Das Schönwettergrundrecht
Seit dem Krieg im Nahen Osten ist ein alter Bekannter aus der Corona-Pandemie zurück: das Demonstrationsverbot. In Zürich, Basel und Bern schränkten die Behörden damit Grundrechte ein. Dabei begeben sie sich auf heikles Terrain. Und verstricken sich in Widersprüche.
Von Basil Schöni, 11.12.2023
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Die Welt ist nicht angenehm im Moment. Seit dem Jahr 2020 erlebten wir eine Pandemie, zwei Kriege, drei Prozent Inflation und am Horizont vier Jahre, in denen der US-Präsident erneut Donald Trump heissen könnte.
In dieser unangenehmen Welt wollen viele Menschen ihre Meinung äussern. Und sie wollen das draussen tun. Auf der Strasse. An Demonstrationen und Kundgebungen.
Das ist ihr gutes Recht. Nicht nur das: Es ist ihr gutes Grundrecht.
Doch dieses Recht wird immer öfter eingeschränkt. Pauschal, ohne Prüfung des Einzelfalls. Und potenziell widerrechtlich.
Das geschah etwa während der Pandemie. 2020 verbot der Bundesrat in der per Notrecht erlassenen Covid-Verordnung sämtliche Demonstrationen im ganzen Land. Später untersagten die Kantone Bern und Zürich Versammlungen mit mehr als 15 Personen.
Die Verbote in Bern und Zürich wurden später durch Gerichte für unzulässig erklärt. Wegen des gesamtschweizerischen Demoverbots wurde die Schweiz sogar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt. Aus formellen Gründen kippte die grosse Kammer des Gerichtshofs diesen Entscheid kürzlich aber wieder.
Solche Demonstrationsverbote waren also schon während der Corona-Pandemie – einer absoluten Ausnahmesituation – grundrechtswidrig. Doch trotz der höchstrichterlichen Urteile scheint man in verschiedenen Schweizer Städten Gefallen an der Massnahme gefunden zu haben.
Die Grundrechtseinschränkungen sind nämlich zurück.
Drei Städte verbieten Demonstrationen
Zwei Wochen nach den Massakern der Hamas in Israel wurden von den Stadtregierungen in Zürich und Bern sowie der Kantonsregierung von Basel-Stadt Demonstrationsverbote ausgesprochen. Sie galten für das Wochenende des 21. Oktober. In Zürich und Bern waren nur Kundgebungen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt betroffen. Basel untersagte per Allgemeinverfügung sämtliche Kundgebungen.
Um diese Kundgebungsverbote durchzusetzen, entzogen die Zürcher Behörden bereits erteilte Bewilligungen wieder. In Bern löste die Polizei eine spontane Palästina-Kundgebung mit rund zwei Dutzend Personen nach etwa zehn Minuten auf. In Basel erstickte ein grosses Polizeiaufgebot mit Unterstützung ausserkantonaler Kräfte und einem Helikopter der Armee zwei Demonstrationen von «Mass-voll» und «Basel nazifrei» im Keim. Aufgrund des Einsatzes schloss die Stadt vorübergehend ein Wahllokal, das sich in der Polizeiwache Clara befindet.
Diese Demoverbote in Zürich, Bern und Basel galten nur für ein verlängertes Wochenende. In der Woche darauf wurden die Massnahmen wieder aufgehoben. Seither fanden in allen drei Städten mehrere Demonstrationen zum Nahostkonflikt statt.
Damit waren die Verbote kurz genug, um nur einen kurzen Aufschrei zu produzieren (auch wenn sogar die Uno verlangte, dass die Verbote sofort wieder aufgehoben werden). Doch inzwischen erliess die Berner Stadtregierung ein zweites, deutlich länger gültiges Demonstrationsverbot. Seit dem 17. November sind in der Innenstadt Grosskundgebungen und Umzüge untersagt. Die Massnahme soll bis zum 24. Dezember gelten.
Was mit «Grosskundgebungen» und «Umzügen» genau gemeint ist, darüber macht die Stadtregierung widersprüchliche Angaben. Gegenüber der Lokalzeitung «Hauptstadt» sagte Sicherheitsdirektor Reto Nause, dass darunter alles falle, was eine Mahnwache von 10 bis 20 Personen übersteige. In einer Parlamentsdebatte eine Woche später sprach Stadtpräsident Alec von Graffenried davon, dass eine «Grosskundgebung» erst ab 10’000 Teilnehmerinnen gegeben sei.
