Tausend Seiten ohne Punkt: Jon Fosse schreibt so, wie das Wasser durch die Fjorde strömt. Ole Berg-Rusten/NTB Scanpix Norway/Keystone

Keine Angst vor Jon Fosse

Diese Woche erhält der Norweger Jon Fosse den Literatur­nobelpreis 2023. Lassen Sie sich von den Riesen­dimensionen seines Werkes nicht abschrecken. Eine Einführung.

Von Jan Wilm, 06.12.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Manchmal ist der Literatur­nobelpreis das sicherste Mittel, Autorinnen ins Exil der meist­verkauften Ungelesenen zu verbannen. Wer kann es heute kaum erwarten, zu einem Werk von Carl Spitteler (Gewinner von 1919), François Mauriac (Gewinner von 1952) oder Jean-Marie Gustave Le Clézio (Gewinner von 2008) zu greifen? Selbst das Haupt­werk des Nobelpreis­trägers von 1999, Günter Grass’ «Die Blechtrommel», ist in viel mehr Regalen als Leser­herzen daheim. Damit es dem Gewinner dieses Jahres besser ergeht, lohnt etwas Auslese – um etwaige Berührungs­ängste gegenüber Jon Fosses gewaltigem Werk abzubauen.

Der 1959 im west­norwegischen Haugesund geborene Autor hat bislang mehr als ein Dutzend Romane und eine ebenso stolze Zahl Lyrik­bände veröffentlicht, dazu zahlreiche Novellen, Erzähl­bände, Kinder­bücher, Essays sowie über 30 Theater­stücke. Der grösste Teil seines Werks ist noch nicht ins Deutsche übertragen, obwohl sich das mit der weltweit höchsten literarischen Auszeichnung nun bald ändern dürfte.

Die Schwedische Akademie verlieh den Literatur­nobelpreis für Fosses «innovative Theater­stücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben». Die Preis­begründung klingt nach Klischee, trifft aber den Kern von Fosses Kunst. Denn in all seinen Werken versucht er unermüdlich, inner­menschliche Zustände auszuloten, die der Sprache entzogen sind oder bislang mit Stille bedeckt waren.

Am eindrucks­vollsten zeigt sich dies im Roman­zyklus «Heptalogie» (2019–2021), der am ehesten das Potenzial hat, in Bücher­regalen zu versauern. Wie der Titel ankündigt, besteht das Werk aus sieben Teilen; auf Deutsch sind sie in drei Bände gegliedert: «Der andere Name. Heptalogie I–II», «Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V» und «Ein neuer Name. Heptalogie VI–VII». Ähnlich wie bei Thomas Manns «Buddenbrooks» oder Herta Müllers «Atemschaukel» hat dieses Monumental­werk dabei sicher massgeblich zur Verleihung des Nobel­preises beigetragen.

In der unaufgeregten, poetisch präzisen Übertragung von Fosses lang­jährigem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel nehmen die Bücher Leser mit in die verwinkelten Seelen­korridore der Haupt­figur Asle. Genauer gesagt, reisen wir in diesen Büchern durch die Seelen­labyrinthe zweier Haupt­figuren mit diesem Namen.

Die sieben Romane spielen alle innerhalb weniger Tage um die melancholische Weihnachts­zeit, und wir sind tief in den Gedanken­strömen des Icherzählers, der in weitverzweigte Erinnerungen abdriftet und bisweilen auch in der dritten Person von sich spricht. Etwa, wenn er sich an seine Kindheit und eine Nahtod­erfahrung erinnert, die Fosse in einem früheren auto­biografischen Essay als das «wichtigste Erlebnis meines Lebens» beschrieben hat. Im Band «Ich ist ein anderer» bittet Asles Mutter das Kind, eine Flasche Saft aus dem Keller zu holen, doch der Junge rutscht auf dem Eis aus, die Flasche zerschlägt, und er schneidet sich die Pulsader an einer Scherbe auf. In einem Essay, den der Autor dazu verfasst hat, heisst es: «Ich sah mich von aussen, so nah war ich dem Tod.» Im Roman ist die Szene analog gestaltet:

und ich sehe Asle in einem Auto sitzen und ein Mann hält ihm ein Hand­tuch ums Hand­gelenk und sie fahren zum Arzt und Asle ist nicht ganz bei sich und er sieht ihre Häuser, Das neue Haus und Das alte Haus, und er denkt, jetzt sieht er die Häuser zum letzten Mal und alles liegt in einem hellen Schimmer, in einem unbegreiflichen Licht, von dem er ein Teil ist und das viel grösser ist als er selbst, ja das Licht ist alles, was es gibt, und aus diesem Licht, ja das irgendwie aus kleinen Punkten von flimmerndem Gold zusammen­gesetzt ist, ja das wie eine Wolke von Gold­staub ist, aus dieser Wolke aus schimmerndem Gold sieht er sich selbst im Auto sitzen mit der blutenden Hand

Jon Fosse: «Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V».

