«Wir haben das Gefühl, dass wir dem Tod näher sind als dem Leben»

Zwei Wochen in Gaza-Stadt: ein Whatsapp-Tagebuch aus dem Krieg.

Von Bettina Hamilton-Irvine, 03.11.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 23:38

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In unmittelbarer Nachbarschaft: «Es sind zweistöckige Häuser ganz in unserer Nähe, die zerbombt wurden», schreibt Mostafa, von ihm stammen auch die Bilder in diesem Beitrag.

Mostafa, was ist dein Traum?

«Ich träume davon, in Frieden leben zu können, einfach ein normales Leben zu haben.»

Als diese Whatsapp-Nachricht aus Gaza kommt, sind wir schon seit vier Tagen im Austausch. Den Kontakt hat ein gemeinsamer Bekannter hergestellt, der schreibt, es gäbe zwar viele gute Journalisten und Autorinnen in Gaza, aber die meisten seien nicht mehr erreichbar.

Mostafa aber reagiert sofort, als ich mich an einem Dienstag­nachmittag bei ihm melde. Zehn Tage ist es her, dass militante Hamas-Kämpfer Israel angegriffen, 1400 Menschen getötet und mehr als 200 Geiseln genommen haben. Kurz darauf begann Israel, den Gaza­streifen zu bombardieren und die Versorgung komplett zu unterbinden.

Er würde uns gerne einen Text liefern, schreibt Mostafa, der in Wirklichkeit anders heisst, aber das sei kaum möglich zurzeit: «Wir haben Probleme mit Elektrizität und Internet.» Er könnte via Whatsapp berichten, schlägt er vor, mit Text- und Sprach­nachrichten.

Mostafa ist 49 Jahre alt und lebt in Gaza-Stadt im Beach Camp, einem Flüchtlings­lager, mit seiner Frau und vier Söhnen im Alter zwischen 19 und 10. Im Moment wohnt auch die Familie seines verstorbenen Bruders bei ihm. Er hat lange in Europa gelebt, wo er auch einen Master­abschluss in Journalismus gemacht hat. Vor knapp zehn Jahren kam er wegen seiner alternden Eltern zurück nach Gaza. Er arbeitet als Rechercheur für einen lokalen Thinktank, er übersetzt Texte und unterrichtet. Er könne auch Fotos schicken, schreibt er.

Dann fallen wieder Bomben.

Dienstag, 17. Oktober

18.29 Uhr, Textnachricht:
Wir denken nur noch ans Überleben.

19.01 Uhr, Textnachricht:
Jetzt gibt es wieder Angriffe. Wir sind nervös.

19.03 Uhr, Textnachricht:
In meinem Haus sind rund 20 Personen, die Hälfte davon sind Kinder. Alle sind verängstigt und besorgt.

19.05 Uhr, Textnachricht:
Bei jedem Geräusch liegen unsere Nerven blank.

19.07 Uhr, Textnachricht:
Meine Schwägerin musste ihr Haus evakuieren, weil das Nachbarhaus bombardiert und ihr Haus beschädigt wurde. Deshalb kamen sie zu uns. Das jüngste Kind bei uns ist 40 Tage alt. Ich mache mir Sorgen um sie alle.

Eine Stunde später berichtet Mostafa, gemäss dem Gesundheits­ministerium in Gaza seien mehr als 200 Personen bei einem Luft­angriff auf das Al-Ahli Arab Hospital getötet worden. «Vielleicht ist die Zahl auch noch höher», schreibt er. «Viele Leute suchen Schutz in Kranken­häusern, weil sie denken, das seien sichere Orte.»

Auch zwei Wochen nach der Explosion ist noch nicht abschliessend geklärt, was wirklich geschehen ist. Während die von der Hamas kontrollierten Behörden in Gaza Israel vorwerfen, das Spital angegriffen zu haben, stellt sich Israel auf den Standpunkt, eine fehlgeleitete palästinensische Rakete sei dafür verantwortlich. Das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA haben erklärt, ihre Analysen würden die israelische Darstellung bestätigen. Sie haben aber bisher keine Beweise dafür veröffentlicht. Nach wie vor kommen Expertinnen zu unterschiedlichen Schlüssen, wer und was die Explosion ausgelöst hat.

Mittwoch, 18. Oktober

Mostafa schickt Fotos von meterlangen Menschen­schlangen in den Strassen von Gaza, die Wartenden tragen leere Kanister, Eimer, Plastik­flaschen.

11.44 Uhr, Sprachnachricht:
Auf den Fotos sieht man, wie sehr die Menschen darum kämpfen müssen, Trinkwasser zu finden. Ein Mann, Mohammed heisst er, geht mit seinem Pferd zur Wasser­aufbereitungs­anlage, weil die Autos nicht fahren können ohne Benzin. Also holt er Wasser mit dem Pferd, und die Leute stehen mit ihren Kanistern Schlange, um etwas Trink­wasser zu bekommen. Die Situation in Bezug auf das Trinkwasser ist im Moment sehr, sehr prekär. Die Menschen sind gestresst.

Lange Menschenschlangen: «Die Situation in Bezug auf das Trinkwasser ist im Moment sehr, sehr prekär.»

Am Tag zuvor haben die Vereinten Nationen vor einer humanitären Krise in Gaza gewarnt und betont, der Zugang zu Wasser sei ein Menschenrecht. «Dem Gazastreifen geht das Wasser aus, und dem Gazastreifen geht das Leben aus», sagte Philippe Lazzarini, der Leiter des Uno-Palästinenser­hilfswerks (UNRWA).

Donnerstag, 19. Oktober

10.25 Uhr, Sprachnachricht:
Ich war im wichtigsten Spital in Gaza, dem Al-Shifa-Spital. Ich schicke dir einige Fotos, wobei einige davon sehr schwer anzuschauen sind. Ich weiss nicht, ob du sie sehen willst.

Die Vereinten Nationen haben zwei Tage zuvor gewarnt, der Gesundheits­sektor in Gaza stehe «vor dem Zusammen­bruch». Medien berichten von Leichen auf den Krankenhaus­fluren und von Ärzten, die Verwundete auf dem Boden behandeln mussten, einige davon ohne Anästhesie.

Gemäss Weltgesundheits­organisation ist es unmöglich, Krankenhaus­patientinnen aus dem Norden des Gazastreifens zu evakuieren. Generell führe der Umsiedlungs­befehl «zu einem noch nie da gewesenen Ausmass an Elend und werde die Menschen im Gazastreifen weiter in den Abgrund stürzen», heisst es in einer Mitteilung.

Vor ein paar Tagen bereits hat Israel die Bewohnerinnen des nördlichen Gazastreifens aufgerufen, das Gebiet innerhalb von 24 Stunden zu räumen und in den Süden zu flüchten.

Mostafa, warum seid ihr geblieben?

17.29 Uhr, Sprachnachricht:
Wir sind hier im Norden von Gaza geblieben, so wie viele andere Leute auch. Wir bleiben, weil es erstens sehr schwierig ist, zu flüchten und vorwärts­zukommen. Es gibt keine Autos und kein Benzin und es ist nicht sicher. Zudem ist Gaza ein sehr überfüllter Ort, wo sollen wir denn hingehen? Manche Leute haben Verwandte im Süden, aber die Häuser sind alle voll mit Menschen, die Menschen hocken bereits aufeinander. Also schlafen die Leute auf den Strassen oder teilweise in Schulen. Aber auch Schulen wurden angegriffen. Deshalb haben wir uns entschieden, zu Hause zu bleiben. Es wäre sehr schwierig für uns, unser Zuhause zu verlassen, unsere Wohnung, unsere Zimmer, unsere Sachen, unsere Kleidung, unsere Betten, alles zurück­zulassen und dann irgendwo auf dem Boden zu schlafen. Das ist erniedrigend.

17.32 Uhr, Sprachnachricht:
Gaza hatte schon vor dem Krieg ein Wasser­problem. Unser Leitungs­wasser ist salzig und nicht trinkbar, man kann es nur zum Waschen brauchen. Nun wird es versiegen. Es gibt einige Wasser­aufbereitungs­anlagen und spezielle Wasser­transporter, die das Trinkwasser verteilen. Die Leute kaufen es und füllen damit die Tanks auf ihren Haus­dächern. Aber nachdem Israel uns nun von der Treibstoff­versorgung abgeschnitten hat, funktionieren die Wasser­aufbereitungs­anlagen nicht mehr – ausser diejenigen, die mit Solar­panels betrieben werden. Auch die Wasser­transporter können ohne Benzin nicht fahren. Heute Morgen habe ich meine Söhne mit Kanistern auf die Strasse geschickt und sie gebeten, dort zu bleiben, für den Fall, dass ein Wagen mit Wasser vorbeikommt. Oder ein Pferd, das Wasser trägt. Aber selbst das wenige Trinkwasser, das wir bekommen, schmeckt teilweise schlecht. Es ist nicht richtig aufbereitet. Es besteht also die Gefahr, dass man sich mit Krankheiten ansteckt.

17.35 Uhr, Sprachnachricht:
Schon vor dem Krieg war das Leben in Gaza nicht normal. Aber jetzt ist es unbeschreiblich. Vorher hatten wir jeweils sechs Stunden Strom, dann war er zehn Stunden weg, dann wieder sechs Stunden da. Und es gab grosse Generatoren, damit wir Elektrizität hatten, wenn uns die offiziellen Strom­leitungen nicht mehr versorgten. Aber jetzt haben wir überhaupt keinen Strom mehr vom Haupt­stromnetz. Und auch die Generatoren funktionieren ohne Treibstoff nicht mehr. Ich schicke meinen Sohn manchmal mit Batterien zu einem Bekannten, der ein Solar­panel hat, um sie aufzuladen. So können wir den Router an eine Batterie anschliessen, um mit Menschen in Kontakt zu bleiben und zu erfahren, was geschieht. Aber wir wissen nicht, was alles noch auf uns zukommt. Nichts ist sicher, wir leben in ständiger Angst. Alles macht uns Sorgen, jeder Aspekt des Lebens.

Zerstörte Welt: «Wir hoffen und beten, dass das alles bald aufhört.»

17.40 Uhr, Sprachnachricht:
Das Essen ist knapp, die Situation ist schwierig, aber noch nicht so prekär wie beim Wasser. Aber natürlich funktionieren auch die Kühl- und Gefrier­schränke nicht. Manche Leute mussten deshalb ihre Lebensmittel wegwerfen. Alles, was wir zurzeit haben, sind trockene Sachen und Konserven. In Gaza herrschte schon vor dem Krieg grosse Armut. Fast 50 Prozent der Menschen waren arbeitslos. Ich habe keine Ahnung, wie diese Menschen jetzt über die Runden kommen. Die meisten leben von sehr, sehr wenig. Zwar kümmern sich die Menschen umeinander. Sie helfen sich gegenseitig, unterstützen Familie, Freunde, Nachbarn. Aber alle Menschen leben mit einem Minimum.

17.43 Uhr, Sprachnachricht:
Auch telefonieren ist schwierig, das lokale Netz funktioniert nicht mehr. Die Leute versuchen, sich gegenseitig anzurufen, um nach ihren Verwandten zu fragen, ihren Freunden, aber es gibt keine Verbindung. Das Internet funktioniert noch, zumindest teilweise, aber natürlich auch nur, wenn man Strom hat. Alles ist schwierig im Moment, das Waschen der Wäsche und der Gang aufs WC. Die Leute stellen jetzt offene Kanister unter die Waschbecken, damit sie das Wasser nutzen können, um die Toilette zu spülen. Ich habe den Kindern und der ganzen Familie gesagt, dass sie den Wasserhahn jeweils nur wenig aufdrehen, um so viel wie möglich zu sparen. Das ganze Leben ist ein Kampf im Moment. Und über allem steht die Angst. Die Angst begleitet uns sogar im Schlaf, wie auch das Geräusch der Bomben. Wir wachen mit dem Geräusch von Bomben auf. Die Flugzeuge fliegen die ganze Zeit über uns, Drohnen und Kampf­flugzeuge. Das macht die Menschen noch nervöser. Wir sind in ständiger Angst.

21.35 Uhr, Textnachricht:

Das Beach Camp, wo wir leben, ist ein sehr überfülltes Flüchtlings­lager, das es seit der Nakba gibt, der Katastrophe von 1948. Meine Eltern wurden aus ihrem Dorf in Palästina vertrieben, es heisst Aschkelon und gehört heute zu Israel. Sie kamen als Teenager nach Gaza-Stadt und verbrachten ihr ganzes restliches Leben in diesem Flüchtlings­lager. Ihr Leben lang haben sie davon geträumt, in ihr Dorf zurück­zukehren. Leider starben sie, ohne sich ihren Traum erfüllen zu können.

Das Beach Camp wurde 1948 für Palästinenser errichtet, die während des arabisch-israelischen Kriegs geflohen oder vertrieben worden waren. Gebaut worden war es für 23’000 Personen, gemäss dem Uno-Palästinenser­hilfswerk waren dieses Jahr mehr als 90’000 Personen registriert.

21.37 Uhr, Textnachricht:

Es ist jetzt Nacht und Gaza ist in komplette Dunkelheit getaucht. Es ist ein bedrückendes Gefühl.

Freitag, 20. Oktober

6.01 Uhr, Textnachricht:
Das Krachen der Bomben hat mich geweckt, der Ort ist voller Dunkelheit und die Leute haben Angst, nach draussen zu gehen. Die Drohnen sind so laut, dass man kaum schlafen kann.

6.12 Uhr, Textnachricht:
Wir haben keinen Schutzkeller. Ich habe allen gesagt, sie sollen ins Treppenhaus gehen, falls eine Bombe bei uns in der Gegend einschlägt, weil es dort mehr Beton hat. Unsere Taschen liegen darum immer bereit neben der Wohnungstür.

6.13 Uhr, Textnachricht:
Ich träume davon, in Frieden leben zu können, einfach ein normales Leben zu haben.

6.18 Uhr, Textnachricht:
Ich werde jetzt versuchen, wieder zu schlafen.

Samstag, 21. Oktober

14.46 Uhr, Sprachnachricht:
Jeder Tag überwältigt uns, wir wachen auf, wir müssen herumlaufen, um Wasser zu suchen und die nötigsten Dinge zu besorgen. Das Internet funktioniert nicht, darum sitze ich vor dem Haus. Es gibt einen Kasten auf der Strasse, mit dem wir uns verbinden können, aber zu Hause haben wir kein Internet. Vor etwa einer Stunde haben sie zwei Häuser in unserem Flüchtlings­lager angegriffen. Wir sind erschöpft, überwältigt, schockiert, traumatisiert. Man kann jedes Wort als Synonym nehmen, doch eigentlich haben wir keine Worte, um zu beschreiben, was hier vor sich geht. Bomben, massive Explosionen und Geräusche Tag und Nacht. Angst und Schrecken die ganze Zeit, und mittendrin müssen wir nach Wasser, Brot und Nahrung suchen. Du hast mich nach meinen Träumen und den Träumen meiner Kinder gefragt. Ich glaube, wir haben keine Träume mehr, weil wir kein Leben haben. Unser Traum ist nur, zu überleben und ohne Bomben zu leben. Unser Wunsch ist nur, dass all das aufhört. Wir können uns den Luxus von Träumen nicht leisten. Wir brauchen zuerst ein Leben und dann können wir anfangen, dieses Leben zu organisieren, zu denken und zu träumen und für unsere Zukunft zu planen.

Nachdem fast zwei Wochen lang keine Hilfsgüter in den Gaza­streifen gebracht werden konnten, ist die humanitäre Lage dort laut Hilfs­organisationen dramatisch. Am Samstag kommt erstmals ein Konvoi mit 20 Lastwagen an, nachdem ein Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gazastreifen geöffnet wurde.

20.49 Uhr, Sprachnachricht:
Ja, 20 Lastwagen sind reingekommen. Aber was sollen diese 20 Lastwagen ausrichten in diesem Chaos? Vor dem Krieg kamen jeden Tag etwa 500 Lastwagen im Gazastreifen an, mit Lebens­mitteln, Medikamenten, allen möglichen Produkten. 20 Lastwagen sind nichts. Sie bewirken nichts. Sie sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Wir bräuchten Hunderte, wenn nicht Tausende von Lastwagen.

20.50 Uhr, Sprachnachricht:
Immer wieder melden sich freundliche Menschen bei mir, gütige Freunde, die mir Hilfe anbieten. Und das ist möglicherweise noch das Einzige, was mir das Gefühl gibt, dass ich … (seine Stimme bricht) Entschuldigung … Es ist das Einzige, was mir das Gefühl gibt, überhaupt noch ein Mensch zu sein und zur Menschheit zu gehören. Ich bin sehr gerührt von den vielen Menschen, die an mich denken und an alle anderen hier. Aber was auch immer geschieht, geschieht. Wir können nichts tun, um es zu ändern. Zwei Millionen Menschen sind in unmittelbarer Gefahr. Jede einzelne Person ist ein mögliches Ziel. Wir haben das Gefühl, dass wir dem Tod näher sind als dem Leben, weil wir jede Minute hören, dass Menschen getötet werden. Freunde, Verwandte, Nachbarn. Jeder glaubt, er könnte das nächste Ziel sein. Vor zwei Tagen habe ich Verwandte verloren. Mein Cousin, der so alt ist wie ich, wurde bei einem Bomben­angriff auf sein Haus getötet, zusammen mit seinem Sohn und zwei Enkeln. Und wir können nicht einmal zur Beerdigung gehen, weil wir Angst haben, uns zu bewegen.

Dienstag, 24. Oktober

15.02 Uhr, Textnachricht:
Wir konnten letzte Nacht nicht schlafen. Sie haben mehrere Häuser angegriffen in der Gegend. Aber wir leben.

Freitag, 27. Oktober

Mostafa hat sich ein paar Tage lang nicht mehr gemeldet. Eine palästinensische Telekommunikations­firma berichtet von einer «vollständigen Unterbrechung aller Kommunikations- und Internet­dienste» im Gazastreifen.

Dann, am Freitagmittag, eine Nachricht.

12.48 Uhr, Textnachricht:

Wir leben, aber wir sind erschöpft. Es geht uns psychisch nicht gut.

13.11 Uhr, Textnachricht:

Gestern haben sie eine Moschee in der Nähe bombardiert und Trümmer fielen auf unser Dach. Zum Glück wurde niemand in unserem Haus verletzt. ​​Das Geräusch der Explosion erschütterte alles und weckte alle Menschen in der Gegend auf.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurden in diesem Krieg laut dem Gesundheits­ministerium von Gaza bereits mehr als 7000 Palästinenserinnen getötet, darunter fast 3000 Kinder. Die Behörde der von der Hamas kontrollierten Regierung veröffentlichte am Donnerstag einen ersten detaillierten Bericht mit Namen, Ausweis­nummern, Alter und Geschlecht der Opfer. Laut einem Uno-Experten spiegeln die Zahlen «weitgehend das Ausmass der Todesfälle und Verletzungen wider».

13.42 Uhr, Textnachricht:
Wir sind alle traumatisiert, vor allem die Kinder. In den Herzen der Menschen staut sich so viel Angst und Schrecken an, alle Menschen in Gaza brauchen psychologische Betreuung. Die Narben werden für immer bleiben. Ich weiss nicht, wie wir danach leben werden, wenn wir dieses Massaker überleben, oder wie das Leben aussehen wird.

