Wir sind nackt und stark und machen auf der Bühne, worauf wir Bock haben: «Ophelia’s Got Talent», Regie Florentina Holzinger. Nicole Marianna Wytyczak

Lustvoll, entspannt und woke

Das Theater sei eine ideologische Erziehungs­anstalt geworden, behauptet die Anti-Wokeness-Fraktion. Dabei setzen die Inszenierungen auf ein selbst­bewusst mitdenkendes Publikum. Ein Rundgang durch den Bühnenfrühling.

Von Tobi Müller, 10.05.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Viele konservative, in der Regel ältere Stimmen über fünfzig von der «Süddeutschen Zeitung» über die NZZ bis zur «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wiederholen seit Monaten ein neues Lieblings­lied im Kanon: Der Theaterbetrieb sei zu woke geworden, zu divers, zu gender-irgendwas. Die progressiven, in der Regel von jüngeren Teilnehmerinnen stammenden Beiträge bei Publikums­gesprächen oder in Kommentar­spalten warnen derweil bereits vor einem Backlash, also einer Rückkehr zu neoklassizistischer Bravheit. Von beidem ist an der Spitze der aktuellen darstellenden Kunst aber kaum etwas zu bemerken.

Weder lässt sich eine neue Biederkeit beobachten, noch wird man ständig belehrt, wie man politisch korrekt zu denken habe. Der Kultur­kampf im Theater ist eine Phantom­debatte. Wenn man sich anschaut, was hinhaut – beim Publikum, bei der Mehrheit der Kritik –, braucht das Theater die geliehene Aufregung nicht. Es ist selbstbewusst genug.

Dennoch steckt das Theater in einem Umbruch. Der Begriff der Politisierung ist nicht ganz falsch, aber zu klein für die tektonischen Verschiebungen, die das Theater erfasst. An den Rändern der freien Szene und in einzelnen Schauspiel­häusern entsteht tatsächlich viel welt­anschaulich aufgeladene Kunst für eine Stamm­kundschaft. Das breite Publikum in den grossen Theater­sälen kriegt davon allerdings nicht viel mit.

Wandel, aber anders

Das aktuelle Theater lässt sich grob in zwei Ästhetiken einteilen. Die einen halten an der scharfen Provokation und an der Kritik von der Bühne herab fest: Kunst muss wehtun, provozieren, heraus­fordern! Die andern wollen niemanden vor den Kopf stossen, richten das Augenmerk auf das Miteinander und geben dabei die Hoheit der Interpretation ab.

Das sind die zwei Schulen: die harten Kritikerinnen und die weichen Vernetzerinnen. Das Spiel ist aber schon so gut wie gelaufen zugunsten Letzterer. Ein kleiner Rundgang durch diesen Theater­frühling zeigt, wie weit fortgeschritten dieser Wandel bereits ist. In Zürich, Berlin, München.

Kein Mai ohne das Theater­treffen in Berlin, die Champions League der deutsch­sprachigen Bühnen. Am 12. Mai eröffnet es mit einer sieben­stündigen Inszenierung aus München. «Das Vermächtnis» ist ein erfolg­reiches Stück über schwules Leben und erzählt in Rückblenden auch von den Verheerungen, die die Aids-Epidemie in New York City angerichtet hat. Die Dramaturgie ähnelt mit geschliffenen, aber lässigen Dialogen und mit ihrer effizienten Kombination von kurzen und langen Spannungs­bögen der Machart einer Serie. Regisseur Philipp Stölzl inszeniert das Stück von Matthew Lopez auf einer aufgeschnittenen Spielfläche, wie in einer halben Schuhschachtel.

Es soll uns etwas gezeigt werden, nicht verkündet: «Show, don’t tell» heisst die berühmte Maxime aus der Publikums­literatur und aus dem Serien­fernsehen, auch das Theater scheint nun wieder zu ihr zurück­zukehren. Um jeden Preis verhindert wird der belehrende Tonfall. Und doch zieht der lange Abend das Publikum in einen Sog, wie wir ihn aus Serien kennen. Obwohl die Zuschauer sitzen bleiben, entsteht eine Art der Immersion, ein Eintauchen: Es ist der Plot, der uns reinzieht, und nicht Nebel, Getöse oder Stroboskop. Das Publikum taucht in das Kunstwerk ein und gibt die (kritische) Distanz erst einmal auf. Erleben wird wichtiger als Reflektieren, zumindest im Moment des Theater­besuchs.

Der Plot zieht uns rein, nicht Nebel, Getöse oder Stroboskop: «Das Vermächtnis», Regie Philipp Stölzl. Sandra Then

Die emotionalen Spitzen im Stück sollen uns weich machen, umgarnen, sensibilisieren und unterhalten. Damit hat der ehemalige Basler Intendant Andreas Beck, der das Residenz­theater in München leitet, einen Publikums­hit gelandet. Ganz weit weg vom sogenannten woken Wahnsinn, ausser für Leute, denen das Adjektiv schwul schon reicht als Trigger­warnung für links­liberalen Mainstream.