Das Roman­projekt ist von unglaublicher formaler Radikalität: Auf über 1100 Seiten findet sich kein einziger Punkt (nicht mal ganz am Ende). Überall: ungebremstes Ineinander­fliessen der Sätze.

Trotz dieser radikalen äusserlichen Form ist Fosses Werk alles andere als verschlossen oder schwer zugänglich. Er geht anders vor als die «high modernists» James Joyce oder Virginia Woolf mit ihren oftmals kryptisch gestalteten Bewusstseins­strömen. Auch funktioniert seine Literatur ganz anders als die Erregungs­prosa von Thomas Bernhard, einem der wichtigsten Einflüsse auf Fosse. Fosses Prosa fliesst beständig, immer verständlich und bald stoisch dahin, wie die Strömung der Fjorde, die die Landschaften in Fosses Leben und Werk formen.

Trotz der geschilderten existenziellen Abstürze, trotz der schlangen­langen Satz­kompositionen ist Fosses Sprache kraftvoll, sein Stil einfach und durch­dringend. «Ich schreibe also in einer Mischung aus literarisch klingender Sprache und gesprochener Sprache», meinte er einmal.

Fosse schreibt auf Nynorsk, neben Bokmål eine der beiden Schrift­sprachen seines Landes, die allerdings nur von rund 15 Prozent der Norwegerinnen verwendet wird. Als Sprache des ländlicheren Westens wird Nynorsk mitunter von der urbanen Elite Norwegens als provinziell belächelt. Neben dem neuen Nobel­preis­träger ist wohl nur Tarjei Vesaas (1897–1970) als Nynorsk-Autor einem internationalen Publikum bekannt. Am Donnerstag hält Fosse seine für Preis­träger übliche Nobel-Vorlesung auf Nynorsk – eine Premiere. Denn nie zuvor hat die Schwedische Akademie einen Autor dieser Sprache ausgezeichnet.

In der «Heptalogie» ist Vesaas’ grosser Einfluss auf Fosse in dem rustikalen Setting, den mystischen Reflexionen und der schmucklosen Sprach­schönheit überall spürbar. Wie bei Vesaas scheint auch Fosses Sprache so einfach, dass sie wie die Variation eines bekannten Themas wirkt – allerdings in der Improvisation eines Virtuosen.

Tatsächlich wollte Fosse einst Musiker werden, Songs schreiben; er spielte Gitarre und Geige, Letztere gibt er auch vielen seiner Figuren in die Hand. So zum Beispiel einem anderen Asle in den drei Erzählungen der geheimnisvoll unheimlichen «Trilogie» (2007–2014). Mit 200 rasant erzählten Seiten bietet sie den vielleicht besten Einstieg in Fosses Werk.

Die Erzählungen folgen zwei jungen Leuten, der hoch­schwangeren Alida und, sorry, einem nochmals anderen Asle – der Name ist bei Fosse überall zu finden. Das Paar irrt im Winter durch eine fremde Stadt, findet nirgends Unterschlupf und baut sich schliesslich gegen alle Widrigkeiten ein Leben auf. Was Fosse bewusst wie die Weihnachts­geschichte beginnen lässt, endet tragisch wie eine Oper.

Die musikalische Gestaltung durchzieht Fosses Werk insgesamt. Er nutzt Wieder­holung und Variation auf obsessiv anmutende Weise: Sätze, Gedanken und Wort­ströme überlagern sich, harmonieren und wider­sprechen sich, als arbeite Fosse an einem einzigen grossen kontra­punktischen Œuvre neurotischer Kanons oder Fugen. Tatsächlich hat er nach eigener Auskunft über lange Zeit «einzig und allein» die Musik Johann Sebastian Bachs gehört.