Am Nachmittag berichtet die «New York Times», einsatz­bereite israelische Truppen würden «in Massen» an der Grenze zum Gaza­streifen stehen, während sich die politische und militärische Führung Israels immer noch uneinig darüber sei, wie, wann und ob man überhaupt einmarschieren soll.

Mostafa schreibt, die Boden­offensive habe bereits begonnen.

14.50 Uhr, Textnachricht:
Die israelische Armee hat in den letzten beiden Nächten Boden­angriffe durchgeführt, im Osten des Gazastreifens haben wir anhaltende Artillerie gehört. Aber ich glaube nicht, dass sie weit gehen werden, weil sie Angst vor den Konsequenzen in Gaza und in der Region haben.

14.52 Uhr, Textnachricht:
Wir hoffen und beten, dass das alles bald aufhört. Zurzeit laufen Gespräche über einen Austausch von Gefangenen. Hoffentlich kommt er zustande und die Angriffe hören auf.

Sonntag, 29. Oktober

Medien berichten, diverse Hilfs­organisationen hätten den Kontakt zu ihren Teams in Gaza verloren und fürchteten um ihre Mitarbeiterinnen und die Bevölkerung.

Gegen Abend meldet sich Mostafa.

17.57 Uhr, Textnachricht:
Alles ist unsicher. Es wird jeden Tag schwieriger, wir haben immer weniger Essen, die Wasser­situation ist höchst prekär, vor allem in Bezug auf Trinkwasser.

Dann schickt er drei Sprach­nachrichten, auf denen nichts als die Geräusche von Bomben und Angriffen zu hören sind.

17.59 Uhr, Textnachricht:
Das hören wir die ganze Zeit. Diese Geräusche stammen von letzter Nacht. Es war die schlimmste Nacht, wir dachten, wir würden nicht überleben.

Auf den Fotos, die er schickt, sind riesige Trümmer­haufen zu sehen. Männer, die ein in Tücher eingewickeltes Kind wegtragen.

Dienstag, 31. Oktober

10.47 Uhr, Textnachricht:
Wir hatten kein Internet, es kommt und geht, manchmal hat auch das Telefon keinen Akku mehr. Es ist ein Kampf, nur schon die grund­legendsten Bedürfnisse zu erfüllen: Wasser, Brot, Essen, Elektrizität.

10.48 Uhr, Textnachricht:
Wir können kaum mehr schlafen, wir werden nonstop bombardiert. Ich fühle mich benommen, als hätte ich einen Kater.

Am Nachmittag kommt nochmals eine Sprach­nachricht. Bisher klang Mostafa immer bedrückt und matt, aber gefasst. Jetzt weint er.

17.08 Uhr, Sprachnachricht:
Das Haus neben uns wurde von einer Granate getroffen. Wir sind so verängstigt, wir fürchten um unser Leben, ich fürchte um meine Kinder, meine Frau, meine Nichten. Wenn wir getötet werden, verzeihen wir niemandem, der geschwiegen und nichts getan und grünes Licht dafür gegeben hat, dass das alles passieren konnte. Es ist jetzt Nacht, es ist komplette Dunkelheit. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Wir bleiben in unserem Haus, aber wir wissen nicht, was passieren wird. Leb wohl.

Mittwoch, 1. November

12.15 Uhr, Textnachricht:
Wir hatten eine schreckliche Nacht, zum Glück leben wir noch.

Wie dieser Text entstanden ist

Dieser Text ist das Protokoll eines Austausches von Nachrichten über Whatsapp zwischen der Republik und einem direkten Zeugen der Ereignisse im Gazastreifen. Sie wurden auf Englisch geschickt, wir haben sie übersetzt. Aufgrund der Kriegs­situation sind viele Informationen nicht unabhängig verifizierbar. Wo möglich haben wir die gemachten Aussagen mit anderen Quellen abgeglichen, weitgehend decken sie sich mit den Berichten der Hilfs­organisationen vor Ort. Zu seinem Schutz nennen wir den Namen des Zeugen nicht. Auch die Fotos stammen von ihm. Die Bilder aus dem Spital schienen uns allerdings aus Pietäts­gründen nicht publizierbar.

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