Im Vakuum zwischen Leben und Tod

Einst verlief die Frontlinie mitten durch das Dorf in der ostukrainischen Region Charkiw. Zurück blieben Verwüstung, wilde Tiere, überwucherte Gärten – und ein paar Menschen, die nochmals von vorn anfangen wollen.

Eine Reportage von Lesya Kharchenko (Text), Federico Quintana (Bilder) und Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung), 04.01.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 17:45

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Einer von 80 Menschen, die nach Velyka Komyshuvakha zurückgekehrt sind, um das Dorf wiederaufzubauen: Nazar Korytko, 11 Jahre alt.

Don’t linger awhile, verweile nicht zu lange: Wie aus dem Nichts tauchen die Worte an der Wand eines verfallenen Hauses auf. Es ist wohl eine Anspielung auf Goethes Faust, der ausrief: «Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!»

Tatsächlich scheint es hier, als sei der Moment für immer stehen geblieben, aber nicht aus Freude, sondern ganz im Gegenteil. Man hört die Stille, die nach grossen Schlachten kommt. Es ist schwer vorher­zusagen, was sie hervor­bringen wird: Tod oder Leben.

Wahrscheinlich wurde das erste Wort in dieser Nachricht an der Hauswand von jemandem hinzugefügt, der nicht einverstanden damit war, dass dieser Zustand ewig dauern sollte: «Don’t».

Velyka Komyshuvakha ist ein Dorf in der Nähe der Stadt Isjum, in der Region Charkiw, im Osten der Ukraine. Wir betreten das Dorf, als wären wir Stalker im Katastrophen­gebiet. Am Eingang stehen die Reste einer Schule, zerstört durch eine Bombe, nur noch ein Skelett ist übrig. Links befindet sich das Verwaltungs­gebäude des Dorfes mit kaputtem Dach. «Hier ist niemand», sagt mein Kollege. Die Stille klingt wie das Adagio aus Mahlers 8. Sinfonie.

Zur Autorin und zum Fotografen

Lesya Kharchenko ist Journalistin und Dokumentar­filmerin mit dem Schwerpunkt auf Themen im Bereich Menschen­rechte und soziale Gerechtigkeit. Ihre Beiträge waren unter anderem in der ARD, im ORF und auf Arte zu sehen. Kharchenko lebt in Kiew.

Federico Quintana ist freischaffender Fotograf, er ist in Italien aufgewachsen, hat aber ebenso die argentinische Staats­bürgerschaft. Sein Werk ist in Magazinen auf der ganzen Welt zu sehen, unter anderem auch beim Schweizer «Animan». Seit Beginn des Krieges ist Quintana mehrheitlich in der Ukraine unterwegs.

Hier ist diese Spannung nicht mehr zu spüren, die sich immer dann verstärkt, wenn man sich der Front­linie nähert. Sie ist jetzt rund 70 Kilometer entfernt, aber die Hölle, die hier vor nicht allzu langer Zeit noch war, ist immer noch erkennbar an der Verwüstung und den Ruinen. Noch immer hängt ein Brand­geruch über dem Dorf, obwohl es schon eineinhalb Jahre her ist, dass die letzte Kohle erloschen ist.

Damals verlief die Front­linie mitten durch das Dorf entlang des Flusses, der es in zwei Teile trennt. Die malerischen Ufer mit ihren Böschungen, rechts hoch, links niedrig, sind dicht mit Binsen bewachsen, von denen sich der Name Velyka Komyshuvakha ableitet: komysh – Binsen. Die üppige Schönheit der Natur steht in seltsamem Gegensatz zur Zerstörung, die der Mensch verursacht hat.

Als wollten sie sagen: Wir haben überlebt

Wir erwarten nicht, dass wir Menschen sehen werden, aber auf der Strasse vor uns bewegt sich etwas. Ein Knabe fährt auf einem Fahrrad entlang der zerstörten Häuser auf uns zu, eine kleine Schafherde trottet langsam hinter ihm her. Als er uns sieht, hält er an und salutiert militärisch, indem er die Hand an seine Schläfe legt. Er heisst Nazar Korytko, ist 11 Jahre alt und sagt, es würden viele Menschen im Dorf leben: etwa 80 von den 900, die bis 2022 hier wohnten. Es sind diejenigen, die beschlossen haben, zurück­zukehren und ihre Häuser wieder­aufzubauen.

Kinder gibt es allerdings nur sehr wenige im Dorf. Nazar lernt online, er hilft seinen Eltern und hat sogar eine Strassen­sperre in der Nähe seines Hauses errichtet. Er und sein jüngerer Freund grüssen ukrainische Soldaten, die vorbei­kommen, und für alle Fälle auch Fremde. Während wir uns unterhalten, tauchen weitere Personen auf der Strasse auf.

Menschen, die in einem Kriegs­gebiet leben, sind oft bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen, als hätten sie das Bedürfnis, der Welt zu sagen: «Wir existieren, wir haben überlebt und dies ist unsere Geschichte.» Sie lassen ihre Tätigkeiten ruhen und gehen nach draussen, um mit Nachbarn, Verwandten und Journalistinnen zu sprechen. Sie erzählen der Reihe nach und ergänzen gegenseitig wichtige Details. Man kann sich gut vorstellen, dass auf diese Weise in der Antike epische Geschichten erfunden wurden.

In den ersten zwei Wochen nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 stand die Dorf­gemeinschaft unter Schock. Niemand wusste, was zu tun war und ob man Familien­mitglieder aus dem Dorf holen musste. Sollte man fliehen? Und wenn ja, wohin? Als es im März losging, verliessen einige sofort das Dorf. Andere hingegen flüchteten aus der Stadt Isjum, wo sich die russische Armee bereits näherte, in das Dorf.

Während Velyka Komyshuvakha bereits beschossen und bombardiert wurde, versteckten sich die Menschen in Kellern und hofften, dass alles bald vorbei sein würde. Bis eine Bombe die Schule zerstörte.

Raisa Bibilashvili, Jahrgang 1960, eine ehemalige Ingenieurin für Arbeits­sicherheit, erinnert sich, wie sie am Fenster sass und Kaffee trank, als ein Kampfjet direkt über ihren Kopf hinwegflog. Sie dachte: «Ich trinke noch meinen Kaffee aus, dann gehe ich in den Keller.» Aber sie hatte keine Zeit mehr. Das Flugzeug drehte eine Runde und warf die Bombe ab. Sie wurde von einem hellen Blitz geblendet. Sie vermutete, eine Bombe sei in ihren Garten gefallen, aber sie hatte die Schule getroffen. Dort gab es einen Bunker, den die Leute allerdings nicht nutzen konnten. Sie hatten schlicht keine Zeit dafür und versteckten sich stattdessen in ihren Kellern und Unter­geschossen. In Bibilashvilis Haus waren alle Fenster zerborsten, das Dach und die Wände waren beschädigt. In diesem Moment beschloss sie: «Ich muss hier weg und meine Kinder erreichen.»

Raisa Bibilashvili in ihrem Schlafzimmer. Es ist der einzige Raum in ihrem Haus mit halbwegs akzeptablen Temperaturen.
Wie lernen Kinder, mit den Erfahrungen, den Zerstörungen umzugehen? Alisa, 5 Jahre.

Auch Iryna Tytarenko, Jahrgang 1973, hörte die verhängnis­volle Bombe, die die Schule zerstörte. Ihre Söhne, deren Frauen und Enkelin Alisa waren auf der Suche nach Schutz aus Isjum zu ihr gekommen. Sie dachten, im Dorf wäre es sicherer. Tytarenko, damals noch Leiterin des Kinder­gartens (der später bombardiert wurde), lief mit der 4-jährigen Alisa in den Keller. Auf dem Weg dorthin erzählte sie dem Kind, das alles sei ein Spiel: Ein Drache habe sie angegriffen und sie müssten sich in einer Höhle verstecken. Sie wollte vermeiden, dass das Kind Angst bekam. «Los, in die Höhle!», rief sie, und das Mädchen war glücklich und spielte mit.

Während wir uns unterhalten, fährt Alisa mit ihrem Fahrrad um uns herum, lacht und springt in eine Pfütze. Sie sieht aus wie ein normales Kind. Doch wie die anderen Kinder des Dorfes muss sie sich an den Anblick der Zerstörung rund um sie herum gewöhnen.

Häuser ohne Dächer und wild gewordene Haustiere

In den ersten Wochen des Krieges bombardierten die Russen neben der Schule auch einen Schweinestall, einen Bauernhof, Getreide­speicher und Häuser im Dorf. Danach verliessen die Menschen hastig ihre Häuser und das Dorf. Sie liessen alles zurück, banden schweren Herzens ihre Tiere los und liessen sie frei. Kühe, Schweine, Ziegen, Hunde und Katzen liefen im Dorf umher und gruben Löcher in den Boden, um Wasser zu finden. Es bildeten sich seltsame Zweier­gespanne. So gab es einen Hund und ein Schwein, die nur noch gemeinsam unterwegs waren. Der Hund beschützte das Schwein und vertrieb alle, die ihm zu nahe kamen. Die Tiere waren die Ersten, die auf den von den Russen hinter­lassenen Landminen umkamen.

Im April begann das ukrainische Militär, das Dorf zu evakuieren. Als die Russen einmarschierten, war fast niemand mehr dort. Nur ein paar ältere Menschen waren auf eigene Gefahr zurück­geblieben. Ihr Schicksal war traurig: Zwei Frauen wurden durch Raketen­splitter getötet. Ein Mann, der nur kurz zu seinem Haus zurück­gekehrt war, um etwas aus dem Garten zu holen, starb ebenfalls.

Das Ehepaar Tkals, beide über 80 Jahre alt, wollte sein Haus nicht verlassen, trotz des Drängens seiner Kinder. Die beiden wollten zu Hause sterben. Der Mann hielt schliesslich seine Frau fest, nachdem ihr beide Beine von einer Granate abgerissen worden waren. Sie starb in seinen Armen. «Ich sagte zu ihr: ‹Nadia, Nadia, sie werden dir eine Spritze geben›, aber als ich nachsah, war keine Spritze mehr nötig … Ihre Beine hingen nur noch an den Sehnen.» Er wickelte seine Frau in eine Decke und beerdigte sie.

Der Hund gehörte den Nachbarn, doch die verliessen das Dorf, seither lebt er bei ihr: Tetyana Musienko (rechts), mit einer Bekannten.

Danach telefonierte er mit seiner Nachbarin Tetyana Musienko, Jahrgang 1974, die mit ihren Kindern nach Tschechien geflohen war. Auch sie hatte sich zunächst im Keller versteckt wie alle anderen, aber nicht für lange. Sie wollte ihre Enkel­kinder retten.

Tkals weinte ins Telefon und redete und redete, denn während der Besatzung gab es im Dorf niemanden, mit dem man reden konnte. Musienko hörte ihm zu und weinte ebenfalls. Gelegentlich fragte der Mann in den Hörer: «Tetyana, bist du noch da?»

Er wartete, bis die Besatzer das Dorf Anfang September 2022 verliessen, und starb bald darauf.

Als die ersten Bewohnerinnen zurück­kehrten, stieg immer noch Rauch aus der Schule und dem Laden, die Häuser hatten keine Dächer, und wild gewordene Haustiere streiften durchs Dorf auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Menschen konnten es kaum fassen, wie zerstört alles war.

Tetyana Musienko kehrte im April letzten Jahres aus Tschechien zurück und stand vor ihrem kaputten Haus, als plötzlich der Hund Jack ihres Nachbarn auf sie zulief, der die Besatzung überlebt hatte. Sie umarmte ihn und begann zu weinen. Seither lebt Jack bei ihrer Familie. Zu Beginn schnappte er sich jeweils noch seinen Futternapf und trug ihn in seinen Hof, wo er sein Haus beschützte. Doch die Nachbarn kamen nie zurück. Musienko hätte sich nie vorstellen können, dass sie den Hund einer anderen Person so sehr lieben könnte.

Sie und ihr Mann beschlossen, ihr Haus wieder­aufzubauen und den Hof neu zu beleben: Sie kauften Hühner und Enten und legten einen Gemüse­garten an. Während wir uns neben einem von Kugeln und Trümmern durch­löcherten Traktor unterhalten, lässt uns Jack keinen Moment lang aus den Augen.

Ganz in der Nähe geht Iryna Tytarenko mit ihrer Enkelin spazieren. Die Heimkehr ins Dorf sei für sie schwierig gewesen, erzählt sie: «Als ich zurückkam, habe ich viel geweint, es war mir unmöglich, mich an diese neue Realität zu gewöhnen. Alles war sehr beängstigend und hoffnungslos. Die Fenster waren heraus­gesprengt, einige Wände waren zusammen­gebrochen. Wir versuchten den Schaden zuerst notdürftig zu beheben, später richtig mit Ziegel­steinen. Es waren nur noch ein Bett und ein paar Stühle übrig. Einige Sachen waren nass geworden und kaputt­gegangen, weil das Dach weg war, ein paar Dinge waren gestohlen worden und eine ganze Ziegen­herde lebte im Haus. Es war eine Sauerei, Gott bewahre.»

«Nur hier bin ich glücklich»

Ein paar Strassen weiter sitzt Raisa Bibilashvili am Fenster, schneidet Schaumstoff zu und füllt die Ritzen um die neu eingebauten Fenster. Sie lebt allein und hat schon viel in ihrem Haus gemacht. Es gibt Strom und einen Brunnen im Hof. Die Heizung funktioniert noch nicht, aber sie hat den Ofen repariert und kann nun einen Raum mit Brennholz heizen.

Während die russischen Besatzer im Keller ihres Hauses wohnten, lebte Bibilashvili in der Stadt Dnipro. Als sie abzogen, waren alle Haushalts­geräte verschwunden, sogar der alte Samsung-Fernseher aus dem Keller. «Aber die Teppiche waren noch da», sagt sie und lacht.

«Ich kann Ihnen die russischen Schriftzüge zeigen», sagt sie, bevor sie uns in den Keller führt. «Ihr seid Russland!», steht dort in grossen Buchstaben an der Wand. Sie bewahrt auch den gebrauchten Raketen­werfer auf, den sie in ihrem Garten gefunden hat.

Ihr Nachbar Tolik Temny, der Informatik­lehrer der Schule, kam nach der Befreiung ins Dorf zurück, öffnete das Tor seines Hauses, schloss es wieder und fuhr für immer davon. Von dem Haus, einst das grösste in der Strasse, waren nur das Tor und ein Haufen Trümmer übrig geblieben.

Impression von Velyka Komyshuvakha.
Die Binsen, komysh, gaben dem Dorf seinen Namen.

Plötzlich taucht ein Auto auf der Dorfstrasse auf. Ein Mann mittleren Alters steigt aus, er riecht stark nach Alkohol. Seine Freunde haben ihn zu seinem ehemaligen Haus gebracht. Als Oleksandr Krasikov, Jahrgang 1972, das von Granaten zerstörte Haus sieht, beginnt er zu schreien und auf die russischen Aggressoren und Putin zu schimpfen. Sein Gesicht färbt sich rot, seine Hände ballen sich zu Fäusten, und in seine schrecklichen Flüche fliessen der ganze Schmerz und die Bitterkeit seines verstümmelten Lebens. Dann dreht er sich zu mir um und steigt mit den Worten «Verzeih mir» ins Auto und fährt davon. Unfähig, in das von seinen Eltern gebaute Haus zurück­zukehren, wiederholt er dieses Ritual regelmässig, als ob es ihm eine Art Erleichterung verschaffen könnte.

Die Menschen im Dorf verstehen das: Diejenigen, von deren Häusern wenigstens die Wände überlebt haben, sind zurück­gekehrt. Sie haben die Dächer neu gemacht und wieder Fenster eingesetzt. Einige leben bereits wieder im Dorf, andere kommen regelmässig aus benachbarten Orten, während sie ihr Haus renovieren und hoffen, bald wieder einziehen zu können.

Doch selbst jetzt ist das Dorf nicht völlig sicher, obwohl die Front relativ weit weg ist. Aber der Krieg hat Landminen hinterlassen, die jederzeit explodieren könnten. Ein Mann ist bereits daran gestorben.

Oleksandra Shchebetun, geboren 1941, eine Frau in hell geblümtem Gewand, kommt winkend auf uns zu. Sie wirkt aufgelöst. Sie sei zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren worden, erzählt sie: «Ich kann mich nicht daran erinnern, aber meine Eltern schon. Dieser Krieg war nicht so grauenvoll wie dieser, jetzt ist es schrecklich! Velyka Komyshuvakha war einst so ein grosses Dorf, und nun ist nur noch eine kleine Ecke davon übrig.»

Oleksandra Shchebetun, 82 Jahre alt.

Auch Serhiy Blonsky, geboren 1960, ist ins Dorf zurückgekehrt. Seine Schwieger­mutter wurde während der Besatzung getötet, sein Haus beschädigt. Der Garten war komplett von Unkraut überwuchert. Doch mittlerweile haben seine Frau und er wieder alles in Ordnung gebracht und bereits wieder eine erste Ernte eingefahren. Im Garten schnattern Gänse und auf dem Boden liegen leuchtend gelbe Kürbisse.

Blonsky zeigt die 12,7-Millimeter-Patronen, die er in seinem Garten gefunden hat. Fast jede Person hat solche Erinnerungs­stücke, die sie aufhebt, obwohl alle sagen, das Zeug sei nur Schrott.

Serhiy Blonsky, 63 Jahre alt, in seinem Garten …
… wo er immer wieder Patronen findet.

Der Tag neigt sich dem Ende zu, es wird langsam dunkel. Was hat es für einen Sinn, frage ich die Leute, hier die Häuser wieder­aufzubauen, mitten im Krieg? «Nur hier bin ich glücklich», sagt Blonsky. «Hier sind wir früher barfuss gelaufen, Fahrrad gefahren, den ganzen Tag im Fluss geschwommen, haben Hechte, Karpfen, Äschen, Zander geangelt – alles war da. Es gehörte alles uns.»

Auch alle anderen beantworten die Frage ähnlich:
Das hier ist unseres.
Hier ist echte Freiheit.
Hier sind wir glücklich.

«Die Tataren haben Kiew auch nieder­gebrannt und es wurde wieder aufgebaut», sagt Blonsky und kneift verschmitzt die Augen zusammen. «Ja, aber das war 1240 …», sage ich. Und dann schweige ich. Man hört nur das Rauschen des Flusses und ein Stück Schieferdach, das auf dem verwüsteten Bauernhof klopft.

Sie lassen sich nicht aufhalten

Seit Velyka Komyshuvakha Mitte des 18. Jahrhunderts von Saporischschja-Kosaken gegründet wurde, hat das Dorf schon viel Schreckliches erlebt. Während der von der Sowjetunion ausgelösten Hungersnot Anfang der 1930er-Jahre verhungerten rund 400 Menschen. Heute sind noch weniger Einwohnerinnen übrig geblieben.

Als wir das Dorf verlassen, kommt uns ein einheimischer Bauer in seinem Auto entgegen, und als wir unser Fenster herunter­lassen, sagt er: «Sehen Sie diese Schule? Sie hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, aber nicht diesen Krieg.»

Seit Russland die Ukraine überfallen hat, wurden bereits rund 1,5 Millionen Wohnungen zerstört, dazu Strassen, Eisenbahn­linien und Flughäfen. Es ist klar, dass die Städte dereinst wieder­aufgebaut werden. Was mit den Dörfern geschieht, ist jedoch noch ungewiss.

Dennoch. Nur ein paar Dutzend Kilometer von der Frontlinie entfernt gibt es in vielen verwüsteten Dörfern Menschen, die dafür kämpfen, wieder Leben zurück­zubringen, trotz aller Widrigkeiten. Sie lassen sich nicht aufhalten, so wie sich das Gras nicht aufhalten lässt, das durch den Asphalt wächst, oder die Binsen am Fluss nicht aufhören, sich zu wiegen, so wie sich die Rettung von Fausts Seele nicht aufhalten lässt.

Vielleicht wird eines Tages ein Passant das «Don’t» von der Hauswand entfernen, das mitten in der Hölle dieses Krieges angebracht wurde. Sodass es dann wieder heisst: Linger awhile.

Verweile doch, du bist so schön.

Die von der russischen Armee zerstörte Schule von Velyka Komyshuvakha.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!