2008 wird der Palast der Republik auf der Spreeinsel abgerissen. Bilder: Christian Werner

Tschüssikowski, Berlin

Sie sei over, hört man alle paar Jahre über Europas Hauptstadt der Kreativen. Nur gilt jetzt zum ersten Mal: Es könnte tatsächlich stimmen.

Von Tobi Müller, 21.10.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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1 – Bier

Berlin nervt. Und Berlin ist tatsächlich wunderbar, wie es jede zweite Werbung, meistens für Bier, im Arthouse-Kino behauptet, wenn man noch ins Kino geht. Aber Berlin ist auch over, no?

Wer etwas länger in der Stadt lebt und die Alters­gruppe verlassen hat, die sich beschwert, mit der Band oder dem Start-up sei es nichts geworden, weil man zu viele Drogen genommen habe, und daran sei ja wohl Berlin schuld, muss aufpassen, nicht bloss müde zu lächeln. Weil Berlin zu gross ist für solche Thesen. Und tatsächlich zu divers. Abseits der touristischen Transportwege, zum Beispiel auf Fussball­plätzen, sieht die Diversität unromantischer aus als im Kultur­betrieb, in der Werbung oder bei staatlichen Förder­stellen. Da ist zwar ständig von Diversität die Rede, aber selten von sozialer oder sogar weltanschaulicher.

Die Frage lautet deshalb auch: Für wen genau ist Berlin wieder einmal over und für wen nicht?

Darauf gibt es vorerst viele Antworten. Für junge, gut ausgebildete und mehrsprachige Menschen ist Berlin nämlich alles andere als vorbei. Und reiche Leute freuen sich, dass eine steile Gentrifizierungs­kurve richtig gute Restaurants in die Stadt gebracht hat. Für viele Familien ausserhalb der Innenstadt, migrantische wie herkunfts­deutsche, ist Berlin noch mal rauer geworden – wegen der Inflation, wegen Wohnungsnot, wegen Schulen mit Lehrpersonen­mangel, überforderten Schul­leitungen, verwahrlosten Eltern.

Trotz der Komplexität jeder Grossstadt (und besonders dieser erst vor wenigen Jahrzehnten vereinten) lässt sich nun aber festhalten: In Berlin kommt eine bestimmte Erzählung an ihr Ende. Es ist die oft wiederholte Geschichte, dass die Subkultur das Bild der Stadt entscheidend präge. Diese These besagt traditionell in etwa: Die Gestalten der Nacht liefern die Ideen von morgen, der Mainstream, dieser alte Vampir, sorgt für die Vermarktung. Und damit diese Dynamik nicht zu schnell greift, finanziert die Öffentlichkeit die Kreativen ein Stück weit und schützt sie vor dem blutdurstigen Kapital. Mit vielen Förder­programmen. Oder mit begrifflichen Umzonungen: Seit zwei Jahren gelten Clubs nicht mehr als Vergnügungs­stätten wie Bordelle, sondern sind «Anlagen für kulturelle Zwecke» wie ein Opernhaus. In dieser Entscheidung des Bundestags spiegelt sich vielleicht Kultur­dünkel, politisch bedeutet es aber, dass neue Clubs auch in der Innenstadt und in Wohngegenden nicht ausgeschlossen sind.

Das ist löblich und lebenswichtig für Berlin. Aber es entspricht nicht der gegenwärtigen Lage. Denn der Vampir braut sein eigenes Blut, er muss nicht mehr arme Raver reissen.

Das Verhältnis zwischen oben und unten, off und in, Indie und Mainstream stammt aus dem letzten Jahrhundert. Im Rückblick erscheint klarer, was daran nicht mehr stimmt. Und warum der neue Kreativ­kapitalismus weit über Berlin hinaus von Bedeutung ist.

2 – Schrott

Als ich Anfang 1999 über den fertig­gestellten Potsdamer Platz lief, war die Sache für viele bereits gelaufen. Das Hochhaus der Mercedes-Benz-Gruppe, zu der Chrysler gestossen war, hatte zwei Seiten­schiffe wie eine Kathedrale. In der Mitte des geldreligiösen Foyers thronte eine Skulptur des Schweizer Eisen­plastikers Jean Tinguely.

Was für ein transparentes Sinnbild: Der neue Kapitalismus, für den der so menschen­feindliche wie kapital­freundliche Potsdamer Platz stand, war im Kern aus altem Schrott. Derweil hatte der CDU-Filz eine Landesbank gegründet und sich mit faulen Krediten an Freunde verzockt, worauf er selbst­verständlich mit Steuer­geldern gerettet wurde. Im gleichen Jahr zog der Bundestag von Bonn in den alten Berliner Reichstag, man sprach von Bannmeilen und eingeschränktem Demonstrations­recht. Na dann Tschüssikowski, wa!

So ging Berliner Dialektik: Kaum war die Stadt ruiniert, ging es erst richtig los.

In meine alte Hood Prenzlauer Berg trauten sich die ersten Nicht­weissen, davor gab es zu viele Glatzen und Kampf­hunde. Seeed war die Band der Stunde, schwarze und weisse Berliner produzierten gut gelaunten, gut gemachten Dancehall und Reggae und Deutschland wippte mit: «Dickes B, oben an der Spree / Im Sommer tust du gut und im Winter tuts weh». Der Wandel kam bei Seeed ironisch zu Wort: «Früher gings in Berlin um Panzer und Raketen / Heute lebe ich im Osten zwischen Blümchen­tapeten».

2011 im Club Golden Gate unter der Jannowitzbrücke.
Auf einem Schrottplatz in Wedding 2013.

Die Stadt verlor ihren Schrecken. Künstler und Musikerinnen, denen New York zu teuer wurde, zogen nach Berlin. Wohnungen waren für Kreative noch kein Problem, in manchen hingen tatsächlich die alten DDR-Tapeten. Das konnten sich Ältere und meist Arbeitslose aus dem Osten schon damals nicht mehr leisten. Nun kamen sogar Kreative aus jüdischen Familien wie Peaches, Feist oder Chilly Gonzales (verständlicher­weise waren viele Eltern nicht begeistert, dass die Enkel­kinder der Überlebenden ausgerechnet in Berlin leben wollten). Und am Wochenende brachten die ersten Billig­flieger die junge Raverfracht in die Clubs. Mit den üblichen Folgen: mehr Kundschaft für Dealer, Hostels, Rettungs­dienst und Stadtreinigung. Endlich, ein Berliner Jobwunder.

Beim «Sommermärchen» der Fussball­weltmeisterschaft 2006, das wohl auch dank Schmier­geldern in Deutschland aufgeführt wurde, bemerkten selbst Nichtkreative, dass der Haifisch seine Zähne verloren hatte. Nettes Berlin, na so was. Besonders nett war die Stadt weiterhin zu Investoren, weil die rote Regierung die besten Grundstücke schnöde den Meistbietenden verkaufen musste, um aus der hohen Verschuldung durch die selbst gemachte Bankenkrise rauszukommen.

Bis zur WM sei noch alles okay gewesen, hörte ich da von denen, die gerade ein paar Jahre davor gekommen waren. Meistens auf Englisch. From then on things went downhill, I’m telling you – da ging es nur noch bergab, glaub mir.

Alle paar Jahre dasselbe Lied. Peter Fox, einer der Sänger von Seeed, legte 2008 solo mit einer noch viel grösseren Berlin­hymne nach: «Schwarz zu Blau». Da ist Berlin zwar «dreckig und grau» und es liegt «Kotze am Kotti», dem Kottbusser Tor in Kreuzberg:

Atzen rotzen in die Gegend und benehmen sich daneben
(...)
An der Ecke gibt es Stress zwischen Tarek und Sam
Tarek sagt: «Halts Maul oder ich werd’ dir ins Gesicht schlagen»
Sam hat die Hosen voll, aber kann auch nicht nichts sagen

Doch bald wird es Tag, der Himmel wechselt von Schwarz zu Blau.

Ein Hooligan liegt ’ner Frau in den Armen und flennt
Diese Stadt ist eben doch gar nicht so hart, wie du denkst

Kurz nach Veröffentlichung dieses Überliedes brach im Herbst 2008 die weltweite Bankenkrise in die Märkte. Deutschland wurde Krisen­gewinnlerin, als Pfand­leiherin der EU und Richterin über die Sparpolitik der Verlierer wie Griechenland. Derweil ritten erst internationale Investoren aus Ländern wie Spanien oder China in die Immobilien­szene ein, dann Fonds und Versicherungen. Und plötzlich konnten sich Tarek und Sam, die Schläger aus «Schwarz zu Blau», Kreuzberg nicht mehr leisten – ausser sie wurden Strassen­rapper wie Bushido, Sido und alle die andern. Tarek und Sam wohnen jetzt irgendwo ausserhalb des S-Bahn-Rings. Und mit ihnen die Polizistinnen, Erzieher, Feuerwehr­leute, Pflegerinnen und wohl alle Geschiedenen, die nicht einen alten Mietvertrag oder viel Geld geerbt haben.

Vorbei ist Berlin immer nur für die, die es sich nicht mehr leisten können.

In den Zehnerjahren spricht die stetig wachsende ravende Weltbevölkerung fast nur über das Berghain und wie man da reinkommt. Andere deutsche Städte leiden schon lange unter kreativer Abwanderung. Weil noch immer alle nach Berlin kommen wollen. Wie die Kneipen kennt auch der Hype keine Sperrstunde.

3 – Ruine

Was sich aber jetzt abzeichnet, müsste das Hamsterrad des Hypes anhalten können. Im viel zu warmen Herbst 2023 stehe ich am Oranienburger Tor vor dem neuen Quartier «Am Tacheles». Das Künstlerhaus Tacheles war in den frühen Neunziger­jahren ein Monument des ungeregelten Berlin. Die Besetzer­truppe schaffte es, das 1908 erbaute Kaufhaus und was davon nach Krieg und DDR als Ruine übrig geblieben war, unter Denkmal­schutz stellen zu lassen und vor dem Abriss zu bewahren. Der Staat verkaufte das Gelände 1998 an die deutsche Immobilien­familie Jagdfeld, die es 2014 mit obszönem Profit an einen US-Immobilien­fonds weiterverkaufte (die Zahlen sind strittig, der Gewinn liegt selbst bei den untersten Schätzungen bei rund 400 Prozent).

Die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron haben dort nun ein Luxus­quartier gebaut. Und wieder, wie damals bei Mercedes auf dem Potsdamer Platz, steht im Kern alter Schrott herum, jetzt in Form von Graffiti. (Was sich so schön auf Trallafitti reimt, ein aus dem Ruhrgebiet stammender Ausdruck für Feiern, der auch in Berlin manchmal noch zu hören ist.)

Die Graffiti sind an der Fassade zur Oranien­burger Strasse stehen geblieben und erinnern an die subkulturelle Vergangenheit, als hier Ateliers, Ausstellungs­räume, eine Kneipe, ein kleiner Club, ein Theater und ein kleines Kino Platz fanden. Hinter dieser Fassade hat sich ein Ableger der schwedischen Museumsfirma Fotografiska eingenistet – die von der Stadt vorgeschriebene «teilkulturelle Nutzung». Das Treppenhaus sieht noch exakt so aus wie vor 25 Jahren. Alles bunt bekritzelt. Es fehlen nur noch die Plexiglas­scheiben vor den Wänden. Tinguelys Kunst hatte Mercedes zumindest noch viel Geld gekostet. Die alten Besetzer des «Tacheles» hinterlassen ihre Spuren der Deindustrialisierung ohne Honorar.

Eingangsbereich eines der Wohnhäuser im neuen Quartier «Am Tacheles» 2023.
Das Fotomuseum Fotografiska im ehemaligen «Tacheles» 2023.

Fotografiska führt auf drei Stockwerken mit drei Ausstellungen etwas unfreiwillig vor, was passiert, wenn Schlagworte wie race und gender eine Gentrifizierungs­maschine reinwaschen sollen. Und eine Foto­ausstellung zeigt in der Aneinander­reihung von sehr vielen Akten vor allem sehr viele Brüste und ein paar Schwänze. Kunst ist hier der Weihrauch, um die Luxus­immobilie zu segnen und vor Kritik zu schützen.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel könnten sich nun aber künstlerische Konflikte jenseits des Art-Washing ergeben: Die schwarze amerikanische DJane und Künstlerin Juliana Huxtable bezeichnete den Überfall als «Befreiungs­schlag», die weisse Südafrikanerin und Jüdin Candice Breitz suchte trotz des Schocks, auf Facebook der Komplexität der Gefühle und der politischen Lage gerecht zu werden. Sowohl Breitz wie Huxtable haben jeweils eine Einzel­ausstellung in der Fotografiska.

Als ich durch die neuen Innenhöfe und Passagen spaziere, kommen mir zwei offensiv grinsende Männer auf Velos entgegen. Sie bellen mich an: «Wuff, wuff!» An meinem Jackett klebt noch der Sticker der Ausstellung, der als Eintritts­karte dient. Vermutlich halten mich die bellenden Männer für einen Mitarbeiter der Fotografiska, wegen des Aufklebers, der dunklen Kleidung und weil ich weder wie ein alter Besetzer noch wie ein Tourist aussehe. Umgekehrt vermute ich, in ihnen alte «Tacheles»-Gründer zu treffen. Sie bellen in nostalgischem Trotz. Am geilsten für sie wäre wohl eine Ermahnung, das höchste der Gefühle ein Hausverbot.

Doch so funktioniert der neue Kapitalismus nicht. Der Widerstand einer ehemaligen Alternativ­kultur ist dem Kapitalismus egal, er braucht diese Impulse aus dem Off gar nicht mehr. Das restaurierte Treppenhaus mitten im Herzog-&-de-Meuron-Geld-Tempel ist keine Verneigung vor der unter­gegangenen Kreativ­kommune Tacheles, sondern schlicht Vorschrift, da Denkmalschutz.

Die alte Dynamik zwischen Underground und Overground, Off-Kultur und Mainstream kommt derzeit an einen Endpunkt. Die Clubkultur ist nicht mehr arm, und selbst ihr manchmal schlechtes Gewissen, die Gentrifizierung voran­getrieben zu haben, verkennt die viel, viel grösseren Kräfte des frei drehenden Finanz­kapitalismus; die Fashion-Welt besteht eh fast nur aus globalen Brands, nur wenige Berliner Modelabels haben den Sturm der grossen Marken in den Nuller­jahren überlebt; die digitalen Start-ups werden nach drei Jahren von Google gekauft oder sie gehen unter; die deutsche Musik­industrie, vor zwanzig Jahren fast komplett nach Berlin gezogen, fragt seit mehr als zehn Jahren, was das nächste grosse Ding sei, und findet es nicht, weil es immer gleich bleibt und Ed Sheeran oder Adele heisst. Oder einfach nur noch Taylor Swift.

Und, ehrlich, die Kunst aus Eisenschrott, die im «Tacheles» produziert und ausgestellt wurde, sah schon vor 25 Jahren aus wie eine Karikatur aus dem Kreuzberg der Achtziger­jahre, wie der Musiker und Schriftsteller Sven Regener sie in den «Herr Lehmann»-Bestsellern liebevoll parodiert. Ein Inkubator für Berlins Kultur war das Haus nie. Im «Tacheles» müssen die Spuren des ehemaligen Widerstands gar nicht mehr getilgt werden, weil sie so ungefährlich sind. Man kann sie genüsslich ausstellen. Es ist egal. Was heute zieht, gehorcht nicht mehr der alten Geschichte: unten erfunden, oben zu Geld gemacht.

4 – Fetisch

Schauen wir in das gegenwärtige hippe Berlin. Das gar nicht mehr so neue Ding sind da Fetisch­klamotten. Dunkler Glanz, viel Haut. Schwarz, Lack, Leder. Netz, Schnalle, Schnüre.

Anders in Berlin ist, dass Leute in den Schlangen vor mehreren Clubs tatsächlich so aussehen wie anderswo nur im Katalog, wie das Internet früher hiess. Der Kitkat Club für mehr Kink, das Berghain für bessere Beats. Wenn man die Augen zukneift, verschwimmt der Unterschied zwischen erotisch vertrashtem Privat­fernsehen und Berliner Nachtleben.

Noch aus einem anderen Grund hebelt die Fetischmode die alte Dialektik von Underground versus Overground aus. Fetisch-Wear, die in BDSM-Clubs zum Einsatz kommt, ist richtig teuer. Da wandert eine Subkultur erstmals nicht von unten an die Oberfläche; Mittelstand ist von Beginn an die Mindest­anforderung. Alle andern können bei H&M den aufgeweichten Look einkaufen. Die Türsteher der Clubs kennen den Unterschied allerdings.

Auf den guten Dancefloors steigt das Einkommen. Die sexpositive, queere oder internationale Crowd ist Teil der neuen Eliten im Nacht­leben, die schweren Jungs aus den Platten­bauten nicht. Die Drinks mixen derweil Künstlerinnen, wenn sie nicht bereits etwas mit Zukunft machen, zum Beispiel Sozialarbeit für die steigende Zahl an Süchtigen und Verelendeten, die auf dem Berliner Immobilien­markt garantiert keine Wohnung finden.

2011 morgens vor dem Berghain.
Ein besetztes Haus in der Köpenicker Strasse in der Woche der polizeilichen Räumung 2021.
Stadtmarketing am Flughafen Tegel 2015.

Wer mal sehen will, wie junge Leute mit Geld feiern, kann auch eine mittlere Velotour machen. An einem der vielen warmen Abende zum Beispiel vom Neuköllner Schillerkiez östlich des Tempelhofer Feldes Richtung Osten fahren, über die Karl-Marx-Strasse und die Sonnen­allee, links dann die Weserstrasse rüber bis zum Kottbusser Damm, rauf zum Kotti und kurz die Adalbert hoch, links zur Heinrich-Heine-Strasse und dort rechts Richtung Norden, beim U-Bahnhof Heinrich-Heine-Strasse liegt der Kitkat Club. Wer noch kann, fährt weiter zum Alexander­platz und sucht sich dahinter etwas in Mitte aus.

Auf rund zehn Kilometern stehen praktisch lückenlos Leute vor Bars, Restaurants und Clubs, die nicht wie die vielen Spätis das Billigbier für einen Euro verkaufen. Wer nach dieser Tour noch von Kreativ­wirtschaft und Underground redet, ist mit verbundenen Augen gefahren.

Bis in die Nullerjahre hat man in den Gründerzeit­häusern von der Berliner Mischung gesprochen: Im Vorderhaus und den oberen Stockwerken wohnten die Begüterten, weiter unten in den Hinter­häusern, mit Fenster zum Hof, die arbeitende Bevölkerung. Dieser Mix ist auch in den besten Clubs Geschichte. Warum sollte es drin so anders sein als draussen?

Die neuen Subkulturen bilden die wachsenden sozialen Schranken ab, die gefährlich zunehmende Vermögens­ungleichheit in westlichen Gesellschaften, den brutalen Sieg des Kapitals, wie man ihn vor Ort so gut in den Wohnungs­miseren erkennen kann. In Berlin, aber nicht nur da. Berlin hat sein Alleinstellungs­merkmal in Europa verloren.

5 – Brutalismus

Es gibt eine neue, hervorragende Dokuserie, die auf 35 Jahre Berlin­geschichte zwischen Underground, Stadtpolitik und Wirtschaft zurückblickt, sie heisst «Capital B – Wem gehört Berlin?». Die fünf Folgen stehen frei in der Mediathek von Arte.

Schlüssigeres über diese Stadt seit 1989 hat es im Fernsehen noch nie gegeben.

Wie wenig auch die zweite Generation der Migrantinnen am Boom teilnehmen konnte, wie unglaublich selbst­herrlich der alte Filz die Stadt mit in den Ruin trieb und bis heute keine Einsicht zeigt. Irre, auch wer da alles freiwillig noch mal vor die Kamera tritt (sogar der rechtsoffene Thilo Sarrazin ist sich nicht zu schade).

Aber die Gegenwart Berlins kann auch die sonst so gelungene Serie nicht fassen. Sie bleibt historisch. Weil sie die Rolle der Subkulturen notorisch überschätzt. Das liegt auch an den Subkulturen selbst, die ausführlich zu Wort kommen.

Exemplarisch für dieses Missverständnis der Off-Kultur in der TV-Serie stehen zwei Gründerinnen des After-Hour-Clubs Bar 25. Die Bar, wie man sie in Berlin nur noch nannte, war von 2003 bis im Herbst 2010 der krasseste, im Gegensatz zum relativ nahen Berghain eher hetero­sexuelle Spitzenclub der Stadt. Manche sagen, die Mode aus viel Glitzer im Gesicht, Konfetti bis unter die Vorhaut, kurzen Röcken und Cowboy­hüten sei, wenn nicht da erfunden, dann auf jeden Fall dort durchgesetzt worden. Die Türsteherin hiess informell «Türnazi», das fand man damals lustig. Mittlerweile gibt es zu viel Antisemitismus für solchen Humor. Manchmal schminkte sie die Leute in der Schlange oder malte ihnen etwas Doofes ins Gesicht. Zumindest wusste man so, dass man – vermutlich – reinkommen würde.

Nun erzählen die sympathischen Ex-Bar-25-Betreiber in der Dokuserie, wie sie mitten im Investoren-Eldorado des nördlichen Spreeufers durchgehalten haben. Die ehemaligen Exzess-Aktivistinnen haben mit dem Holzmarkt-Areal tatsächlich eine ungewöhnliche Mischung aus Wohnen, Betreuung, Gastronomie, Events und auch etwas Club­atmosphäre geschaffen (man kann morgens Yogakurse besuchen und am Nachmittag Workshops zu Bondage und Auspeitschen).

Baustelle zum Wiederaufbau des Berliner Stadt­schlosses auf der Spreeinsel 2012.
Das legendäre Muster der U-Bahn-Sitzbezüge 2012.

