Die EU-Richter sind gute Richter – auch für die Schweiz
Kommt es zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zum Streit, soll künftig der Europäische Gerichtshof ein wichtiges Wort mitreden. Dieser Vorschlag des Bundesrats stösst auf Kritik. Dabei sei das eine gute Sache, sagt der Zürcher Rechtsprofessor Matthias Oesch.
Von Matthias Oesch (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 02.02.2024
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2000 Lire oder umgerechnet etwa 20 Schweizer Franken. So hoch war die Stromrechnung, die der italienische Anwalt Flaminio Costa dem staatlichen Elektrizitätswerk Enel im Jahr 1962 schuldete – und so hoch war damit der Streitwert des bahnbrechendsten Urteils, das der Europäische Gerichtshof (EuGH) je gefällt hat. Ein läppisch geringer Betrag! Trotzdem bezahlte Costa die Rechnung nicht. Er war der Meinung, dass die Verstaatlichung der Stromproduktion in Italien gegen das europäische Recht verstiess.
Ein Mailänder Gericht ersuchte im Fall Costa den EuGH mit Sitz in Luxemburg um Klärung der Rechtslage. Dieser stellte fest, dass die EU-Mitgliedstaaten «eine eigene Rechtsordnung» geschaffen und – wenn auch auf begrenztem Gebiet – «ihre Souveränitätsrechte beschränkt» hätten. Damit begründete der Gerichtshof den Vorrang des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Recht. Costa musste die Rechnung nicht bezahlen – weil die Verstaatlichung der Stromproduktion nicht alle europarechtlichen Voraussetzungen erfüllte. Seine Prozessfreudigkeit wurde belohnt.
Gleichzeitig legte der EuGH den Grundstein für seine überragende Rolle bei der Vertiefung der europäischen Integration. Er beansprucht für sich das letzte Wort nicht nur über die Auslegung des europäischen Rechts, sondern auch darüber, ob es daneben überhaupt noch Raum für nationales Recht gibt. Und er sichert das Recht in allen Bereichen des europäischen Binnenmarktes und prägt damit das Leben der Menschen nachhaltig.
Matthias Oesch ist Rechtsprofessor an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU, das EU-Recht und das internationale Wirtschaftsrecht. Dieser Beitrag beruht auf seinem kürzlich erschienenen Buch «Der EuGH und die Schweiz».
Jetzt steht zur Debatte, dem Europäischen Gerichtshof bei Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU über die Auslegung der bilateralen Abkommen eine prominente Rolle zukommen zu lassen. Das jedenfalls schlägt der Bundesrat in seinem Entwurf für das Verhandlungsmandat mit der EU vor.
Höchste Zeit also, den EuGH, seine wegweisenden Urteile, ihre Bedeutung für die Schweiz und das geplante Streitbeilegungsmodell kennenzulernen.
Likör, Fussballer und Flugpassagiere
1952 gegründet, trieb der EuGH in den Anfangsjahren vor allem die wirtschaftliche Integration voran. Er ermöglichte den Menschen und Unternehmen, sich direkt auf das europäische Recht zu berufen, und wirkte so als «Integrationsmotor» für Europa.
Viele seiner Urteile hatten Folgen für das ganz konkrete Leben der EU-Bürgerinnen. Sie betreffen den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Davon profitierte zum Beispiel der Cassis-de-Dijon-Likör. Deutschland hatte die Einfuhr des Likörs aus Frankreich verboten, weil dessen Alkoholgehalt nicht dem deutschen Branntweingesetz entsprach. Der EuGH erklärte das Verbot für unzulässig. Die Folge: Ein Produkt, das in einem EU-Mitgliedstaat zugelassen ist, darf auch in allen anderen EU-Mitgliedstaaten verkauft werden.
