Am Gericht

Von Screenshots und anderen Unsittlichkeiten

2023 wird Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin vom Zuger Strafgericht verurteilt, ein Jahr später freigesprochen – Thema ist beide Male eine Lappalie. Die wirklich wichtigen Entscheide in dieser Sache werden in den kommenden Tagen und Wochen in anderen Gerichts­sälen gefällt.

Von Brigitte Hürlimann, 31.01.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
0:00 / 16:38

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Im Oktober 2016 gründet die ehemalige Zuger Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin den Verein Netzcourage; mit dem Ziel, Opfer von digitaler Gewalt zu unterstützen. Im Berichts­jahr 2022/2023 hat der Verein 187 Betroffene beraten – so viele wie noch nie, wie der Verein in einer Medien­mitteilung schreibt. Und: 2023 habe man sich aufs Thema Cyber­stalking fokussiert. «Die Erwirkung von Präzedenz­urteilen in diesem Bereich ist von enormer Bedeutung», heisst es in der Mitteilung.

Spiess-Hegglin ist als Geschäfts­führerin von Netzcourage zweimal ausgezeichnet worden – für ihre Pionier­arbeit und ihre Innovation. Den Verein hat sie gegründet, weil sie sich selbst seit bald einem Jahrzehnt gegen Übergriffe im Netz wehren muss. Die Hetze begann 2014, als sie, damals Zuger Kantons­rätin der Grünen, unfreiwillig in die Schlagzeilen geriet – wegen bis heute ungeklärter Vorkommnisse an der Zuger Landammann­feier. Der «Blick» outete Spiess-Hegglin damals ohne ihr Einverständnis und lancierte mit seinem Artikel eine mediale Schlamm­schlacht: gespickt mit Falsch­informationen, Schuld­zuweisungen, Persönlichkeits­verletzungen – und einer gehörigen Portion Sexismus.

Dagegen wehrt sich die 43-jährige Netz­aktivistin, Ehefrau und Mutter von drei Kindern bis heute. In der jüngsten Prozesswelle, in der sie sowohl als Beschuldigte als auch als Geschädigte auftritt, geht es nicht nur um die traditionellen Medien. Die ausufernde Bericht­erstattung über die Landammann­feier 2014 ist längst auf Social Media übergeschwappt und hat dort – freundlich ausgedrückt – neue Akteure hervorgebracht.

Ort: Strafgericht Zug
Zeit: 22. Januar 2024, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: SE 2023 43
Thema: Mehrfacher Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen

Der Auftakt zur Prozessserie 2024 findet in der Stadt Zug statt, an einem regnerischen, trüben Montag­morgen. Es ist ein kleiner Fall, Svea Anlauf wird ihn als Einzel­richterin zusammen mit einer Gerichts­schreiberin erledigen – und Staats­anwalt Markus Kurt in seinen Ausführungen knurrend erwähnen, er sei eigentlich für schwere Kriminalität zuständig, nicht für solche Lappalien.

Und doch nimmt er am Strafprozess teil. Das müsste er gemäss Strafprozess­ordnung nicht: eben, weil es um einen kleinen Fall geht. Und was auch noch auffällt: In seiner Anklage­schrift äussert sich der Staats­anwalt nicht zur Sanktion, die er für die Beschuldigte zu beantragen gedenkt.

In der Rolle der Beschuldigten sitzt Jolanda Spiess-Hegglin vor Richterin Anlauf, flankiert von Verteidiger Martin Steiger. Staatsanwalt Kurt wirft der Netzaktivistin vor, mehrfach eine amtliche Verfügung missachtet zu haben. Konkret soll sie trotz einer gerichtlichen Vereinbarung den Namen eines bestimmten Mannes geäussert haben, in einer Chatgruppe auf Facebook. Die Vereinbarung zwischen Spiess-Hegglin und ihrem Gegenspieler – einem 78-jährigen Rentner – wurde 2016 besiegelt und 2018 mit dem Passus ergänzt, dass eine Busse drohe, falls sich einer der beiden nicht ans Verbot halte.

Die neu angefügte Warnung stützt sich auf Artikel 292 im Strafgesetz­buch: Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen. Geschützt wird damit in erster Linie die staatliche Autorität.