Was der Film verschweigt: Die Betreiber waren nicht bloss deshalb erfolgreich, weil sie hartnäckig waren. Sie hatten schlicht auch das meiste Geld in der Tasche. Aus alten Bar-Zeiten. Vor allem aber von der Schweizer Stiftung Abendrot, einer Pensions­kasse. Die Stadt musste einmal mehr an die Meistbietenden verkaufen, und das waren hier eben die Feier-Hippies von der Bar 25.

Die nachkommenden Generationen begreifen wohl besser, dass ihre kulturellen Zeichen nicht im Widerstand zum Kapital geboren werden, das sie irgendwann belohnen wird; wie in der protestantischen Vorstellung, wonach der Zahltag erst im Jenseits erfolgt.

In einigen Clubs, wo Zwanzig­jährige heute tanzen, läuft schneller, verzuckerter, harter Techno. Manche nennen es Gabba Trance, andere Nu-Style-Gabber, wegen des Tempos und der süssen Harmonien. Schon Dreissig­jährige finden das schrecklich, weil ästhetisch zu wenig widerständig. Führend in dem Feld ist das Berliner Label Live From Earth, die Stars sind das Duo Brutalismus 3000.

«Diese Stadt ist viel zu alt / Ich will mehr Gewalt» heisst es in einem Track. In «Die Liebe kommt nicht aus Berlin» schreit eine verzerrte Stimme:

Alles, was ich seh, ist Schmerz
Durch die Nase ins Herz
Willst du das wirklich alles zieh’n?
Die Liebe kommt nicht aus Berlin

Der Ruf nach Gewalt im zu netten Berlin, die Feier der harten Stadt im Drogensong: normale Abgrenzung gegen Eltern, Fünfzig­jährige im Berghain oder beides. Die hinreissenden Musik­videos erzählen aber noch mehr: Sie spielen in einer Berliner Eckkneipe mit Kegelbahn, beides aus der Innenstadt verdrängt, und auf dem Rummel, wie die Chilbi in Deutschland heisst. Es sind Zonen der Unterschicht, die im Kontrast stehen zu den todschicken Fashion-Statements des Duos und ihren exklusiven Club-Gigs.

Das kann man falsch finden, wie immer, wenn Pop stärker die Kunst sucht als die Authentizität. Oder man kann froh erwarten, dass mit Brutalismus 3000 eine Generation ins Geschäft kommt, die aus der Jugend und ihren Provokationen keinen Entwurf bastelt, den sie ein Leben lang weiter verfolgen muss. Vielleicht modeln die beiden bald. Und mit vierzig machen die sowieso etwas anderes.

Aktuell sind sie der heisse Scheiss in Berlin. Aber sie brauchen den Mainstream nicht, um die Hitze weiter zu erhöhen. Und der Mainstream braucht sie erst recht nicht. Das ist vorbei, zwei getrennte Welten.

Zwischen Under- und Overground gibt es kaum noch Mobilität. Das ist ein Problem, das strukturell der sozialen Ungleichheit entspricht. Wenn die jüngeren Künste diesen Befund selbst aufführen wie Brutalismus 3000, ist das ein erster Schritt. So könnten wir in der Kunst sehen, was in der Gesellschaft nicht klappt.

Das alte Modell von Subkultur und Mainstream streut uns derweil noch immer Sand in die Augen. Wenn die Clubkultur betont, wie wichtig die eigene Arbeit irgendwann auch für alle andern sei, überschätzt sie sich masslos und redet an den neuen Realitäten vorbei. Nicht nur jenen von Berlin.

Doch was, wenn die neue Coolness, die gar nicht für alle sein will, auch aus Berlin kommt? Kommt der nächste Hype schon wieder aus dieser Stadt?

Vermutlich. Aber nur, wenn wir dann im Internet wohnen können und das lästige Realleben entfällt.

Das «Paradies»: Einst Videothek, dann Club und Bar in der Berolinastrasse.

Zum Autor und zum Fotograf

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er schreibt vor allem über Pop- und Theater­themen. Zuletzt warf er für die Republik einen Blick auf die Theatersaison im Frühling 2023.

Die Bilder zu diesem Beitrag stammen vom Berliner Fotografen Christian Werner. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich immer wieder mit der Stadt Berlin. Die hier gezeigte Bildserie umfasst Arbeiten aus seinem Archiv, die er unter dem Titel «Erase and Rewind» veröffentlicht hat.

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