Der Skandal sind nicht die trans Kinder

Die medizinische Begleitung von jungen trans Menschen in der Schweiz steht unter medialem und politischem Druck. Was das für Betroffene bedeutet.

Von Ronja Beck (Text) und Hélène Blanc (Illustration), 15.02.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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Schummriges Licht, düstere Hintergrund­musik und Menschen in Kapuzen­pullovern: Diese Geschichte bringt nichts Gutes – so viel ist klar.

So beginnt eine Sendung des Investigativ-Teams von SRF, die Mitte Januar ausgestrahlt wurde. Sie handelt von jungen trans Menschen und von anonymen Eltern, die sich sorgen. Neun haben einen Brief an die Zürcher Gesundheits­direktion von Natalie Rickli verfasst. Darin prangern die Eltern den Umgang verschiedener Institutionen mit ihren Kindern an. Die Abklärung auf Geschlechts­dysphorie, also die leidvolle Abweichung des zugeschriebenen zum empfundenen Geschlecht, sei zu schnell erfolgt; Eltern und Kinder seien unter Druck gesetzt worden, medizinischen Massnahmen zuzustimmen.

In mehreren Fällen richtet sich die Kritik an die Kinder- und Jugend­psychiatrie und Psycho­therapie in Zürich, kurz KJPP, die einzige namentlich kritisierte Institution. Auch die Zürcher Gesundheits­direktion mahnt in einer Stellungnahme zu «äusserster Zurück­haltung» bei entsprechenden Behandlungen und prüfe gemäss SRF «weitere Abklärungen».

Es sind heikle, viel diskutierte Fragen, die die Sendung aufwirft: Ab wann sind Minder­jährige bereit, Entscheidungen über medizinische Massnahmen zu fällen – etwa über die Einnahme von Pubertäts­blockern oder das Durch­führen einer Operation? Sind die Abklärungen umfassend genug? Was, wenn Betroffene die Schritte später bereuen?

Dieses Mal zielen die Fragen auf die schweizweit wichtigste Institution für trans Kinder und Jugendliche: die KJPP und ihre medizinische Leiterin Dagmar Pauli. Pauli schuf vor über dreizehn Jahren die erste medizinische Anlaufstelle für junge Menschen, die sich mit dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht nicht identifizieren können.

Nik Flütsch kann die Anschuldigungen der Eltern gegen Dagmar Pauli nicht nachvollziehen. Flütsch, Gynäkologe und trans Mann, ist als behandelnder Arzt ebenfalls Teil der Sendung. Er plädiert darin für eine sorgfältige Abklärung von jungen Menschen mit Geschlechts­inkongruenz.

Er hat nach der Ausstrahlung der Sendung eine Beschwerde bei der SRG eingereicht, sagt Flütsch der Republik: «Ich wurde nicht darüber aufgeklärt, dass die Sendung die KJPP anklagt und meine Ausführungen auf die Anschuldigungen münzt.»

Auch über den konkreten Inhalt des Eltern­briefes sei er nicht informiert worden. Seit zehn Jahren arbeite er mit Pauli zusammen und erhalte Zuweisungen von der KJPP. «Ich kenne keine Person in diesem Feld, die seriöser arbeitet als Dagmar Pauli», sagt er.

Das SRF bestätigt den Eingang der Beschwerde bei der Ombudsstelle. Konfrontiert mit der Kritik heisst es, die SRF-Journalistin habe im Interview mit Nik Flütsch «mehrere Kritik­punkte der Eltern» besprochen. Ausserdem seien seine Aussagen «nicht im Kontext mit der Kritik an Dagmar Pauli verknüpft». Flütsch sei über alle Inhalte, die ihn betrafen, informiert worden. Protagonisten eines Filmes über Äusserungen zu informieren, die in einem anderen Kontext fallen, sei «nicht üblich», so SRF.

Dagmar Pauli wünscht sich derweil, die besorgten Eltern hätten sich bei ihr gemeldet, sagt sie zur Republik. Sie würde gerne mit ihnen sprechen und ihre Anliegen aufnehmen. Pauli ist nach der Sendung spürbar aufgewühlt. Sie mache sich Sorgen um die Kinder und Jugendlichen, die sich an sie und ihr Team wenden. «Sollten wir an unserer Arbeit gehindert werden, sind die Jugendlichen die Leidtragenden.»