Am zweiten Prozess ist alles ganz anders

Die gerichtliche Vereinbarung, um die es hier geht, ist streng und weitreichend. Beide Parteien dürfen sich in keiner Art und Weise über die jeweils andere Person äussern, weder direkt noch indirekt. Also auch keine Dokumente posten oder liken, in denen der Name des anderen irgendwo auftaucht, und sei es in einer Fussnote.

Bereits letztes Jahr musste sich Jolanda Spiess-Hegglin vor dem Strafgericht Zug verantworten, weil sie in einer Twitter-Nachricht auszugs­weise Dokumente veröffentlicht und dort den besagten Namen nicht überall geschwärzt hatte. Einzelrichter Philipp Frank sprach sie wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung schuldig und verhängte eine Busse von 300 Franken.

Damals, im März 2023, waren weder der Staats­anwalt noch der Privat­kläger im Gerichts­saal anwesend. Das sieht ein knappes Jahr später anders aus.

Überhaupt fehlt es an diesem jüngsten Prozess nicht an Überraschungen.

Da ist zunächst die Präsenz einer Polizistin und eines Polizisten im Saal, beide in Uniform. Einzel­richterin Anlauf hat sie aufgeboten, «um Ruhe und Ordnung gewährleisten zu können», wie sie sagt. Nicht um die Beschuldigte vor dem Privat­kläger zu schützen, wie es Spiess-Hegglin und ihr Verteidiger im Vorfeld der Verhandlung verlangt haben.

Ebenfalls vergebens hatte die Beschuldigte darum gebeten, es sei ihr zu ersparen, sich in unmittelbarer Nähe zum 78-jährigen Rentner aufhalten zu müssen. Rechts­anwalt Steiger wiederholt den Antrag nochmals mündlich, gleich zu Beginn des Prozesses. Eine räumliche Trennung mit Video­übertragung, sagt er, sei nötig und problemlos möglich, das gehöre inzwischen zum Gerichtsalltag.

Doch davon will die Richterin nichts wissen. Und auch sie meint: Es gehe ja um einen kleinen Fall, um eine Übertretung. Nicht um ein Sexual­delikt, bei dem Betroffene vor ihren Peinigern geschützt werden müssten.

Dem Privatkläger platzt der Kragen

Der Prozess verläuft dann ziemlich gesittet, abgesehen davon, dass der Privat­kläger der Richterin öfters ins Wort fällt – und von ihr gerügt werden muss. Lange hält es der Rentner jedoch nicht aus im Saal. Das Votum von Staats­anwalt Kurt passt ihm nicht in den Kram, und wie anschliessend der Verteidiger zu plädieren beginnt, platzt dem weisshaarigen Herrn endgültig der Kragen.

«Ich mache das nicht mehr mit, ich gehe, ich habe genug gehört.»

Sagts, packt geräuschvoll die Akten zusammen und marschiert hinaus. Was sein gutes Recht sei, teilt ihm die Richterin vor seinem Abgang gelassen mit, als Privat­kläger sei er nicht zur Anwesenheit verpflichtet. Sobald sich die Tür hinter dem erbosten Mann geschlossen hat, beendet sie den Einsatz der beiden Uniformierten.

Eine allfällig gefährdete Ruhe und Ordnung ist ab sofort kein Thema mehr.

Doch was hat der Staatsanwalt bloss gesagt, um den Privat­kläger derart zu frustrieren?

Markus Kurt hat zwar Anklage gegen Jolanda Spiess-Hegglin erhoben (nach entsprechender Strafanzeige des Rentners), verlangt nun aber vor Gericht, die Beschuldigte sei freizusprechen. Damit hat der 78-Jährige offensichtlich nicht gerechnet. Der Staatsanwalt begründet seinen Antrag damit, dass die gerichtliche Vereinbarung null und nichtig sei – weil sie beide Parteien im Übermass binde, was gemäss Zivil­gesetzbuch nicht angehe.

Das strafbewehrte Äusserungs­verbot gelte nicht nur absolut, sondern auch zeitlich unbeschränkt – «lebenslang», wie es der Staatsanwalt etwas drastisch ausdrückt. So etwas könne nicht vollstreckt werden. Die Beschuldigte sei deshalb freizusprechen. Eine der drei angezeigten Äusserungen sei ausserdem verjährt.

Würde Einzelrichterin Svea Anlauf dieser Argumentation folgen, der Staats­anwalt hätte einen Haufen Arbeit mit einem Schlag erledigt. Denn die gerichtliche Vereinbarung, die er für nichtig hält, hat zu einer Flut von gegenseitigen Anzeigen geführt, wovon viele bei der Zuger Staats­anwaltschaft gelandet sind – und immer noch landen. Der Rentner beklagt ein paar Dutzend Verstösse gegen die Vereinbarung, Jolanda Spiess-Hegglin einige hundert.

Ihr Verteidiger, Martin Steiger, fordert zwar ebenfalls einen Freispruch, aber mit einer ganz anderen Begründung.

Er sagt, die angeblichen Verstösse seiner Mandantin seien nicht belegt, die vom Rentner eingereichten Screen­shots – und damit die einzigen Beweis­mittel – mehr als fragwürdig. Es sei nicht klar, wer sie wann, wo und wie erstellt habe. Weder liege ein offizieller Zeit­stempel vor noch ein Kontext oder ein Hinweis auf Facebook.

Die zwei Screenshots, um die es an diesem Prozess noch geht, seien eindeutig bearbeitet worden, sie lägen ja auch in unterschiedlichen Versionen vor. Die Staats­anwaltschaft, so Martin Steiger, habe jedoch keinerlei IT-forensische Untersuchungen getätigt und auch keine Zeuginnen oder Auskunfts­personen befragt – entgegen seinen Anträgen.

Der Privatkläger bestätigt vor Gericht, die Screenshots seien ihm zugestellt worden. Er habe sie der Staats­anwaltschaft telquel weitergeleitet – und er nenne seine Quelle nicht. Und überhaupt: «Absolut unwahr, was der Verteidiger sagt. Ich kann nur den Kopf schütteln.»

«Er will sie wieder direkt stalken»

Spiess-Hegglin wiederum beteuert, sich nicht an solche Messages erinnern zu können. Der fragliche Facebook-Chat umfasse mehr als tausend Seiten und existiere seit zwei Jahren nicht mehr.

Der Rentner aber, der sie angezeigt und vors Strafgericht gezogen habe, beobachte und belästige sie seit bald zehn Jahren im Netz.

Das ist der Grund, warum sie und Rechtsanwalt Steiger nichts davon halten, die gerichtliche Vereinbarung für nichtig erklären zu lassen. Sie befürchten, die Belästigungen könnten dann erst recht Fahrt aufnehmen. «Er will sie wieder direkt stalken», sagt der Verteidiger.

Gegen Mittag zieht sich die Einzel­richterin mit der Gerichts­schreiberin zur Urteils­beratung zurück, am frühen Nachmittag eröffnet sie ihren Entscheid.

Sie spricht Jolanda Spiess-Hegglin frei, so, wie es am Prozess ja alle verlangt haben. Svea Anlauf folgt in ihrer Begründung jedoch nicht dem Staatsanwalt, sondern der Verteidigung. Auch sie zweifelt am Beweiswert der zwei «sogenannten Screen­shots» und gibt zu bedenken, es sei nicht auszuschliessen, dass die Unterlagen unter Verletzung von datenschutz­rechtlichen Bestimmungen erlangt und weitergereicht worden seien.

«Das heisst: Wir haben keine Beweise.»

Die Prozesslawine rollt an

Bleibt abzuwarten, ob das Urteil rechtskräftig wird oder an die nächste Instanz gezogen wird. Doch eben, es geht um eine Lappalie. Ganz anders als bei den noch anstehenden Verfahren. Einige Beispiele von alledem, was 2024 verhandelt wird:

  • Am 2. Februar steht der gleiche 78-jährige Rentner zusammen mit einem weiteren Beklagten vor dem Bezirks­gericht Hinwil. Jolanda Spiess-Hegglin tritt an diesem Zivil­prozess als Klägerin auf und verlangt die Löschung von über hundert persönlichkeits­verletzenden Beiträgen, die die beiden Männer auf einer von ihnen bewirtschafteten Website veröffentlicht haben sollen (was die Beklagten bestreiten).