Der Sicherheitsdirektor und der Stadtpräsident widersprechen sich um den Faktor 1000. Was nun wirklich gilt, bleibt unklar. Präzisiert wurde die Regelung auf den Kanälen der Stadt Bern bisher nicht.
Die Sache mit der Sicherheitslage
Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist. Wie die meisten Grundrechte gilt auch sie nicht uneingeschränkt. Doch um sie einzugrenzen, bedarf es konkreter und gewichtiger Gründe. Ob solche bei den Verboten in Bern, Zürich und Basel vorlagen, ist umstritten.
Die Regierungen von Zürich und Basel begründeten die Einschränkungen mit der Sicherheitslage. So sah das Sicherheitsdepartement der Stadt Zürich die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet, beispielsweise wegen «gewaltsamen Tumulten, Angriffen auf Personen und Sachbeschädigungen». Das Risiko für «Veranstaltende, Demonstrationsteilnehmende, Passant*innen, Polizeiangehörige und Rettungskräfte» werde als zu hoch eingeschätzt. Deshalb würden keine Kundgebungen mehr bewilligt.
Ähnlich tönte es beim Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt: «Die Kantonspolizei schätzt die Wahrscheinlichkeit für Personen- und Sachschäden während Kundgebungen, Mahnwachen und Standkundgebungen zurzeit als sehr hoch ein.» Zudem könnten auch Kundgebungen, die nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben, als Plattform für dieses Thema genutzt werden. Deshalb untersagte Basel sämtliche Kundgebungen, Mahnwachen und Standkundgebungen auf dem Kantonsgebiet.
Diese Begründung greift laut Staatsrechtlerinnen aber zu kurz. Mehrere Professorinnen der Universitäten Zürich, Basel und Fribourg äusserten sich kritisch gegenüber den Medien zu derartigen Verboten. Gegenüber der NZZ sagte etwa der Zürcher Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann, dass Straftaten einer gewissen Schwere drohen müssten, um eine konkrete Demonstration zu verbieten. Ein generelles Verbot sei kaum mit den Grundrechten vereinbar. Staatsrechtler Markus Schefer wünscht sich eine klarere Kommunikation vonseiten der Sicherheitsbehörden bei Verboten. Auch Helen Keller, Professorin am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, betont das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, die Behörden hätten deshalb zumindest mildere Massnahmen prüfen müssen.
In anderen Schweizer Städten kam man denn auch zu einer anderen Einschätzung als in Zürich, Bern und Basel. So sahen weder Lausanne noch Genf einen Grund, Demonstrationen zu untersagen.
Viel behauptet, wenig belegt
Einen etwas anderen Weg ging Bern bei der Begründung seiner Kundgebungsverbote. Die Stadtregierung führt die angespannte Sicherheitslage nur als sekundäres Argument an. Hauptsächlich sei die Stadt bereits zu stark ausgelastet mit anderen Veranstaltungen. In der aktuellen Vorweihnachtszeit konkret mit Weihnachtsmärkten und «anderen Winteranlässen». Darum fehlten der Polizei die Ressourcen, um weitere Kundgebungen zu begleiten.
Diese Begründung führte die Stadt sowohl beim Verbotswochenende im Oktober an wie auch beim aktuellen fünfwöchigen Demoverbot. Im Oktober sagte Sicherheitsdirektor Nause gegenüber «20 Minuten», dass die Polizei «extrem ausgelastet» sei. Und bezüglich des neuen Demoverbots liess er sich mit Verweis auf den Staatsbesuch des französischen Präsidenten zitieren: «Sollen wir Herrn Macron vielleicht sagen, er soll zu Hause bleiben, weil wir in Bern eine Demo haben?»
Diese Argumente mögen auf den ersten Blick stichhaltig erscheinen. Auf den zweiten wirken sie vorgeschoben.
Erstens entpuppt sich der plakative Satz zum Staatsbesuch von Emmanuel Macron bei genauem Hinschauen als Scheinargument. Der französische Präsident reiste am 15. November in die Schweiz und am Folgetag wieder ab. Das Berner Demoverbot trat aber erst am 17. November in Kraft.
Zweitens sei die Polizei am Oktoberwochenende laut Nause «extrem ausgelastet» gewesen. Trotz dieser angeblich prekären Situation schickte sie einen ihrer zwei Wasserwerfer nach Basel, um die dortigen Demonstrationen zu verhindern. Es schienen also durchaus überschüssige Ressourcen vorhanden.
Und drittens muss auch die zu grosse Auslastung der Innenstadt in der Vorweihnachtszeit bezweifelt werden.
Auf Anfrage der Republik hat die Stadtberner Sicherheitsdirektion eine Liste aller Veranstaltungen zusammengestellt, die in der betroffenen Zeit in der Innenstadt durchgeführt werden. Insgesamt finden in diesen fünf Wochen 27 Veranstaltungen statt. Acht davon dauern nicht länger als eine Stunde und vier sind reguläre Weihnachtsmärkte, wie sie jedes Jahr in jeder mittelgrossen Stadt durchgeführt werden.
Ob die Zahl der Veranstaltungen aktuell grösser ist als gewöhnlich, lässt sich ohne Vergleichsdaten früherer Jahre nicht beurteilen. Und solche kann die Sicherheitsdirektion nach eigenen Angaben nicht zur Verfügung stellen. Das sei zu aufwendig.
Was aber auffällt an der Veranstaltungsliste: Der Bundesplatz als wichtigster Standort für Demonstrationen ist in diesen fünf Wochen kaum ausgelastet. An den sechs betroffenen Samstagen ist die Situation wie folgt:
Am 9. Dezember findet eine Kerzenaktion der Caritas statt. Diese würde mit einer Kundgebung unüberwindbar kollidieren.
Am 16. und 23. Dezember wird ein Teil des Platzes mit einer Eisbahn besetzt sein. Einer Kundgebung von vielen tausend Menschen käme diese zwar in die Quere. Eine kleinere Demonstration könnte aber gut um die Bahn herum manövrieren.
Am 18. und 25. November fand jeweils abends eine Lichtshow statt. Diese Lichtshows wurden aber schon vor dem Demonstrationsverbot gezeigt und stellten auch für die zwei grossen Palästina-Kundgebungen am 28. Oktober und 4. November keinen Hinderungsgrund dar.
Am 2. Dezember schliesslich war der Bundesplatz gänzlich ungenutzt. Mehr noch: Ausser den vier Weihnachtsmärkten und einer Fondue-Skihütte fand in der ganzen Innenstadt keine einzige Veranstaltung statt.
An drei der sechs Samstage in der Vorweihnachtszeit wären Kundgebungen auf dem Bundesplatz also ohne jede Kollision möglich. An zwei weiteren bestünde ein gewisser Nutzungskonflikt, der berücksichtigt werden müsste.
Ist die Berner Innenstadt also wirklich so voll und ausgelastet, wie die Stadtregierung behauptet? Und kann es sein, dass Weihnachtsmärkte und Winteranlässe, wie sie jedes Jahr stattfinden, das zweitgrösste Polizeikorps der Schweiz schon an seine Grenzen bringen?
Bis jetzt beschränkt sich die Kommunikation der Stadt Bern darauf, diese Dinge einfach zu behaupten. Mit Fakten untermauert hat sie davon nichts.
Druckversuche von der Seitenlinie
Das alles wirft die Frage auf, worum es hier eigentlich geht. Um die Sicherheitslage? Um die Auslastung der Stadt? Oder vielleicht doch eher darum, politisch ungelegene Palästina-Demos zu verhindern? Für Letzteres spricht, dass hochkarätige Politiker öffentlich Druck auf die Städte ausgeübt haben.
So gab Mario Fehr, Sicherheitsdirektor und Regierungspräsident des Kantons Zürich, ein Interview, in dem er die Stadt Zürich frontal angriff. Dass in Bern eine Palästina-Demo stattfand und eine weitere in Zürich geplant war, halte er für fahrlässig. Mit Blick auf Zürich sagte er: «Ich habe die zuständige städtische Sicherheitsvorsteherin mit Nachdruck darauf hingewiesen, in der derzeitigen, gefährlichen Lage keine weiteren Palästina-Demos zu bewilligen.»
Mario Fehr selber trat an mehreren proisraelischen Mahnwachen und Aktionen auf.
Als das Interview erschien, war das Zürcher Demoverbot schon seit gut zwei Wochen wieder aufgehoben. Dem neuerlichen Druck hielt Sicherheitsdirektorin Karin Rykart stand: In Zürich werden Palästina-Demos aktuell bewilligt.
Ähnlich ist es in Bern. Dort gab Philippe Müller – ebenfalls Sicherheitsdirektor und Regierungspräsident des Kantons – ein Interview im «Bund». In diesem spricht er Teilnehmenden einer Palästina-Demo nicht nur pauschal ihre Zugehörigkeit zur Schweiz ab, indem er behauptet, an der Demo sei «das Gastrecht» missbraucht worden. Er rief auch dazu auf, Palästina-Demos generell zu unterlassen.
Wenige Stunden nach dem Interview gab die Stadt Bern ihr fünfwöchiges Demoverbot bekannt. Dass das Interview des kantonalen Sicherheitsdirektors mit der Massnahme der Stadt zusammenfiel, dürfte eher kein Zufall sein.
Auch auf nationaler Ebene ist der Druck auf die Städte als Hauptaustragungsorte von Kundgebungen gross. Die SVP forderte ein pauschales und damit wohl rechtswidriges Verbot von Palästina-Demos. Die Luzerner Mitte-Ständerätin Andrea Gmür wollte «Nahost-Demonstrationen jeglicher Art» (mit Ausnahme allgemeiner Friedenskundgebungen) verbieten.
Ob diese Druckversuche einen Einfluss auf die Städte hatten, ist schwierig zu beurteilen. Klar ist: Eigentlich entscheiden die Stadtregierungen selber, ob sie eine Demonstration bewilligen. Bundespolitikerinnen mit Sendungsbewusstsein haben da genauso wenig mitzureden wie Regierungsräte, denen das Gespür für ihre Zuständigkeitsgrenzen abhandengekommen ist.
Das Demoverbot, das keines sein will
Wie geht es nun weiter? Wer als Bürgerin mit dem Handeln des Staates nicht einverstanden ist, kann ein Gericht anrufen. Anders als in Deutschland, wo das auch sehr schnell passieren kann, dauert dieser Rechtsweg in der Schweiz aber lange. Ein bestehendes Demonstrationsverbot kann so kaum mehr gekippt werden. Bis ein Gericht geurteilt hat, sind die Massnahmen in der Regel längst wieder aufgehoben.
Trotzdem ist dieser Schritt gerade bei derart empfindlichen Eingriffen in die Grundrechte wichtig, um die Rechtslage für künftige Situationen zu klären. Diesen Weg wollen nun verschiedene Organisationen beschreiten. So haben in Basel die Demokratischen Jurist:innen, die SP, die Grünen und Basta angekündigt, gegen die erlassene Allgemeinverfügung Einsprache zu erheben.
Etwas komplizierter ist die Situation in Bern. Als die Stadt am 8. November ihre Massnahme ankündigte, schrieb sie: «Im Zeitraum ab dem 17. November bis und mit 24. Dezember 2023 können in der Innenstadt keine Grosskundgebungen oder Umzüge bewilligt werden.»
Eine Woche nach der Ankündigung debattierte das Stadtparlament über den Sachverhalt. In dieser Sitzung stellte Stadtpräsident Alec von Graffenried die Situation ganz anders dar: Jedes Demogesuch werde im Einzelfall geprüft und nach Möglichkeit bewilligt. «Was der Gemeinderat verabschiedet hat, ist eine Richtlinie für die Bewilligungsbehörden, dass man dort auch mal zurückhaltender sein darf. Das ist alles, es gibt kein Demoverbot.»
Der Republik liegt der Beschluss der Stadtregierung vor, der die Grundlage für die Mitteilung vom 8. November darstellt. In diesem wird die Massnahme zwar ebenfalls als «Richtlinie für die Bewilligungsbehörde» bezeichnet und nicht etwa als Demonstrationsverbot. Doch von einer Einzelfallprüfung steht in dem Regierungsdokument nichts.
Stattdessen sehr eindeutige Sätze: «Grosskundgebungen können in der Innenstadt ab dem 17. November bis zum Ende der Adventszeit nicht bewilligt werden.»
Kann die Regierung ihrer Bewilligungsbehörde sagen, dass eine ganze Kategorie von Gesuchen nicht bewilligt werden kann, und gleichzeitig behaupten, das sei kein pauschales Verbot? Bloss weil das Ganze als «Richtlinie» bezeichnet wird?
Grundrechte gelten – auch wenns wehtut
Das wäre eine Frage, die ein Gericht klären müsste. Doch um das zu tun, muss eine konkrete Sache vorliegen, die man anfechten kann – eine Verfügung der Stadtregierung etwa. Die SP Stadt Bern ist der Meinung, dass der Entscheid der Stadt Bern den Charakter einer solchen Verfügung hat. Und hat von der Regierung verlangt, dass sie ihnen auch formell ein entsprechendes Dokument ausstellt, über das dann der Rechtsweg beschritten werden kann.
Doch die Stadt ist anderer Meinung. In einem Schreiben an die SP teilt sie mit, dass es sich eben gar nicht um ein Demoverbot handle, sondern bloss um «Grundsätze als Richtlinie für die Bewilligungsbehörde». Darum sei das alles nur eine «verwaltungsinterne Weisung, wie mit entsprechenden Kundgebungsgesuchen grundsätzlich umzugehen ist». (Das Wort «grundsätzlich» trägt in diesem Satz eine schwere Last auf seinen Schultern.) Eine Einzelfallprüfung finde trotz der Weisung statt. Und darum habe das alles eben nicht den Charakter einer Verfügung.
Das würde aber bedeuten, dass die Massnahme nicht ohne weiteres vor einem Gericht angefochten werden kann. Verschiedene Akteure prüfen nun rechtliche Schritte gegen diese Klassifizierung als Nicht-Verfügung.
Für ausreichend Juristenfutter ist also gesorgt. Doch auch unabhängig von der rechtlichen Bewertung kann das Vorgehen der Stadt Bern als geschickte Trickserei verstanden werden:
Zuerst kommunizierte die Stadtregierung, dass in der Innenstadt absolut keine Umzüge und Grosskundgebungen stattfinden können. Die Worte «Einzelfallprüfung», «Richtlinien» oder «grundsätzlich» kamen in der Mitteilung nirgends vor.
Diese Massnahme wurde breit als Demonstrationsverbot verstanden. Wer sich hauptsächlich über Zeitungen informiert und weder Parlamentsdebatten verfolgt noch Regierungsbeschlüsse verlangt, muss bis heute davon ausgehen, dass in der Innenstadt unter keinen Umständen demonstriert werden kann, sobald mehr als zehn bis zwanzig Personen teilnehmen.
Und nun, als die Regierung von den eigenen Parteien aufs Dach bekommt und juristische Schritte drohen, distanziert sich die Stadtregierung vom Verbotsbegriff und betont, dass das alles gar nicht so verbindlich, sondern bloss eine Richtlinie sei. Und das tut sie nicht etwa per breit gestreuter Medienmitteilung, sondern nur dort, wo keine breite Masse mitliest: in Parlamentsdokumenten, an Ratsdebatten, in nicht öffentlichen Briefen.
Ob so alle Demonstrationswilligen mitbekommen haben, dass gemäss der Stadtregierung nun doch kein pauschales Verbot gilt, muss damit zumindest bezweifelt werden. Die erste Palästina-Demo nach Inkrafttreten der Massnahme fand denn auch in einem Aussenquartier von Bern statt.
Auch wenn die Berner Massnahme kein Demoverbot sein sollte, hatte sie also den abschreckenden Effekt eines Verbots.
Dass der Berner Regierung dieser Effekt gelegen kommt, liegt auf der Hand. Die Welt ist nicht angenehm im Moment. Auch nicht für verantwortliche Exekutivpolitikerinnen. In der Schweiz und im Ausland entstanden an Palästina-Demos unschöne Bilder. Solche Bilder können auf Politiker abfärben. Und das ist unangenehm.
Doch Grundrechte sind vor allem Abwehrrechte: Sie schützen den Menschen vor dem Staat.
Das gilt auch für die Versammlungsfreiheit: Wenn Menschen demonstrieren wollen, dann darf der Staat das nicht verhindern. Auch wenn es für ihn unangenehm ist.
Gerade dafür sind Grundrechte da.