Viel Presse über wenige

Seit Jahren stehen trans Personen – die gemäss Schätzungen einen einstelligen Prozentsatz der Gesamt­bevölkerung ausmachen – regelmässig im Scheinwerfer­licht von Schweizer Presse und Politik. Manchmal ohne Umschweife, manchmal als Raunen vermitteln zahlreiche Berichte und Vorstösse das Gefühl: Hier stimmt etwas nicht. Hier geschehen Dinge, die nicht geschehen sollten.

Etwa wenn in einer der auflagen­stärksten Wochenzeitungen der Schweiz die Rede ist von einer «epidemischen Zunahme» von jungen trans Personen in der Schweiz, die sich für eine geschlechts­angleichende Operation entscheiden. Mit dieser Wortwahl lässt sie den Bezug zu einer Krankheit anklingen – eine veraltete sowie diskriminierende Bewertung von Transidentität, die wissenschaftlich unhaltbar ist.

Oder wenn in einem Interview mit einer strittigen Ärztin Begriffe wie «soziale Ansteckung» (geprägt von einer weiteren strittigen Ärztin) unhinterfragt verwendet werden, obwohl die Idee, dass sich junge Menschen aufgrund ihres Umfeldes oder der sozialen Netzwerke plötzlich als trans definieren, von zahlreichen Fachverbänden als unbelegt, potenziell schädlich und fruchtbarer Boden für transfeindliche Gesetzes­vorlagen bezeichnet wird.

Auch Menschen, die ihre Transition bereuen und manchmal rückgängig machen, sind wiederkehrend Thema in der Schweizer Bericht­erstattung. Obwohl ihre Anzahl klein ist und eine Detransition aus vielfältigen Gründen geschehen kann, die nichts mit Reue über die eigentlichen Massnahmen zu tun haben müssen.

Viele der kritischen Beiträge werfen nicht bloss Fragen auf, sie beziehen Position. Und zwar in einer Zeit, in der Geschlechts­identitäten jenseits der Binarität immer sichtbarer werden und gleichzeitig konservative und rechte Kräfte das Thema zum Kampffeld erklären. So stellten in den vergangenen Jahren in der Schweiz mehrere nationale Vorstösse von Vertretern der Mitte, der SVP und der EVP die medizinische Begleitung von minderjährigen trans Personen infrage. Das Kantons­parlament in Bern entschied Ende 2023 gar mit knapper Mehrheit, geschlechts­angleichende Operationen für Minder­jährige zu verbieten.

«Ein solches Verbot würde klar gegen internationales Menschen­recht verstossen, vor allem gegen das Recht von Kindern auf diskriminierungs­freien Zugang zu guter Gesundheits­versorgung. Zudem haben die Kantone gar keine Kompetenz, so ein Verbot zu erlassen», sagt Alecs Recher, Jurist und Gründer des Transgender Network Switzerland, kurz TGNS. «Unser Zivilgesetz­buch gibt vor, dass urteils­fähige Minder­jährige selbst über medizinische Behandlungen entscheiden dürfen, das gilt für Geschlechts­angleichungen genauso wie für jede andere Behandlung.» Entsprechend, so Recher, müssten Diskussionen darüber auf medizinischer Fach­kompetenz fussen «und nicht auf politischer Meinung».

Auch der Bundesrat hat bereits mehrfach festgehalten: Die Verantwortung für Behandlungen liegt bei den Ärztinnen und nicht bei den Politikern.

Vorstösse wie jene in Bern gibt es nicht nur in der Schweiz. Besonders in den USA steht die gesundheitliche Versorgung von trans Personen unter Beschuss. In zahlreichen Bundesstaaten sind seit vergangenem Jahr Pubertäts­blocker, Hormon­therapien oder Operationen für Minder­jährige gesetzlich verboten – für praktizierende Ärzte und betroffene Familien ein schwerer Schlag. In Europa traten bisher keine neuen Verbote in Kraft, und doch wurden in Ländern wie Schweden, Finnland oder England die Richt­linien und Empfehlungen für die Behandlung von Minder­jährigen mit Gender­dysphorie eingeschränkt. Häufige Begründung: Man wisse noch zu wenig über die Auswirkungen der geschlechts­angleichenden Massnahmen.

Betroffene und Fachpersonen verfolgen diese Entwicklung mit Sorge. So etwa Annelou de Vries, eine bekannte niederländische Psychiaterin, die die heute verbreiteten Behandlungs­standards massgeblich geprägt hat. Dem Magazin «The Atlantic» sagte sie: «Wenn wir warten, bis uns die höchste medizinische Evidenz die Antworten liefert, müssen wir mit den Behandlungen ganz aufhören.»

Der Ablauf einer Abklärung

Für Dagmar Pauli ist reines Zuwarten keine Option. Seit sie eine Sprechstunde für Geschlechts­identität anbietet, erlebt sie Kinder und Jugendliche, denen es schlecht geht – so schlecht, dass manche den Lebens­willen verlieren. «Mir wurde schnell klar: Für diese Menschen nichts zu tun, ist offensichtlich gefährlich», sagt Pauli.

Über 300 trans Personen und ihre Familien hat die Chefärztin gemeinsam mit ihrem Team laut eigenen Angaben bereits begleitet. Sie sieht, wie junge Menschen an ihrer Geschlechts­inkongruenz leiden. Sie hört ihren Schilderungen zu und stellt sie nicht in Abrede. Dafür stellt sie «heraus­fordernde Fragen», wie sie sagt. Und räumt sogleich mit einem oft polemisch propagierten Missverständnis auf: dass der sogenannte affirmative Ansatz in der medizinischen Begleitung von trans Personen bedeutet, keine kritischen Fragen zu stellen und die Person stattdessen in allen Punkten zu bestärken.

«Affirmativ und ergebnis­offen sind kein Widerspruch», sagt Dagmar Pauli. «Es ist wichtig, dass sich die Jugendlichen verstanden fühlen, damit man sie nicht verliert. Und dann kann ich neugierige Fragen stellen: Wie war es früher? Hat sich das Gefühl verändert? Kannst du darüber nachdenken?»

Die Abklärung und die Anzahl der Sitzungen seien sehr individuell und erstreckten sich über mehrere Monate – mit zwingendem Einbezug der Eltern. Oft daure aber die Beobachtungs­phase danach noch viel länger. Viele Jugendliche benötigen zudem eine Psycho­therapie, da sie häufig unter psychischen Begleit­störungen leiden.

Auch die Detransition werde immer thematisiert, sagt Pauli. «Wir geben immer die Hausaufgabe mit, sich Videos von detransitioners anzuschauen. Und wenn ich einen Fall mit erhöhtem Risiko einer Detransition sehe, dann sage ich das der betroffenen Person und den Eltern auch.»

Nach den Sitzungen wird über die weiteren Schritte entschieden: beispiels­weise über die Einnahme von Pubertäts­blockern, die körperliche Veränderungen verzögern, aber reversibel sind und den jungen Menschen damit Zeit verschaffen, sich gründlich mit sich selbst auseinander­zusetzen. Manchmal folgt auch eine Familien­therapie, falls das Verhältnis zu den Eltern im Argen liegt. Und manchmal, da entscheidet man sich gemeinsam gegen weitere Schritte. Für dieses Vorgehen erhalte die KJPP oft positive Rückmeldungen von den Betroffenen, sagt die Chefärztin.

Eine Abklärung kann laut Pauli auch mal schneller gehen, wenn etwa der Stimmbruch bevorsteht, der sich mit Hormonen nicht mehr rückgängig machen lässt, und Kind wie Eltern dringend eine Behandlung wünschen.

Dagmar Pauli macht kein Geheimnis aus ihrer Arbeit – erst kürzlich hat sie ein Buch darüber verfasst. Umso mehr mache es sie betroffen, wenn in der öffentlichen Debatte unterstellt werde, die Behandelnden hegten ein geheimes Eigen­interesse an den Transitionen. «Dabei wissen wir sehr genau, was für ein schwerer Weg eine Transition bedeutet.»

Falls in den Gesprächen, die im SRF-Beitrag kritisiert wurden, tatsächlich Fehler geschehen seien – sie habe die Jugendlichen nicht persönlich betreut, sagt Pauli –, wolle sie diesen natürlich nachgehen. Laut Pauli befanden und befinden sich keine der im Brief erwähnten trans Jugendlichen aus der KJPP in medizinischer Behandlung – es fanden nur Abklärungen, Psycho­therapie und Eltern­beratungen statt. Das heisst: Die Jugendlichen erhielten weder Arzneistoffe, noch durchliefen sie eine Operation. In der Sendung bleibt dies unerwähnt.

Ein dubioser Elternverein als Treiber

Man könne nicht die gesamte Bericht­erstattung über junge trans Personen in einen Topf werfen, sagt TGNS-Gründer Alecs Recher. «Leider aber wird viel Problematisches, Unsachliches publiziert.» Nicht nur in der Allgemein­bevölkerung, sondern auch bei Journalistinnen fehle es offenbar an Grundlagen­wissen. Zudem lasse sich das Thema «leicht emotional aufladen», so Recher.

Eine besondere Rolle spielt eine «Interessen­organisation» aus der Romandie. Immer wieder ist vom Verein AMQG/AUFG zu lesen – in einem parlamentarischen Vorstoss wie in angriffigen Medien­berichten. Auch die SRF-Journalistinnen sollen über die Gruppe zum besagten Elternbrief gelangt sein. Ihre Mitglieder setzen sich gemäss eigenen Angaben «für einen angemessenen Umgang mit Fragen zum Geschlecht bei jungen Menschen ein».

Schon kurz nach der Gründung schaffte es der Verein AMQG/AUFG im Sommer 2021 in die Nachrichten. Die Vereins­gründerinnen meldeten zwei Genfer Ärzte bei den Behörden, weil sie bei ihren Kindern angeblich vorschnell eine Gender­dysphorie diagnostizierten. Wie die Anwältin eines der Ärzte auf Anfrage der Republik schreibt, stehe ein Entscheid der Genfer Kontroll­behörde zu ihrem Klienten bis heute aus.

Man fordere «mehr Forschung und evidenz­basiertes Wissen» zu Geschlechts­inkongruenz, Gender­dysphorie und Transidentität bei Jugendlichen, schreibt der Verein auf seiner Website. Und plädiert gleichzeitig für den Ansatz der «explorativen Psycho­therapien», in denen Kindern ein angeblich «psycho­therapeutischer Rahmen» gegeben wird, um «den Ursachen ihrer Beschwerden» auf den Grund zu gehen. In Tat und Wahrheit handelt es sich bei der sogenannten gender-exploratory therapy um eine Form der Konversions­therapie, die LGBTQ-Personen «heilen» soll.

Das ist offenbar auch AMQG/AUFG bewusst: Eine Meldung über eine Motion des Nationalrates, die Konversions­therapien schweizweit verbieten will, betitelt der Verein auf seiner Website mit der Frage «Explorative Therapie in Gefahr?». In verschiedenen Ländern weltweit sind Konversions­therapien verboten.

In den sozialen Netzwerken fällt der Verein derweil regelmässig mit transfeindlichen Beiträgen auf.

Überraschend ist das alles nicht. Gleichartige Gruppen bestehen in vielen Ländern, oft sind sie miteinander vernetzt und gestalten sich im selben Muster: Auf den ersten Blick erwecken sie den Eindruck, sich interessiert mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Transidentität auseinander­setzen zu wollen. Bei genauerem Hinsehen aber offenbart sich eine von Pseudo­wissenschaft unterfütterte transphobe Agenda.

All das geschieht im Spannungs­feld zwischen gesellschaftlichen Realitäten und medizinischen Unsicherheiten. Junge trans Personen suchen medizinische Hilfe, gleichzeitig zeigt die Forschung dazu Lücken, die gefüllt werden müssen. Einige Menschen brechen Therapien ab oder machen Entscheidungen rückgängig. Und ja, es können Fehler passieren. Das sagt und schreibt auch Medizinerin Dagmar Pauli. «Deswegen muss man doch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und gegen die Unter­stützung von trans Jugendlichen an und für sich polemisieren.»

Alecs Recher sagt: «Man verbessert eine Behandlung nicht, indem man sie verbietet.» Er wünscht sich, dass Ruhe einkehrt in die öffentliche Debatte. «Einzelne Fälle werden derart aufgebauscht und skandalisiert. Dabei ist der grosse Teil der Jugendlichen, die sich medizinisch behandeln lassen, damit zufrieden.» Jugendliche, so Recher, die stark marginalisiert sind, die lange keinen Zugang zu Behandlungen hatten, die sich diesen Zugang unter grosser Anstrengung verschafft haben und die nun dafür angegriffen werden. «Das ist doch der wahre Skandal.»

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