Auch umkreist er Werk um Werk immer wieder ähnliche Themen: das Entlaufen der Zeit, den Verlust von Liebe und Geborgenheit, die Suche nach Behausung im Land wie im Leben. Seinem Schreiben verleiht das eine existenziell dringliche Zwanghaftigkeit. Und so wie ein Geflecht aus Motiven das Gesamt­œuvre eint, scheint auch in der «Heptalogie» alles nur durch Wieder­holung und Dopplung zusammen­gehalten.

Beide Asles aus dem Roman­zyklus sind Maler und allein­stehende Einzel­gänger. Der eine lebt in dem Provinzdorf Dylgja (worin ein altnordisches Wort für «verstecken» mitschwingt). Seit dem Suizid seiner Frau Ales (einmal mehr eine Namens­variation) ist er verwitwet. Pausenlos brechen Erinnerungen in seine Gedanken ein und bereiten ihm Schmerzen. Doch wo er früher zur Flasche griff, malt er heute Bilder, um die Vergangenheit zu bannen, und betet. Wie Fosse selbst hat Asle die Alkohol­sucht durch eine Konversion zum Katholizismus besiegt.

Der andere Asle hat es nicht geschafft, vom Alkohol loszukommen, und es geht ihm weit schlechter. Er darbt in der fiktiven Fjord­stadt Bjørgvin vor sich hin. Bjørgvin («Bergwiese»), ein historischer Name für Bergen, wirkt wie die provinzialisierte Form der west­norwegischen Stadt, in der Fosse seit Jahrzehnten lebt, auch wenn er noch eine Wohnung im österreichischen Hainburg besitzt und vom König Norwegens eine permanente Künstler­residenz auf dem Palast­grundstück Oslos zuerkannt bekam.

Die «Heptalogie» lässt offen, ob die Asles invertierte Spiegel­figuren sind, Doppel­gänger oder ganz realistisch zwei Freunde, die zufällig denselben Namen tragen. Vielleicht sind sie Variationen desselben Asle und repräsentieren verschiedene Existenz­möglichkeiten oder verschiedene Zeiten.

Typisch für Fosse verkompliziert er diese Lesart gleich in den ersten Bänden der «Heptalogie». Die Doppel­gänger begegnen sich, wenn der eine Asle den anderen volltrunken und reglos im Schnee findet und sein Leben rettet.

so sieht es aus, denke ich, da liegt ein Mensch, im Schnee, von Schnee bedeckt, den Kopf auf einer kleinen Treppe, zu einer Haustür hin, ein Mensch liegt im dicht fallenden Schnee, der sich über diesen Menschen legt, der da liegt, und ich gehe rasch hin und er ist es! es ist Asle! ja Asle liegt dort im Schnee! was ist nur passiert? denn Asle liegt einfach im Schnee und er wirkt ganz leblos, als ob er schlafen würde, liegt er da, als ob er einfach umgefallen wäre, einfach umgekippt, so liegt er da und der Schnee fällt und legt sich über ihn (…)

Befinden wir uns auf metaphorischem Boden? Hat Asle sich eines Tages selbst gerettet und in ein Spital gebracht, wo sein Alkoholismus behandelt werden konnte?

Die offenen internen Fragen der «Heptalogie» reichert Fosse mit den grossen Fragen der Meta­physik an. Wie viele seiner Werke nach 2012 ist das Projekt von religiösen Themen und Motiven durchwirkt.

Der Autor hat damals einen Zusammen­bruch erlitten, nachdem auch er mit dem Trinken aufgehört und sich dem Katholizismus zugewandt hatte. Obwohl Fosse in Norwegen grosse Berühmtheit geniesst, hat ihm diese Konversion in dem protestantischen Land viel Skepsis und Spott eingebracht.

Auch in der «Heptalogie» ist es durchaus befremdlich, wenn der moderne Künstler Asle sich zum Mystiker macht: «der katholische Glauben hat mir viel gegeben und ich begreife mich selbst als Christen», heisst es da. Zum Ausgleich schiebt er progressiv nach: «ungefähr so, wie ich mich als Kommunisten oder mindestens Sozialisten begreife» – nur um dann noch einmal ins Unmoderne zurück­zurudern: «ich bete jeden Tag den Rosenkranz».

Bei Fosse kollidieren Modernität und Religion, Katholizismus und Kunst. Diese Clashes strukturieren allerdings auch das eindringliche Monumental­werk. Wie ein Orgel­gruss, der die Liturgie einleitet, werden alle sieben Teile mit einem nahezu identischen Wort­laut begonnen, wenn Asle eines seiner Gemälde betrachtet: «Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun». Von Band zu Band wird dieser Eingangssatz nahezu unmerklich variiert. Wie ein Nachbar Asle spöttelnd mitteilt, hat er ein Andreas­kreuz gemalt, mit dem das Martyrium des heiligen Andreas aufgerufen wird, indirekt aber auch Jesu Hinrichtung und – der Legende nach – die Erlösung der Menschheit.

Fosses Form­strenge ist so konsequent, dass er auch jeden Band mit einer ähnlichen Szene beschliesst: Asle beim Rosenkranz­beten.

Dieses rituelle Andachts­gebet versucht, Monotonie durch Wiederholung zu überwinden und so Transzendenz anzurufen. Fosses musikalische Wieder­holungen funktionieren ganz ähnlich. Auf beinahe jeder Seite schichtet er durch Wieder­holungen Unmengen an Wort- und Klang­masse übereinander und versucht gebetgleich das Alltägliche mit dem Erhabenen zu verbinden:

und ich schaue auf die jetzt ganz von Schnee bedeckte Windschutz­scheibe, durch die ich die weisse Mauer nicht mehr sehen kann, und ich denke, da Gott ewig ist und ohne Raum und Zeit, ist alles zugleich in Gott, denn Gott ist alles, das geschehen ist und geschieht und geschehen wird, zugleich, darum sind alle Toten bereits auferstanden, ja sie leben, ja als diejenigen, die sie waren, und zugleich als Teil von Gott, denke ich und ich schaue auf den Schnee auf der Windschutz­scheibe (…)

Jon Fosse: «Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V».

Dieser Effekt lässt sich durch heraus­gelöste Einzel­zitate nur andeuten, da die enorme Wirkung gerade von dem endlos wachsenden Text­geflecht ausgeht. Fosse beschreibt zum Beispiel eine Schnee­landschaft, in der ein junger Asle mit seiner verstorbenen Frau Ales Schnee­bälle wirft, bevor sie Schnee-Engel formen, oder er entwirft eine Szene, die wie ein Nacht­ritual jeden der sieben Romane beschliesst. Das Verbindende bei alledem: Durch die Wieder­holung bekommen Fosses Alltäglichkeiten einen Duft von Magie.

Vielleicht steckt in den Gebets­szenen auch ein Schlüssel zu Fosses Kunst insgesamt.

Immer wieder inszeniert er geradezu monolithisch stillstehende Figuren, deren Perspektive wir lesend teilen: Figuren wie Asle, die zuschauen, geduldig lauschen, stoisch schweigend in der Stille warten. Und plötzlich werden sie mit dem Gang und der Schönheit der ganzen Welt verknüpft, wie in einem namenlosen Gedicht aus dem Band «Diese unerklärliche Stille»:

Ich will den Engeln lauschen die von meinen toten freunden kommen
still wie schnee deutlich wie schnee
Ich werde den schnee schmelzen und zu wasser werden sehen
Ich werde es verschwinden sehen, wie adler
Ich will die adler kommen sehen
Ich will es verschwinden sehen
und die musik hören
in der bewegung die wir erschaffen
und die uns erschafft, so deutlich, im dunkeln

Seit Fosse 1983 mit dem (noch unübersetzten) Roman «Raudt, svart» (Rot, schwarz) debütierte, webt er aus den Erlebnissen seiner rustikalen Kindheit ein einzigartiges Werk in Form von auto­biografischen Kurz­erzählungen. Wobei «autobiografisch» auch schon wieder nicht ganz zutrifft, denn Fosse verwischt konsequent die Grenzen zwischen Identitäten und faltet disparate Zeit­momente ineinander. Ist man dies in Lyrik und Prosa längst gewohnt, wirkt diese Technik auf der Theater­bühne wohl am mächtigsten.

Auch die Stücke bieten einen gelegenen Einstieg in Fosses Werk, da seine grossen Dramen lesbar sind wie Gedichte, und das nicht nur aufgrund ihrer an Peter Weiss und Thomas Bernhard erinnernden Versform. Auf engstem Raum lassen sich in den Stücken die Magie von Fosses Schreiben, die Rhythmik und Klang­struktur seiner Sprache, die existenzielle Motivik entdecken.

In seinem ersten Stück «Da kommt noch wer» (1996) greift er in einem bewussten Anklang an Samuel Becketts «Warten auf Godot» Motive von Abwarten und Erwarten auf, verzichtet aber auf Becketts beissenden Humor. Fosse, dessen Lieblings­jahreszeit der Herbst ist, malt auch hier schon eine Welt in melancholischen Rembrandt­farben. Becketts existenziellen Slapstick der beiden Land­streicher, die vergebens auf Godot warten, verwandelt Fosse in bedrohliche Vorahnung. Ein junges weltflüchtiges Paar bezieht ein geerbtes Haus und wird auf unheimliche Weise von einem Fremden heim­gesucht. Hier wie anderswo verbindet Fosse die materielle Alltagswelt mit Fragen der Existenz:

Aber so ist nun einmal
dieses Leben
man sammelt Zeug
dann stirbt man

Im Hallraum des Theaters nutzt Fosse das Lautlose auf höchst eindrucks­volle Weise. Die stärksten Momente seiner Stücke scheint er, wie Harold Pinter vor ihm, mit Stille zu rahmen, um seine Sprach­musik nach der Pause noch wirkungs­voller heraus­zustellen.

In einem seiner besten Dramen, «Traum im Herbst» (1999), steht der Wechsel von Sprache zu Stille nahezu symbolisch für den Wechsel von Leben zu Tod. Das Stück spielt auf einem Friedhof und zeigt mit erbarmungsloser Folge­richtigkeit, wie die Mitglieder einer Familie über viele Jahre hinweg wiederholt zusammen­kommen, um einander allmählich zu Grabe zu tragen.

Nach und nach werden alle Menschen ersetzt
durch andere Menschen
alle werden ersetzt

«Nach und nach» entfaltet sich auch die einzigartige Wirkung von Fosses Literatur, und es kann in diesen Zeiten sehr wohltuend sein, mit viel Geduld und Ruhe in die Welt von Bjørgvin zu reisen, wo niemand an einem Computer kauert oder in ein Smart­phone starrt.

Wer Fosses Stimme noch nicht gelauscht hat, aber noch immer Berührungs­ängste vor den 1100 «Heptalogie»-Seiten hat, der höre vielleicht auf den Autor selbst. Im ersten Interview mit der Schwedischen Akademie per Telefon rät er dazu, zu dem kurzen Buch «Morgen und Abend» (2000) zu greifen, etwa ein Zehntel so lang wie die «Heptalogie».

In vielfacher Hinsicht ist es die Ouvertüre des grossen Zyklus, erzählt ebenfalls von einem Mann am Ende seines Lebens, der auf seine Zeit auf Erden zurück­blickt und überall von Erinnerungen umweht wird, nachdem er eines Morgens erwacht und die Welt mit einem Mal vollkommen verändert vorfindet: «und jetzt ist es, als hätte sich ein Licht­regen über alles gelegt und die Dinge verwandelt».

Goldstaub und Lichtregen – viel zu schade nur fürs Bücherregal.

Zum Autor

Jan Wilm ist Schrift­steller und übersetzt aus dem Englischen, unter anderem Werke von Arundhati Roy und Frank B. Wilderson III. 2016 erschien sein Sachbuch «The Slow Philosophy of J. M. Coetzee», 2019 der Roman «Winterjahrbuch», 2022 sein Freundschafts­buch «Ror.Wolf.Lesen». Zuletzt kam seine Übersetzung von Adam Thirlwells neuem Roman «Die fernere Zukunft» heraus. Für die Republik schrieb er bereits zweimal über norwegische Literatur: über den Kultautor Dag Solstad sowie über Klassiker und aktuelle Neuerscheinungen.

Zum Weiterlesen und -hören

Jon Fosse: «Traum im Herbst und andere Stücke». Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2001. 320 Seiten, ca. 22 Franken.

Jon Fosse: «Morgen und Abend». Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2013. 128 Seiten, ca. 19 Franken.

Jon Fosse: «Die Nacht singt ihre Lieder und andere Stücke». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2016. 304 Seiten, ca. 22 Franken.

Jon Fosse: «Trilogie». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2016. 208 Seiten, ca. 32 Franken.

Jon Fosse: «Der andere Name. Heptalogie I–II». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2019. 480 Seiten, ca. 52 Franken.

Jon Fosse: «Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2022. 368 Seiten, ca. 46 Franken.

Jon Fosse: «Ein neuer Name. Heptalogie VI–VII». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2023. 256 Seiten, ca. 44 Franken.

Bei «Hörkultur» sind ausserdem drei Hörbücher von Werken Jon Fosses erschienen: die ersten beiden Bände der «Heptalogie» sowie «Das ist Alise».

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