Der Belgier Jean-Marc Bosman wiederum erstritt vor dem Europäischen Gerichtshof das Recht für sämtliche Profifussballer, nach Vertragsende ablösefrei zu einem neuen Verein zu wechseln. Im gleichen Urteil erklärte der EuGH die Regeln von Sportverbänden für unzulässig, wonach Sportvereine nur eine gewisse Anzahl von Spielerinnen aus anderen EU-Mitgliedstaaten einsetzen durften.
Aber der EuGH redete nicht nur einer weitergehenden Marktöffnung das Wort. Er berücksichtigte auch andere Anliegen der Bevölkerung. So stärkte er die Rechte der Flugpassagiere: Gestrandete Passagierinnen erhalten Ausgleichszahlungen, sofern Flüge nicht wie vereinbart durchgeführt werden. Dies gilt gemäss EuGH nicht nur bei einer Annullierung eines Fluges (wie es die EU-Gesetze vorschreiben), sondern auch bei einer Verspätung. Dabei gewichtet der EuGH den Konsumentenschutz höher als die Interessen der Fluggesellschaften.
Für faire Löhne – und für Grundrechte
Es liegt in der Natur von Gerichtsurteilen, dass sie nicht überall Begeisterungsstürme auslösen. So monieren Gewerkschaften, der EuGH würde die Interessen der Wirtschaft höher gewichten als den Schutz der Arbeitnehmenden. Die europäische Integration habe eine «sozioökonomische Schlagseite».
Diese Kritik richtete sich insbesondere gegen einzelne Urteile des EuGH vor rund 15 Jahren, wonach gewerkschaftlich organisierte Streiks für eine bessere Entlöhnung nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig sind.
Der EuGH hat seine Rechtsprechung in der Zwischenzeit aber neu justiert. Das auch deshalb, weil der EU-Vertrag die EU seit 2009 auf eine «wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft» verpflichtet, «die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt». Die Entsendegesetzgebung verpflichtet nun ausdrücklich auf das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Und der EuGH akzeptierte 2020 das zentrale Argument zur Revision dieser Gesetzgebung, wonach «ein besserer Arbeitnehmerschutz notwendig ist, um den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sicherzustellen». Damit beurteilte er die Revision als zulässig.
Daneben hat der EuGH mit seinen Urteilen in Europa auch einen hochwertigen Grundrechtsschutz entwickelt.
Das zeigt sich zum Beispiel beim Datenschutz. Der EuGH begründete ein «Recht auf Vergessenwerden» und bejahte einen Anspruch auf Löschung personenbezogener Daten gegenüber Google. Er erklärte die Übermittlung von Daten in die Vereinigten Staaten nur unter der Voraussetzung als zulässig, dass dort ein angemessener Datenschutz gewährleistet wird; der österreichische Aktivist Max Schrems hatte gegen Facebook gesiegt. Welches andere Gericht ist in der Lage und bereit, die Vereinigten Staaten dazu zu bringen, den Datenschutz zu verbessern?
Selbst bei Sanktionen nimmt der EuGH die Grundrechte ernst. So erklärte er jene, die die EU gegen die Mutter von Jewgeni Prigoschin verhängt hatte, für nichtig – also die Sanktionen gegenüber der Mutter des ehemaligen Chefs der russischen Wagner-Gruppe. Die Verwandtschaft allein reiche hierfür nicht aus. Der EuGH urteilt auch gegenüber einer Klägerin aus dem Umfeld von zwielichtigen Gestalten unbefangen und auf der Grundlage grundrechtlicher Überlegungen.
Ein Garant für Rechtsstaatlichkeit
Zurzeit ist die EU gefordert, auf rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen in Ungarn und Polen zu reagieren. In diesen Staaten wurde und wird die Unabhängigkeit der Gerichte ausgehöhlt.
Aus diesem Grund haben sich die EU-Organe darauf geeinigt, die Auszahlung von EU-Geldern an diese Staaten zu blockieren. Ungarn wartet weiterhin auf Beiträge in zweistelliger Milliardenhöhe aus Brüssel.