  • Am 7. Februar muss sich der ehrenamtliche Präsident von Netzcourage, Medien­berater Hansi Voigt, vor dem Bezirksgericht Bremgarten verantworten. Der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner hat ihn angezeigt und verlangt eine Bestrafung wegen Beschimpfung und übler Nachrede – weil er von Voigt auf Twitter, heute X, als «Rechts­extremist» bezeichnet wurde. Über das hängige Verfahren hat der 78-jährige Rentner auf der gleichen Plattform berichtet – und klar Stellung bezogen. Er bezeichnet Voigt als «Oberhetzer», der einen «ehrverletzenden Tweet» abgesetzt habe. Glarner wiederum hatte 2021 im Nationalrat vergebens versucht, die finanzielle Unter­stützung des Bundes für Projekte von Netzcourage zu stoppen.

  • Am 14. Mai findet am Bezirksgericht Pfäffikon im Zürcher Oberland ein Strafprozess gegen den Rentner und den 48-jährigen Mitbeklagten aus dem Hinwiler Zivilprozess statt. Beiden Männern wirft die Staats­anwaltschaft See/Oberland unter anderem Pornografie, Verleumdung, üble Nachrede und Beschimpfung vor. Es geht um Veröffentlichungen auf der erwähnten Website, die den Beschuldigten zugeschrieben werden. Publiziert wurden dort nicht nur Texte, sondern auch pornografische Collagen, bei denen die Köpfe der Frauen mit Porträt­bildern von Spiess-Hegglin ausgetauscht worden waren. Die Staats­anwaltschaft fordert für beide Männer unbedingte Geldstrafen und Bussen.

  • Noch keinen Termin gibt es für den Prozess vor dem Zuger Kantons­gericht, an dem festgelegt werden soll, wie viel Geld der Ringier-Konzern für 180 persönlichkeits­verletzende «Blick»-Artikel bezahlen muss. Dass die Bericht­erstattung unrechtmässig war, hat das Obergericht des Kantons Zug 2020 in zweiter Instanz festgestellt. Ringier hat das Verdikt akzeptiert, Spiess-Hegglin hat in einem nächsten Schritt eine Gewinn­herausgabe­klage eingereicht. Der Prozess sollte noch dieses Jahr stattfinden.

Ein Fall für Strassburg

Ebenfalls hängig ist eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) in Strassburg. Jolanda Spiess-Hegglin macht die Verletzung von Menschen­rechten geltend: Die Schweiz habe das Recht auf ein faires Verfahren sowie auf die Achtung ihres Privat­lebens missachtet, also Artikel 6 und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts­konvention (EMRK).

Bei diesen Vorwürfen geht es um die Publikation eines Buchs zu den Ereignissen an der Zuger Landammann­feier 2014. Spiess-Hegglin befürchtete, das Buch könnte persönlichkeits­verletzende Passagen enthalten, und versuchte, die Publikation auf dem Rechtsweg zu verhindern. Das gelang ihr nicht.

Als letzte innerstaatliche Instanz trat das Bundesgericht auf ihre Beschwerde nicht ein; mit der Begründung, sie habe nicht dargelegt, warum ihr ein «nicht wiedergut­zumachender Nachteil» drohe. Auch ein Revisions­begehren fand vor den höchsten Richterinnen der Schweiz keine Gnade.

Nun liegt der Fall in Strassburg. Und hier gehts vorwärts.

Im November letzten Jahres hat der Gerichtshof entschieden, die Klage anzunehmen und zu behandeln, was als beachtlicher Zwischen­erfolg für die Klägerin zu werten ist. Die NZZ hat darüber berichtet und festgehalten, 98,5 Prozent aller Beschwerden gegen die Schweiz würden «für unzulässig erklärt beziehungs­weise aus der Liste gestrichen».

Wann ein Entscheid eintreffen wird, ist noch unklar. Beide Parteien, Spiess-Hegglin und der Staat Schweiz, sind vom EGMR aufgefordert worden, sechs Fragen zu beantworten. Die Strassburger Richter erkundigen sich unter anderem danach, ob das Schweizer Bundesgericht willkürfrei entschieden habe.

Eines stehe auf jeden Fall fest, so die lapidare Schluss­folgerung der NZZ: «Die Ereignisse rund um die Zuger Landammann­feier werden die Schweiz noch einige Zeit beschäftigen.»

Illustration: Till Lauer

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