Und immer wieder Bloomsday

Vor genau hundert Jahren erschien «Ulysses» von James Joyce. Sperrig, unmöglich, unwiderstehlich. Eine Liebeserklärung.

Von Jan Wilm (Text) und Jonathan Burton (Illustration), 02.02.2022

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James Joyce in Zürich, wo er mit seiner Familie zeitweise lebte und 1941 starb.

Die meisten Lesenden, so sagt man, legen James Joyces «Ulysses» spätestens nach dem dritten Kapitel zur Seite, was nichts Geringeres als eine Tragödie ist. So lernen sie auch einhundert Jahre nach der Erst­veröffentlichung am 2. Februar 1922 – Joyces 40. Geburts­tag – niemals die grösste Figur der Welt­literatur kennen, die erst im vierten Kapitel auftritt: Leopold Bloom.

Ich führte selbst lange diese Tragödie auf. Elf Jahre begleitete mich «Ulysses» durchs Leben, überstand unzählige Umzüge, und doch scheiterte ich mit jedem Leseversuch aufs Neue an Kapitel drei. Dieses folgt einer Figur namens Stephen Dedalus und schildert, wie er am Dubliner Sandymount Strand, «Goldlicht auf See, auf Sand, auf Felsen», umher­schlendert, über Gott und Aristoteles und die Kabbala und die Welt nachdenkt. Obwohl mir der etwas spröde Dedalus schon aus Joyces erstem Roman, dem auto­biografisch inspirierten «Porträt des Künstlers als junger Mann», bekannt war, kapitulierte ich im «Ulysses» regelmässig bei Abschnitten wie diesem:

Vor der Äonen Anbeginn hat Er mich gewollt und wird nicht hinweg mich wollen jetzt noch jemals. Eine lex aeterna bleibt um ihn. Ist das dann die göttliche Substanz, darin Vater und Sohn konsubstantiell sind? Wo ist der arme gute Arius, dass er’s mal damit versuchte? Hat sein Leben lang Krieg geführt gegen die Kontrans­magnific­undjuden­pengtantialität. Häresiarch unter einem Unstern. In einem griechischen Wasser­klosett tat er den letzten Schnaufer: Euthanasie. Mit perlen­besetzter Mitra und mit Krumm­stab, fest installiert auf seinem Thron, Witwer eines verwitweten Bischofs­stuhls, mit hochgesteiftem Omophorion, den Hintern voller Köttel.

Diese Flut an Bildungs­referenzen! Zudem ertrank ich damals in einem Tsunami aus Sekundär­literatur, da ich dachte, ich müsste mich literatur­wissenschaftlich ausrüsten, um in «Ulysses» einzutauchen. Viel zu häufig war mir vermittelt worden, das Buch wäre der ernsteste, feierlichste und verkopfteste Roman, den die Welt je gelesen (oder eben nicht gelesen) hat.

Mit herunter­gezogenen Mund­winkeln und geschürzten Lippen erzählten mir meine Professoren, es sei «sehr dicht, das Buch», «von grösster Bedeutung für die Literatur­geschichte», und ihre Augen blieben dabei hinter den Lesebrillen so verschlossen wie mir der Roman. Joyce hat sich selbst über diese Leute lustig gemacht. Sein Inventar-Stil enthält zahllose Listen, und in einer Reihe eines elitären Dubliner Personen­kreises taucht zum Beispiel der folgende Grand­seigneur auf: «Nationalgymnasium­museum­sanatorium­undsuspensoriums­ordentlicher­privatdozent­fürallgemeine­geschichte­spezial­professor­doktor Kriegfried Überallgemein».

Zum Autor

Jan Wilm ist Schriftsteller und Übersetzer. Er publiziert unter anderem in «Volltext» und der «Los Angeles Review of Books». 2016 erschien sein Sachbuch «The Slow Philosophy of J. M. Coetzee», 2019 der Roman «Winterjahrbuch». Im Juni kommt sein Buch «Ror.Wolf.Lesen» heraus.