In der Zwischenzeit hat der EuGH die Rechtmässigkeit dieses Vorgehens bestätigt. In weiteren Urteilen benannte er die systemischen Defizite in diesen Staaten und forderte Remedur. So verurteilte er Polen 2021 zur Zahlung eines Zwangsgelds von einer Million Euro pro Tag, weil sich das Land geweigert hatte, eine Anordnung zur umstrittenen Justizreform umzusetzen.
Allerdings besteht die Gefahr, dass der EuGH hier an seine Grenzen stösst. Dies gilt umso mehr, als dass das polnische Verfassungsgericht 2021 die Kompetenz des EuGH, sich zur Unabhängigkeit nationaler Gerichte zu äussern, in Abrede stellte. Eine unheilvolle Entwicklung! Der EuGH ist darauf angewiesen, dass die nationalen Gerichte seine Urteile ohne weiteres annehmen und in ihrer täglichen Arbeit beachten. Andernfalls ist das Rechtsschutzsystem in der EU zum Scheitern verurteilt.
Die EU bestimmt das Recht der Schweiz schon heute
Manche Urteile des EuGH hinterlassen ihre Spuren auch in der Schweiz. Der «Brussels effect», wonach sich Staaten und Unternehmen auf der ganzen Welt an den Regeln und Standards der EU orientieren, wirkt auch hier – und dies in erheblichem Ausmass. Das europäische Recht fasst in der Schweiz Fuss. Auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck.
So legen die Behörden die bilateralen Abkommen, mit denen die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilnimmt, routinemässig im Licht der EuGH-Praxis aus. Auf diese Weise gehören unzählige Urteile des EuGH zum rechtlichen Handwerkszeug in der Schweiz. Dazu zählen nicht nur die oben erwähnten Urteile zum Fussball und zu den Passagierrechten, sondern auch solche, die spezifisch die supranationale Rechtsordnung der EU betreffen.
Wer hätte erwartet, dass das Bundesgericht auf das besagte Urteil des EuGH zum Vorrang des europäischen Rechts Bezug nimmt und darauf gestützt einen strikten Vorrang des Freizügigkeitsabkommens vor Schweizer Gesetzen begründet?
Die Schweizer Behörden orientieren sich auch an Urteilen des EuGH, wenn sie nationales Recht auslegen, das dem EU-Recht autonom nachgebildet wurde. Es gibt einen eigentlichen «Europareflex». Präjudizien des EuGH spielen etwa im Wettbewerbsrecht, im Finanzmarktrecht, beim Datenschutz und bei Sanktionen eine zentrale Rolle. Im Nachgang zum erwähnten Urteil des EuGH zur Übermittlung von Personendaten in die USA änderte auch die Schweiz ihre Vorgaben gegenüber den Vereinigten Staaten. Der EuGH gab hier den Takt an – und die Schweiz folgte.
So setzte die Schweiz auch das Urteil des EuGH zu den Sanktionen im Fall der Mutter von Jewgeni Prigoschin um. Und das Cassis-de-Dijon-Prinzip fand ebenfalls Eingang ins schweizerische Recht.
In Ausnahmefällen wirken sich Urteile des EuGH sogar direkt in der Schweiz aus – ohne Zutun der hiesigen Behörden. Google passte seine Geschäftspraktiken den Vorgaben aus Luxemburg gleich für ganz Europa an, nachdem der Konzern im oben erwähnten Urteil zum «Recht auf Vergessenwerden» verpflichtet worden war, Verweise auf Webeinträge zu löschen. Der EuGH agierte hier als Supreme Court für Europa.
Europäische Richter – auch zum Schutz der Schweiz
Wie eingangs erwähnt, steht jetzt zur Debatte, die bilateralen Abkommen auf ein neues institutionelles Fundament zu stellen.
