben, wenn die Lohnabzüge steigen, damit alle Rentnerinnen und Rentner ein bisschen mehr AHV bekommen. Das finde ich eine sehr schlechte Lösung.
Sie beantworten die Frage nicht. Braucht es denn keinen Ausgleich für die sinkenden Pensionskassenrenten?
Sicherlich nicht mit einer 13. AHV-Rente für alle, die mit der damit einhergehenden Mehrwertsteuererhöhung und der Erhöhung von Lohnabzügen die unteren Einkommensschichten überproportional trifft. Wer die Vorsorge wirklich verbessern will, insbesondere diejenige von Frauen, sollte die aktuelle BVG-Reform unterstützen.
Gerade Wenigverdienende würden von einer 13. AHV-Rente überproportional profitieren. Zum Beispiel eine Malerin, die Teilzeit arbeitet und 50’000 Franken brutto im Jahr verdient. Sie müsste jährlich 145 Franken mehr in die AHV einzahlen – doch wenn sie pensioniert wird, erhielte sie 1225 Franken mehr. Das lohnt sich für sie.
Schon. Aber nur, wenn sie dereinst überhaupt noch eine AHV-Rente bekommt. Wir dürfen die AHV, dieses geniale System, nicht überstrapazieren und kaputtmachen. Diese Gefahr ist real. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass es immer mehr Rentnerinnen und Rentner gibt und wir immer länger leben. Diese Entwicklung geht immer stärker zulasten der Erwerbstätigen und der jungen Generation.
Ist das nicht Angstmacherei? Die Reserven der AHV sind in den letzten Jahren stetig gestiegen, auf knapp 50 Milliarden Franken. Sämtliche Prognosen des Bundesrates, sie seien bald aufgebraucht, erwiesen sich als falsch.
Das stimmt hinsichtlich der aktuellen Reserven. Aber warum ist das so? Weil wir immer wieder Massnahmen ergriffen haben, um die AHV zu finanzieren. Es gab die Steuer- und AHV-Vorlage STAF mit Erhöhung der Lohnabzüge und Erhöhung des Bundesbeitrags eine Mehrwertsteuererhöhung und vor allem einer Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Was mich wirklich stört: Nun soll dieses Opfer, das die Frauen erbringen, einfach zunichtegemacht werden mit einer 13. AHV-Rente für alle. Das ist doch ein Hohn!
Die AHV ist für Frauen aber äusserst vorteilhaft: Sie ist die einzige Altersvorsorge, die die Betreuungs- und Erziehungsarbeit honoriert, indem diese zu höheren Renten führt. Das ist eine konkrete Umsetzung der langjährigen Forderung von Feministinnen, Care-Arbeit zu vergüten.
Das ist eine wichtige Errungenschaft. Sie hilft, dass Frauen ihre Rentenlücken zumindest teilweise schliessen können. Aber es braucht noch viel mehr Massnahmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, etwa tiefere Kosten für Kinderkrippen.
Die Rentenlücken der Frauen sind beträchtlich: Sie erhalten im Alter im Schnitt ein Drittel weniger Rente als Männer. Das ist allein mit dem individuellen Sparen in der 2. und 3. Säule zu erklären, denn ihre AHV-Renten sind praktisch gleich hoch. Sollte man der Gleichstellung zuliebe nicht die AHV ausbauen, zulasten der Pensionskassen?
Nein. Stattdessen sollten wir die Frauen befähigen, selbst auch für ihre wirtschaftliche Sicherheit vorsorgen zu können. Wenn man wirklich etwas für sie tun will, muss man die Reform der zweiten Säule annehmen, also die Revision der beruflichen Vorsorge BVG. Darüber stimmen wir im Herbst ab.
Was erhoffen Sie sich davon?
Frauen, die Teilzeit arbeiten, sollen sich besser versichern können. Doch auch das genügt nicht, es braucht zudem verbesserte Rahmenbedingungen: Frauen sollen – wenn sie das möchten – trotz Kinderbetreuung höherprozentig arbeiten können, damit sie mehr fürs Alter ansparen können.
Viele Seniorinnen und Senioren sind reich. Statistische Untersuchungen zeigen allerdings, dass mit Einbezug der Ergänzungsleistungen immer noch jede zehnte Person im AHV-Alter mit finanziellen Schwierigkeiten kämpft. Ist das nicht unwürdig?
Ja, das ist es. Armutsbetroffenen Rentnerinnen und Rentnern sollten wir unbedingt helfen, dem verschliesse ich mich überhaupt nicht. Nur stellt sich die Frage, ob wir auch jenen 90 Prozent, denen es finanziell gut geht, eine 13. AHV-Rente geben müssen.
In den letzten Jahren half das Parlament armutsbetroffenen Seniorinnen allerdings nicht. Im Gegenteil: Eine Reform der Ergänzungsleistungen (EL) hatte zur Folge, dass seit Anfang Jahr 70’000 Rentner weniger Geld erhalten. Sind das nicht leere Versprechungen, wenn Sie jetzt sagen, armutsbetroffenen AHV-Bezügern müsse unbedingt geholfen werden?
Zu dieser EL-Reform möchte ich festhalten: Sie wurde 2019 vom Parlament mit nur einer einzigen Gegenstimme verabschiedet! Sie wurde über alle Parteien hinweg unterstützt, insbesondere auch von der SP und den Grünen. Und nun zeigen diese Parteien auf die Bürgerlichen und behaupten: Ihr habt die EL gekürzt!
Passiert ist es trotzdem.
Bei der Reform ging es vor allem darum, das Vermögen stärker einzubeziehen. Sie zielte nicht auf Personen, die wirklich Geld benötigen. Es ist falsch, aus der EL-Reform zu schliessen, die bürgerlichen Parteien wollten nichts machen.
Was schlägt die bürgerliche Seite denn vor, um von Armut betroffene Seniorinnen und Senioren zu unterstützen?
Wir haben im Dezember im Nationalrat ohne Gegenstimme eine Motion überwiesen, die gezielt jene mit den tiefsten Renten unterstützen möchte. Ihre Umsetzung würde statt fünf Milliarden Franken nur eine Milliarde kosten. Bald kommt sie in den Ständerat.
Der Nationalrat hat allerdings erst in letzter Minute zugestimmt, als man erkannte, dass die Initiative für eine 13. AHV-Rente gute Chancen haben wird. Hand aufs Herz: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Ständerat nach einem Nein sehr motiviert wäre, einer abgespeckten Version der 13. AHV-Rente zuzustimmen?
Landauf, landab finden zurzeit Podiumsdiskussionen statt, in denen alle Gegner der 13. AHV-Initiative sagen: Setzen wir auf die Ergänzungsleistungen, setzen wir auf zielgerichtete Hilfe! Nach einer Ablehnung der Initiative wäre es schwierig zu erklären, warum das plötzlich nicht mehr gelten sollte.
Die Politik ist kurzlebig – was einmal gesagt wurde, ist rasch vergessen.
Das kann sein. Umso mehr sollte man die entsprechenden Personen dann auch an ihre Aussagen erinnern.
Die AHV ist die weitaus günstigste Form der Altersvorsorge. Der Gewerkschaftsbund hat ausgerechnet, wie viel teurer es Angestellte zu stehen käme, wenn sie ihre 13. AHV-Rente in der 3. Säule ansparen würden. Bei einer Malerin, einem Pfleger, einer Mikrobiologin würde das 30’000 bis 45’000 Franken mehr kosten. Bei einem Ehepaar ist es noch viel mehr, nämlich 55’000 bis 70’000 Franken. Gibt das Ihnen nicht zu denken?
Ich kann die Zahlen nicht verifizieren. Aber unabhängig davon hinkt der Vergleich. Denn ich glaube, hier vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Bei der ersten Säule gilt das reine Umlageverfahren: Die Erwerbstätigen finanzieren die Rentnerinnen und Rentner. Bei der freiwilligen dritten Säule spart jeder und jede für sich selbst.
Die Modellrechnung zeigt aber, was für gewaltige Kostenunterschiede diese unterschiedlichen Systeme für die gleiche Rente aufweisen.
Wie gesagt, man kann die beiden Systeme aufgrund ihrer unterschiedlichen Systematik nicht eins zu eins vergleichen. Vergleichen sollten wir aber die 13. AHV-Rente für alle mit den zielgerichteten Ergänzungsleistungen für Bedürftige. Und da ist man sich einig: Die Lösung mit den Ergänzungsleistungen wäre viel günstiger.
Es gibt aber keine hängigen Motionen im Parlament für eine generelle Erhöhung der Ergänzungsleistungen. Falls die Motion, die Sie erwähnt haben, im Ständerat abgelehnt wird: Bringen Sie dann neue Vorschläge?
Das kann ich mir durchaus vorstellen. Vielleicht bringen wir FDP-Frauen dann einen Vorschlag.
Wir stimmen am 3. März auch über die Renteninitiative der Jungfreisinnigen ab. Sie verlangt eine Erhöhung des Rentenalters, zuerst auf 66 Jahre, dann schrittweise weiter parallel zur Lebenserwartung. Finden Sie das eine gute Idee?
Ja, denn die AHV schlittert gemäss Prognosen in die roten Zahlen. Ohne die 13. AHV-Rente ist die AHV bis ins Jahr 2030 gesichert, danach wird sie defizitär. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken: mit höheren Lohnprozenten, einer höheren Mehrwertsteuer, einem höheren Bundesbeitrag. Oder wir kürzen die Renten, aber das will eigentlich niemand. Die Initiative der Jungfreisinnigen ermöglicht eine andere Lösung: Wir arbeiten länger. Das hat einen doppelten Effekt: Zum einen zahlen wir ein Jahr länger in die AHV ein, zum anderen beziehen wir ein Jahr weniger Rente.
Länger arbeiten ist nicht sehr populär. Für die Erhöhung des Frauenrentenalters brauchte es vier Anläufe …
Ich finde es trotzdem eine adäquate Lösung. Zudem ist die Initiative sehr sanft im Vollzug: Wir hätten bis 2033 Zeit, um das Rentenalter für alle auf 66 anzuheben. Danach wird es an die Lebenserwartung gekoppelt: Es erhöht sich um höchstens zwei Monate pro Jahr. Laut Prognosen würde das Rentenalter im Jahr 2050 etwa bei 67 Jahren und 7 Monaten liegen. In Dänemark hat man mit einem solchen System gute Erfahrungen gemacht. Es ergibt Sinn und trifft alle gleich.
Ist das nicht genau das Problem? Sie als Anwältin oder ich als Journalistin können vielleicht länger arbeiten. Doch bei Menschen, die körperlich anstrengende Arbeit verrichten – etwa Pflegefachfrauen oder Lagerarbeiter –, sieht es anders aus.
Sie haben recht. Doch dieses Problem existiert heute schon, mit Rentenalter 65. Man könnte es auch mit Rentenalter 66 so lösen, wie man das bis anhin tut, nämlich mit Branchenvereinbarungen. Bauarbeiter etwa können mit 60 in Rente gehen.
Es gibt aber keine andere solche Branchenvereinbarung.
Die Möglichkeit besteht. Mit einer Annahme der Renteninitiative könnte es einen Schub für solche Branchenvereinbarungen geben, vielleicht gerade auch in der Pflege.
Können Sie garantieren, dass Arbeitnehmende mit körperlich anstrengenden Berufen früher in Rente gehen können?
Nein, garantieren kann ich das nicht. Aber ich kann versprechen, dass ich mich dafür einsetzen werde. Allerdings sind solche Vereinbarungen nicht Sache der Politik, sondern der Branchenverbände. Weil die Sozialpartnerschaft in der Schweiz eine grosse Tradition hat, bin ich überzeugt, dass weitere Vereinbarungen möglich sind.
Wie ist das bei Ihnen persönlich: Wie lange wollen Sie arbeiten?
Ich bin eine klassische Milizpolitikerin: Ich sitze im Parlament, arbeite aber weiterhin auch als Anwältin. An beidem habe ich enorm Freude. Zugleich bin ich mir bewusst, dass ich sehr privilegiert bin. Meine Nachfolge ist bereits geregelt – eine meiner Töchter ist schon heute Partnerin in meiner Kanzlei. Kürzlich bin ich 57 Jahre alt geworden, und ich glaube nicht, dass ich mit 65 oder mit 66 Jahren aufhören werde. Solange ich gesund bleibe, werde ich weiterarbeiten.