Wäre den Eingeweihten, die mich umgaben, daran gelegen gewesen, mir den «Ulysses» nahezubringen, hätten sie doch verdammt noch mal ein einziges Wort darüber verlieren können, wie halsbrecherisch komisch dieses Buch ist. Und wie grandios und ereignis­reich der Alltag ist, den man mit Leopold Bloom verbringt. Etwa wenn er sich fragt, was seine Katze wohl sieht, wenn sie ihn anstarrt. Oder ob griechische Götter einen Anus haben (bei den Statuen im Museum sähe es jedenfalls nicht so aus, er müsse mal nachgucken).

Kommas weichen dem menschlichen Denken

Man ist bei ihm, wenn Bloom eine gekaufte Zitronen­seife im Laufe des Tages durch seine Taschen wandern lässt, als befände sich die Seife selbst auf einer Odyssee. Oder wenn er einem blinden Jungen über die Strasse hilft. Oder sich am Sandymount Strand einen runterholt, während über ihm ein Sommer-Feuerwerk explodiert, «ein Strom gold­regnender Haarfäden» und «grünliche tauige Sterne die nieder­fielen». (Kein Komma­fehler! Da Joyces Bewusstseins­ströme das menschliche Denken nachformen, wählt er eine ganz eigene Zeichen­setzung, die der deutsche Übersetzer Hans Wollschläger treffend nachahmt.)

Nach dem Tod seines Sohnes Rudy elf Jahre zuvor ist Blooms Leben samt seiner Ehe allmählich aus dem Ruder gelaufen. Und wir erleben ihn an diesem normalen Junitag, der für Fans zum «Bloomsday» geworden ist, auch in seiner tiefen Einsamkeit.

Warum aber hat mir niemand erzählt, dass Joyce seinen Leopold – seine Frau nennt ihn nur «Poldy» – stets zum Humor greifen lässt, wenn sein Tag in ein Tal der Traurigkeit abstürzt?

Während der Beerdigung eines Bekannten zum Beispiel denkt Bloom darüber nach, ob man nicht Platz auf dem Friedhof sparen könnte, wenn man Menschen stehend begrübe. Und er überlegt, ob man Familien­mitglieder nicht auf Schall­platte konservieren könnte, um ihre Stimmen zu behalten, wenn sie verstorben sind (die verkrachten Klänge alter Schellack­platten versprachlicht Joyce sogar):

Ein Grammophon auf jedem Grab oder doch zu Hause. Und sonntags dann nach dem Essen. Leg uns doch mal den armen alten Urgrossvater auf. Kraahraark! Hallohallohallo chfreumich schrecklich kraark michschrecklich euchwiederzu hallohallo chfreumichschreck krackszschsss.

Hat man sich einmal zu Bloom durchgebissen, entfaltet sich der köstliche Geschmack von Joyces Sprachwitz erst so richtig.

Leopolds Namens­vetter, der Literatur­wissenschaftler Harold Bloom, schrieb einst über Joyces berühmtesten Helden: «Er ist immun gegen Zorn, Hass, Neid und Bösartigkeit, und allem voran ist er ein grund­gütiger und gross­zügiger Mensch.» Hält man sich an Leopold Bloom, schafft man es im Flug durch den Roman.

Ich kenne keine Lektüre­erfahrung, die dem Streifzug durch Joyces Dublin gleichkäme. Noch vor Alfred Döblins «Berlin Alexander­platz» oder Virginia Woolfs «Mrs Dalloway» machte Joyce die Grossstadt sinnlich erfahrbar: Man kann den Krach und die Musik, das Geräusch und das Gerede regelrecht hören. «Ulysses» bringt unsere Synapsen zum Feuern und unsere Ohren zum Schlackern.

Die Handlung dieses türstopper­dicken Romans – das Original hatte in der Erstausgabe über 700 Seiten; in der letzten deutschen Übertragung sind es fast 1000 – ist schnell erzählt.

Als wollte Joyce Aristoteles gefallen, ist sein Roman von einer Einheit aus Raum und Zeit geprägt. «Ulysses» umfasst einen Tag, den 16. Juni 1904, und dabei sind die 18 Kapitel des Romans mal mehr, mal weniger verschiedenen Motiven und Episoden der «Odyssee» Homers nachempfunden. Als Entsprechung des gewieften Odysseus hat Joyce den 38-jährigen Bloom erfunden. Ihm folgen wir auf seinen Wanderungen durch die Stadt, bis er nach allerlei Abenteuern in der Nacht zirkelartig heimkehrt, wie Odysseus nach Ithaka.

Im Schlepptau hat er den 22 Jahre alten Stephen Dedalus, einen symbolischen Sohn – wie Telemachos in der «Odyssee». Nach einer Strassen­prügelei im Rotlicht­bezirk, in die Stephen verwickelt war, kümmert Bloom sich fürsorglich um den jüngeren Freund, macht ihm in der Küche seines Hauses eine Tasse heissen Kakao und verabschiedet ihn in die Nacht, bevor er sich anschliessend zu seiner Frau ins Bett legt.

Wie bei Homer Odysseus’ Frau Penelope einen zentralen Anteil an der Erzählung hat, überlässt Joyce Blooms Ehefrau den grandiosen Schluss­akkord des Romans. Mollys Selbst­gespräch, einer der grossen, ausschweifenden Bewusstseins­ströme der Literatur­geschichte, liest sich heute stellen­weise wie der Monolog einer Stand-up-Komikerin. Wenn sie zum Beispiel darüber nachdenkt, dass Statuen von Frauen im Museum immer schöner aussehen als Statuen von Männern, klingt das so:

wie ein Mann aussieht mit seinen zwei Säcken voll und dem andern Ding was da an ihm runterhängt oder einem entgegen­ragt wie ein Hutständer kein Wunder dass sies mit einem Kappes­blatt bedecken

Riskante Radikalität

Die Radikalität von Joyces literarischem Verfahren aber hat immer wieder auch zu Vorwürfen gegen den Roman geführt. Manche davon erscheinen im Rückblick nur noch wie Anekdoten. Andere werfen bis heute Fragen auf, deren Beantwortung verzwickt bleibt.

Das vergleichs­weise Einfache zuerst: Mit Mollys Monolog ist Joyce bei den sexuellen Schilderungen weiter gegangen als je ein englisch­sprachiger Roman zuvor. Die Folge: eine homerische Irrfahrt bis zur Publikation. Verlage und Druckereien machten wegen gefürchteter Klagen einen Rückzieher. So erschien das Buch nicht in Irland, England oder den USA, sondern in Paris, durch die Buch­händlerin Sylvia Beach, in deren Laden Shakespeare and Company Joyce während seiner Pariser Zeit mit anderen Exil-Schreibenden wie Gertrude Stein und Ernest Hemingway herumlungerte.

Nach der Veröffentlichung zog Mollys sexuelle Freizügigkeit Anschuldigungen der Obszönität sowie Zensur­versuche nach sich. Und Mollys Ehemann Leopold gab fürs Erste vor allem wegen einer Masturbations­szene zu reden – und nicht wegen Joyces revolutionärer Erneuerung der modernen Literatur.

Aufwühlender aber ist bis heute eine ganz andere Frage: die nach dem Antisemitismus im Roman.

Denn mit «Ulysses» klagt Joyce auch den Antisemitismus im Dublin des frühen 20. Jahr­hunderts an. Er geht dabei aber stilistisch so avanciert und risiko­reich vor, dass sein Text anfällig ist für Miss­verständnisse – und im Laufe der Jahrzehnte bisweilen sogar dem Autor selbst antisemitische Tendenzen angelastet wurden.

Was hat es damit auf sich?

Leopold Bloom ist in Joyces Roman der Sohn einer irischen Christin und eines ungarischen Juden. Nach der Halacha, welche die Zugehörigkeit zum Judentum von der Mutterlinie her definiert, ist Bloom also kein Jude. Bloom aber sieht sich selbst als jüdisch, und er wird von seiner Umwelt als Jude identifiziert – sowie antisemitisch diskriminiert. Auch in dieser Hinsicht zeichnet Joyce ein ungeschöntes Porträt seiner Heimat.

Dublin und der Antisemitismus

Irland hatte seit dem Mittelalter eine sehr kleine jüdische Gemeinde. Obwohl es im frühen 20. Jahr­hundert auf der Insel viel seltener zu Hass­verbrechen kam als in Kontinental­europa, war das erzkatholische Dublin von 1904, in dem Bloom sich bewegt, von Antisemitismus geprägt. Durch Blooms Blick macht Joyce die Ressentiments in jenem Land deutlich, das er zur Zeit der Arbeit am «Ulysses» längst verlassen hatte. Ganz gleich, wie «assimiliert» Bloom mit seiner jüdischen Familien­geschichte in seiner Heimat Irland auch sein mag: In der Gesellschaft, die Joyce beschreibt, bleibt er ein Aussen­seiter und «Fremder».

Im «Ulysses» gibt es immer wieder Figuren, die Bloom ihre antisemitischen Vorurteile und Klischees ins Gesicht schleudern. Indem Joyce den von Bloom erlebten Antisemitismus als etwas Alltägliches im Leben seines Helden erfahrbar macht, zeigt er die Allgegenwart antijüdischer Ressentiments, ohne diese abzumildern.

Dieses Verfahren ist riskant, da im «Ulysses» mitunter antisemitische Äusserungen der Charaktere stehen bleiben, ohne dass Joyce eine andere Figur direkt Einspruch erheben lässt. Die Pointe dabei ist: Auch wenn die Figuren dem Antisemitismus häufig nichts entgegen­setzen, so tut es der Roman mithilfe dramaturgischer Kniffe oder stilistischer Eingriffe, die allerdings eine genaue Lektüre erfordern.

Schon in den Anfangs­kapiteln, noch bevor wir Bloom treffen, begegnet die Leserin antisemitischen Aussagen einzelner Figuren. Ein von Stephen wenig geachteter englischer Bekannter etwa fürchtet, England würde «in die Hände deutscher Juden fallen». Im zweiten Kapitel wird Stephen, der aushilfs­weise als Geschichts­lehrer arbeitet, zum Rektor gerufen, um sein Monats­gehalt entgegen­zunehmen. Im Gespräch bemüht der Schul­leiter das antisemitische Klischee, das internationale Finanz­kapital und die Medien stünden unter jüdischer Kontrolle. Als Stephen geht, hält es der Rektor für nötig, ihm nachzulaufen, um stolz zu verkünden: «Irland hat, sagt man, die Ehre, das einzige Land zu sein, das niemals die Juden verfolgt hat.» Stephen fragt, warum. «Weil es sie nie herein­gelassen hat, sagte Mr. Deasy feierlich.»

Historisch liegt der Rektor falsch, doch wichtiger ist, was im nächsten Satz geschieht: «Ein Husten­anfall Gelächter sprang aus seiner Kehle, eine rasselnde Kette Schleim hinter sich herzerrend.»

Hierin liegt eine von Joyce durchweg angewandte Technik: Nach ideologisch verachtens­werten Äusserungen verhässlicht er die Figuren. Der Rektor wird von seinem eigenen Schleim befallen. Als Joyce an späterer Stelle einen Professor antisemitische Aussagen vortragen lässt, macht der Erzähler dem Professor einen Strich durch die Rechnung: «Ein stummes Hunger­rülpsen zerriss seine Rede.»

So gestaltet der Roman auch dort eine Art von Gegenrede, wo von den Figuren niemand das Wort erhebt. Auf diese Art kann Joyce ungeschönt die Wirklichkeit des damaligen Dublins zeigen und dennoch literarisch seinen Einspruch deutlich machen.

An einer der zentralen und meist­diskutierten Stellen des Romans zeigt Joyce aber auch, wie der sanftmütige Bloom sich der Anfeindungen erwehrt.

Das zwölfte Kapitel des «Ulysses» ist an die Zyklopen-Episode der «Odyssee» angelehnt: Bei Homer besiegt Odysseus den bösartigen einäugigen Riesen, der seine Schiffs­mannschaft in seiner Höhle gefangen hält, indem er den Zyklopen blendet. Joyce führt uns bei der entsprechenden Szene seines Odysseus-Romans in ein kavernen­haftes Pub, wo auch Bloom auf ein bösartiges Monstrum trifft – allerdings im metaphorischen Sinn. An der Theke betrinkt sich ein namenloser «Bürger», der fortwährend antisemitische Klischees ausspeit und Bloom schliesslich beleidigt, indem er dessen irische Identität aufgrund seiner jüdischen infrage stellt:

– Welcher Nation gehören denn Sie an, wenn ich fragen darf, sagt der Bürger.

– Irland, sagt Bloom. Ich bin hier geboren. Irland.

Der Bürger sagt nichts, er räuspert sich bloss den Schleim aus der Gurgel und spuckt, weiss Gott, eine ganze Red-Bank-Auster davon direkt in die Ecke.

Wieder macht Joyce durch die Bild­sprache seine Abscheu gegenüber dem «Bürger» deutlich. Anders als zuvor wird Bloom in dieser Szene aber direkt beleidigt – und er verteidigt sich ebenso unmissverständlich, wenn er dem katholischen Bürger entgegnet, sein Messias sei doch ebenfalls Jude gewesen.

Joyce nähert Bloom also auch dadurch dem mythologischen Odysseus an, dass er ihm die Tapferkeit und Gewitztheit verleiht, sich gegen das Ressentiment zur Wehr zu setzen. Und als wollte Joyce Bloom besondere Widrigkeiten in den Weg stellen, um dessen Charakter­stärke umso mehr zu konturieren, muss der Held an dieser Stelle gewisser­massen auch gegen die Erzähl­stimme antreten.

Joyce erfindet eigens für dieses Kapitel einen namenlosen Erzähler, der zutiefst rassistisch, frauen­feindlich und antisemitisch ist. Diesen lässt Joyce nicht nur Vorurteile äussern, sondern auch sprachliche Ausrutscher begehen: Der Erzähler verwendet Redens­arten falsch, will ständig bildungs­sprachlich gewandt erscheinen, haut aber bei den gewählten Fremd­wörtern daneben. Kurzum: Er ist eine Karikatur.

Es ist also sehr plausibel, wenn der amerikanische Literatur­wissenschaftler Neil Levi meint, dass Joyce mit diesem namenlosen Erzähler im Zyklopen-Kapitel einen gewöhnlichen Dubliner des frühen 20. Jahr­hunderts parodiert – und damit vorführt, wie ein wahrhaftiger Antisemit auf Bloom blickt. Unter den Erzählern des Romans ist der Namenlose des Zyklopen-Kapitels die Anomalie, der Fremde, der Aussen­seiter – nicht Leopold Bloom.

So nimmt Joyce mit seinem 1922 erschienenen Roman eine klare Gegen­position zu anderen grossen englisch­sprachigen Literaten seiner Zeit ein. Das Werk von Wyndham Lewis und Ezra Pound wimmelt geradezu von Antisemitismus, und in Texten von D. H. Lawrence, T. S. Eliot und Virginia Woolf findet man zahlreiche, unverblümt antisemitische Passagen.

Dazu noch einmal der Literatur­wissenschaftler Harold Bloom:

Es war einmal in Mode, Leopold Bloom als einen Juden der Art zu betrachten, wie ihn T. S. Eliot hätte erschaffen können, aber gewiss nicht James Joyce – nämlich als das dekadente, verfluchte, raubtier­artig männliche, verdorbene Relikt eines vorsintflutlichen Volkes. Aber im Gegensatz zu Eliot war Joyce kein Antisemit. Sein Poldy ist in Wahrheit vital, sanft, gütig, unendlich liebens­würdig und sogar heroisch, etwa wenn er sich bei einer Konfrontation in der Kneipe für sein Judentum erhebt.

Aus: «Genius» von Harold Bloom.

Das ist eine treffende Charakterisierung des Protagonisten wie des Romans: Obwohl ich lesend mit Leopold Bloom nur einen Tag seines Lebens verbringe, macht Joyce all jene Charakter­eigenschaften so lebhaft erfahrbar, dass ich am Ende glaube, Bloom schon mein ganzes Leben zu kennen. Die Figur wie der Roman sind so komplex wie die Wirklichkeit. Das schliesst auch das Verstörende mit ein, das diesem Helden widerfährt.

Dublin wird von Zürich aus zerlegt

Mit dem «Ulysses» hat Joyce auch das eigene komplexe Verhältnis zu seiner Heimat­stadt Dublin in Literatur gefasst.

Im selben Jahr, in dem er später seinen Roman spielen lässt, haben der 22-jährige Joyce und seine Frau Nora Dublin den Rücken gekehrt. Da kannte sich das junge Paar seit vier Monaten: Wie Joyce in seinen Briefen an Nora wohl auch für die Nachwelt festhält, hatten sie das erste Date an dem von Joyce verewigten 16. Juni 1904. Als sie im Oktober in Zürich ankamen, schliefen sie im symbol­trächtigen Gasthof Hoffnung das erste Mal miteinander und zeugten ihr erstes Kind – so zumindest der selbst geschaffene Mythos.

Fünfzehn Jahre lang wird die Familie Joyce immer wieder nach Zürich kommen. Die Zeit ihres längsten Aufenthalts zwischen 1915 und 1920 ist eine der intensivsten Schreib­phasen am «Ulysses».

Der grösste lebende Joyce-Kenner, der Schweizer Fritz Senn, schrieb einst treffend, der Roman sei «Dublin, made in Zurich». Und so ist es auch kein Wunder, dass der hundertste Jahres­tag des «Ulysses» in Zürich besonders intensiv gefeiert wird – inklusive Jubiläums­ausstellung und literarischer Stadt-Odyssee.

Joyce mochte Zürich, doch war er 1915, wie sein Biograf Richard Ellmann schrieb, «ein doppelt Verbannter», da er nach Dublin auch seine «zweite Heimat» Triest wegen des Kriegs verlassen musste. In all seinen Lebens­städten – die letzte Zeile des «Ulysses» verewigt die Trias «Triest-Zürich-Paris, 1914–1921» – blieb er ein Fremder, der die Heimat aus der Ferne zerlegte und nachformte. Und zwar so detail­versessen, dass Dublin, wie er einmal verschmitzt sagte, nach einer möglichen Zerstörung mithilfe seines Romans wieder aufgebaut werden könnte.

Das Erstaunliche ist aber nicht, dass er damit der Welt Dublin schenkte. Sondern dass er dem kleinen Dublin die Welt zum Geschenk machte.

Mit seinem im Ausland geschulten Auge und Ohr, mit seiner Fähigkeit, die ganze Welt in sich aufzusaugen, sie literarisch zu dokumentieren und zu verwandeln, machte Joyce das Dublin seines Romans zu einer kosmo­politischen, endlos vielstimmigen Stadt in der Mitte der Welt.

Was den «Ulysses» für mich auch hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung so aufregend macht, ist, dass die Mehrstimmigkeit des Romans nichts Klein­städtisches und Blooms Vielschichtigkeit nichts Klein­geistiges zulässt.

Als ich es damals schaffte, das erste Mal den «Ulysses» in Gänze zu durchqueren und den Humor und die Tiefsinnigkeit des Romans zu erfahren, war mein Eindruck, ich hätte es, wie Odysseus, endlich nach Hause geschafft. Nur wäre ich dankbar gewesen, ich hätte statt der feierlichen Professoren­phrasen schon früher einfach gesagt bekommen, dass man bei diesem Buch ruhig auch Umwege nehmen darf, um ans Ziel zu kommen.

Hätte ich damals die kluge Verfilmung des Romans von Joseph Strick gesehen oder die brillante, ungekürzte und frei verfügbare Radio-Adaption des irischen Rundfunks RTÉ gehört, ich hätte diesen Jahrhundert­roman viel eher zu lieben begonnen; und hätte viel früher schon Dedalus und Bloom zugesehen, wie sie unter dem «Himmels­baum der Sterne» in Blooms Garten pinkeln und sich verabschieden, als wären sie alte Freunde.

Joyce sagte einst, er wollte mit Leopold Bloom keine literarische Figur erschaffen, sondern einen Menschen. Das ist ihm gelungen, und ich bin bis an mein Lebens­ende dankbar, dass ich diesen Menschen kenne.

Zu den Büchern

James Joyce: «Ulysses». Aus dem Englischen von Hans Wollschläger. Hrsg. und kommentiert von Dirk Vanderbeke u. a. Suhrkamp, 2004. 1140 Seiten.

James Joyce: «Ulysses. The 1922 text». Hrsg. und kommentiert von Jeri Johnson. Oxford University Press, 2008. 1056 Seiten.

James Joyce: «Ulysses. Annotated Student Edition». Hrsg. und kommentiert von Declan Kiberd. Penguin, 2011. 1296 Seiten.

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