In den letzten Monaten haben sich der Bundesrat und die EU-Kommission in Vorgesprächen auf ein Streitbeilegungsmodell geeinigt, bei dem der EuGH eine prominente Rolle spielt. Demnach sollen die Schweiz und die EU bei Unstimmigkeiten die Einsetzung eines paritätisch zusammengesetzten Schiedsgerichts verlangen können. Ein solches Schiedsgericht müsste zur Auslegung von EU-Recht, das in ein bilaterales Abkommen übernommen wurde, aber den EuGH anrufen und den Streitfall aufgrund der Rückmeldung des EuGH entscheiden.
Die Idee, die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU zu entpolitisieren und einer gerichtlichen Instanz zu überantworten, verdient Zustimmung.
Dies spielt der Schweiz als politisch und wirtschaftlich weniger mächtigen Vertragspartei in die Hände. Sie wird vor ungerechtfertigten Massnahmen der EU geschützt, kann den vereinbarten Marktzugang gerichtlich einfordern und ist nicht mehr allein auf den Goodwill der EU angewiesen.
Das vereinbarte Modell beruht auf einem klassischen Schiedsgerichtsansatz, wie er im Wirtschaftsvölkerrecht gang und gäbe ist. Allein der Einbezug des EuGH ist gewöhnungsbedürftig. Würden hier «fremde Richter» urteilen? Das ist billige Rhetorik. Der EuGH ist institutionell zwar tatsächlich das Gericht der Gegenpartei. Ebenso ist nicht ideal, dass die Schweiz im EuGH personell nicht vertreten ist, weder auf der Richterinnenbank noch in der Gerichtsschreiberei.
In der Sache würde der EuGH aber nicht als verpöntes Gericht der Gegenpartei amten, sondern als Gericht des EU-Binnenmarktes, an dem die Schweiz in gewissen Bereichen aus freien Stücken teilnimmt. Das EU-Recht, das auf die Schweiz ausgedehnt wird, bleibt EU-Recht, das letztinstanzlich vom EuGH als höchstem Gericht dieses Binnenmarktes ausgelegt wird.
Dabei deutet nichts darauf hin, dass der EuGH konsequent gegen die Schweiz entscheiden würde. Im Gegenteil: Der EuGH beweist bei der Auslegung der bilateralen Abkommen bereits heute, dass er in der Lage ist, in solchen Konstellationen sachlich und unparteiisch zu urteilen.
Die praktische Bedeutung der angestrebten Streitschlichtung dürfte sich zudem auch künftig auf wenige – dann allerdings publikumswirksame und politisch aufgeladene – Fälle beschränken. Im Alltag erfolgt der Rechtsschutz bei den bilateralen Abkommen weiterhin durch die Gerichte in der EU und der Schweiz. Es liegt an den Menschen und Unternehmen, die ordnungsgemässe Anwendung der Abkommen einzufordern und die Gerichte anzuhalten, die Praxis des EuGH kontextgerecht zu berücksichtigen. Hier wird der Einfluss des EuGH auf die bilateralen Beziehungen weiterhin am deutlichsten sichtbar sein.
Der Blick auf die 70-jährige Geschichte des EuGH und auf die Bedeutung seiner Urteile für die Schweiz erhellt, dass dieser keine Blackbox ist. Unsere Behörden sind es gewohnt, das schweizerische Recht im Licht der EuGH-Urteile auszulegen und weiterzuentwickeln. Die Menschen und Unternehmen in der Schweiz haben von manchen Urteilen aus Luxemburg in ähnlicher Weise profitiert wie die Menschen und Unternehmen in der EU.
Der Schritt, dem EuGH eine prominente Rolle bei der Streitbeilegung zuzuweisen, wäre institutionell und rechtskulturell ein beachtlicher. Praktisch wären die Folgen aber überschaubar. Die Schweiz kann einem Modell, bei dem der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts in den bilateralen Abkommen zuständig ist, mit guten Gründen zustimmen. Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung.