Rosenwasser

Ein fremder Mann in meinem Bett

Erst wenn wir akzeptieren, wie viel Gewalt geschieht, können wir darüber nachdenken, was wir dagegen tun können.

Von Anna Rosenwasser, 12.12.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Ruben stand in meinem Tür­rahmen, genauer: im Türrahmen des Einzel­zimmers, das ich mir in dieser Jugend­herberge gegönnt hatte. Es war meine letzte Nacht in Amsterdam, und im Türrahmen stand dieser Mann, den ich seit kaum 24 Stunden kannte und der bei mir übernachten würde.

«Ich geh kurz im Gemeinschafts­raum meine Tasche holen», sagte Ruben und verzog sich in die mittelgut beleuchteten Gänge in dieser mittel­späten Nacht.

Während ich mein hellblaues Pyjama anzog, versuchte ich mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit einem fremden Mann ein Bett geteilt hatte. Vermutlich zu der Zeit, als ich noch Männer datete, vor etwa acht Jahren. Wie oft habe ich seither darüber nachgedacht, wie gefährlich das war. Wie oft Grenz­überschreitungen geschahen.

Fuck, dachte ich plötzlich. Ein fremder Mann pennt bei mir. Und ich weiss nichts ausser seinem Vornamen.

Als Ruben wiederkam, fragte ich ihn: «Weisst du noch, dass du heute gesagt hast, dass ich als öffentliche Person einen Body­guard brauchen würde?»

«Ja voll, stehe dir zu Diensten», witzelte er zurück, während er die Tür hinter sich schloss.

«Jetzt geht es mir auch um meine Sicherheit», sagte ich. «Ich will ein Foto von deiner Identitäts­karte machen. Weil du hier schläfst.»

Das hatte ich noch nie von jemandem verlangt. Es war die erste Idee, mit der ich mir in meiner Über­forderung zu helfen versuchte.

Ruben liess seine Tasche sinken. Und seine Kinnlade.

«Morgen früh kann ich das Foto wieder löschen», bot ich an.

Dem jungen Mann entglitt sein halbes Gesicht in verdatterter Ungläubigkeit.

«Das … nein.»

Mit der einen Hand hielt er noch immer die zum Boden gesunkene Tasche, mit der anderen fuhr er nun langsam wieder zur Tür­klinke. Er wirkte, als wäre etwas in ihm zusammen­gesackt. «Ich … das kann nicht … nein.»

Ich sass noch immer auf meinem Herbergen­bett, in meinem Pischi, Hände im Schoss, und sah ihn einfach ruhig an. Er verneinte noch einmal.

«Ich glaube … ich sollte doch den Zug nach Den Haag nehmen.»

Ich nickte so beiläufig, als hätte er gerade laut darüber nachgedacht, sich eine Honig­milch aufzukochen.

Zwei Minuten später war Ruben weg. Ich sass alleine in meinem Einzel­zimmer in Amsterdam, und mein ganzer Körper begann zu zittern, als hätte er erst jetzt mitgekriegt, dass gerade fast ein fremder Mann das Bett mit mir geteilt hätte, in einem Einzel­zimmer, in einer fremden Stadt. Ich überprüfte, ob meine Wert­sachen noch da waren: Porte­monnaie, Handy – alles da. Er hatte nichts geklaut.

Liebe Lesende, woran haben Sie bei dieser Geschichte gedacht: an die Frage, ob es zu Sex kommt – oder daran, dass dieser Mann vielleicht bald ein Verbrechen begeht? Wem haben Sie in Gedanken die Verantwortung gegeben für diese potenziell gefährliche Situation?

Ich dachte viel darüber nach in den folgenden Tagen. Bis heute; die Szene ist noch keinen Monat her. Ich bin 33, und man könnte meinen, ich wüsste es besser, ich liesse keine fremden Männer mehr in mein Bett.

Stattdessen ist mir das Gegenteil passiert: Ich habe mich als Feministin so oft mit gesunder, solidarischer Männlichkeit beschäftigt – und sie sich mit mir –, dass ich aus den Augen verlor, wer alles überfordert sein könnte davon. Oder, wie Ruben: verdattert.

Anfang zwanzig kaufte ich mir einen süssen Schlüssel­anhänger aus violettem Hart­plastik. Er hatte die Form eines Katzenkopfs, mit spitzen Ohren und grossen, ausgestanzten Augen. Wenn ich die Finger durch die beiden Augen hakte, konnte ich die Ohren als Waffe nutzen – der herzige Anhänger war ein verstecktes Tool gegen Angreifer. Ich fand das cool. Aber ich wusste auch, dass das Sinn ergab für mich.

Damals gab es die Handy­funktion «Live-Standort anzeigen» noch nicht, mit der wir Freundinnen einander während Dates absicherten, dafür sendeten wir einander sein Auto­kennzeichen oder zumindest seinen amtlichen Vor- und Nach­namen. Einige Freundinnen und ich besassen diese Schlüssel­anhänger, die als süsse Tierchen getarnte Schlag­ringe waren. Für den Notfall. Er traf nicht immer ein, bei manchen nie.

Umso präsenter waren die Vorboten: ein Nein nicht akzeptieren; Überredungs­versuche; Graubereiche, die zu grau sind, um sie zu benennen. Wenn wir konsequent sind, sind das alles Vorstufen potenzieller Gewalt. Sie beginnt nicht erst bei Vergewaltigung.

Anzuerkennen, wie viel dieser potenziellen männlichen Gewalt zum Alltag von uns Frauen gehört, ist ein Trauer­prozess. Einer, vor dem sich viele Menschen lieber verschliessen. Erst, wenn wir akzeptieren, wie viel Gewalt geschieht, können wir darüber nachdenken, was wir dagegen tun können.

Was Ruben vor ein paar Wochen so verdatterte, war wohl das, was in Diskussionen über Geschlechter­rollen und Gewalt gern «General­verdacht» genannt wird: der Umstand, dass ich in dem Moment, in dem ich seine ID fotografieren will, von der Möglichkeit ausgehe, dass er ein Täter sein könnte. Das ist eine unbequeme Vorstellung (und dazu noch sehr unsexy, falls Sie noch immer annehmen, dass es in dem Szenario um Sex ging). Aber: Sie ist nicht unrealistisch.

Ich will folgende These aufstellen: Hätte Ruben – ein mutmasslich durch­schnittlicher, hetero­sexueller West­europäer um die dreissig – in den vergangenen Jahren Gespräche mit Frauen zu diesem Thema geführt, Berichte darüber gelesen, seine Empathie gegenüber Betroffenen von Übergriffen geäussert, hätte er anders reagiert. Wüsste er, wie wahrscheinlich es ist, dass nicht nur er als Mann in einer solchen Nacht Grenzen überschreiten könnte, sondern auch, dass ich als Frau solche unterschiedlich schweren Erlebnisse schon in meiner eigenen Vergangenheit erlebt haben könnte, dann wäre das Gespräch anders verlaufen.

Er hätte es schon in dem Moment, in dem wir darüber redeten, dass er bei mir schläft, ansprechen können: «Merci für dein Vertrauen, ich weiss, dass das nicht selbstverständlich ist. Brauchst du noch was von mir, um dich sicher zu fühlen?» Oder aber, er hätte Verständnis zeigen können in dem Moment, als ich seine ID verlangte: «Oh, shit. Tut mir leid, dass es so was braucht. Klar kannst du die ID fotografieren» – das hätte mir mehr Sicherheit gegeben.

Wir wachsen nicht nur in einer Welt auf, in der eine Zwanzig­jährige mit aller pseudo­coolen Selbst­verständlichkeit ein Selbstverteidigungs­tool auf sich trägt. Sondern auch in einer Welt, in der unsere Anforderungen an Männer viel, viel tiefer sind, als sie sein könnten. Und sollten. Ein grobes Bewusstsein über geschlechts­spezifische Gewalt und eine offene, solidarische und kritik­fähige Haltung sind meine persönlichen Minimal­anforderungen an alle Männer, denen ich nahekomme – in Freundschaften, Liebschaften und übrigens auch im aktivistischen Komplizentum.

Mein Pischi und ich machten es uns im Einzelbett bequem.

Eine Viertelstunde später klopfte es an der Tür.

Ich schreckte auf, Herz­rasen in der Brust.

Es war Ruben.

Er hatte seine Kopfhörer vergessen.

Illustration: Alex Solman

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