Mit Kopf und Körper durch die Wand

Eingeladen zum Berliner Theater­treffen sind auch Arbeiten aus Berlin selbst. Die Inszenierungen von der Volks­bühne und dem Deutschen Theater könnten kaum unterschiedlicher sein. Und doch haben sie etwas gemeinsam: Sie sperren sich gegen allzu strenge Deutungen, lassen viele Möglichkeiten der Identifikation zu und machen gleichzeitig viele künstlerische Angebote, in die Abende einzusteigen. Auch hier: Selbst wenn die Mittel in Berlin traditionell etwas handfester sind, geht es bei diesen stets ausverkauften Abenden nie darum, jemanden aus Prinzip vor den Kopf zu stossen. Es sind beides Partys, aber im Sinne von: «Free your ass, your mind will follow» – befreie erst den Körper, dein Geist kommt von alleine nach.

Die österreichische Choreografin und Regisseurin Florentina Holzinger hat mit der Volksbühne und vielen Partner­häusern einen spektakulären Reigen namens «Ophelia’s Got Talent» erschaffen, der die weiblichen Opfer­rollen in der Literatur rund um das Thema Wasser in Empowerment umwandeln will. Doch der Abend funktioniert auch ohne Bildungs­hintergrund. Das Publikum begeistert sich für Entfesselungs­nummern unter Wasser oder für einen Helikopter auf der Bühne im Regen und in der Luft, den die Frauen begatten. Und für die allgemein verständliche General­geste: Wir sind nackt und stark und machen auf der Bühne, worauf wir Bock haben. (Und zwar egal, ob wir kleinwüchsige oder gross gewachsene Schau­spielerinnen sind, Tänzerinnen, Zirkus­artistinnen oder die Choreografin Holzinger selbst). Es ist nahezu unmöglich, sich von so viel Freiheits­drang provoziert zu fühlen, auch jenseits der fünfzig und als hetero­sexueller Cis-Mann. Es sei denn, man ist bereits gekränkt, weil man auf der Bühne so gar keine Rolle spielt, noch nicht einmal als Depp.

Szenen aus «Ophelia’s Got Talent».Nicole Marianna Wytyczak
Auch hier gilt Sog statt Message, Eintauchen statt Reflexion: «Der Einzige und sein Eigentum», Regie Sebastian Hartmann. Arno Declair

Zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt von der Volksbühne feiert der in der DDR aufgewachsene Sebastian Hartmann im Deutschen Theater die radikale Romantik der Kunst. Er ist nicht zu verwechseln mit Matthias Hartmann, der in Zürich von 2005 bis 2009 Schauspielhaus­direktor war und viel konventioneller inszenierte.

Die zum Theater­treffen eingeladene Hartmann-Inszenierung «Der Einzige und sein Eigentum» nach der halb anarchistischen, halb libertären und, wie manche meinen, früh­faschistischen Schrift von Max Stirner (1844) arbeitet mit Mitteln der Revue. Als sei die Vorlage nicht ein zuweilen verquastes und halb vergessenes Traktat, sondern ein rasanter Groschen­roman aus den expressionistischen 1920ern. Hartmann holt vieles aus dem Text und lässt alles zu – die Anarchie, den Faschismus, den Markt­glauben, die Selbst­verwirklichung und die Deformation in der Masse. Es ist ein Abend mit hohem Tempo, Atmosphäre, Livemusik von Performance­künstler PC Nackt, der viel mit dem schwedischen Sänger José González oder Dieter Meier in Zürich zusammen­gearbeitet hat. Die Spielerinnen und Spieler haben in den ersten Probe­wochen nur gesungen, die Musik genoss Vorrang.

Denn auch hier gilt: Sog statt Message, Eintauchen statt Reflektieren, rund zehn Minuten sehen wir sogar mit 3-D-Brillen zu. Die geistige Verdauung folgt frühestens beim Bier danach.

Niemand gibt hier vor, wer wie zu denken hat

Sowohl Holzingers Ophelia-Zirkus wie Hartmanns Stirner-Revue schaffen aus komplexen Stoffen ereignisreiche, lustvolle und offene Montagen, die nicht Meinungen provozieren, sondern Fragen mit auf den Weg geben. Ist es noch ein Zeichen, wenn Frauen nackt spielen, oder überwinden Holzingers Performerinnen diesen Blick? Bei Hartmann kommt man darüber ins Grübeln, wie die eigenen individuellen Wünsche den Freiheiten der anderen in die Quere kommen, wenn trotz der musikalischen Form des Abends einzelne Texte nachhallen.

Beide Inszenierungen gehen auf uns zu, ohne sich deswegen künstlerisch anzubiedern. Es ist ein Theater der Versammlung, nicht der Verstörung. Und es sieht völlig unterschiedlich aus, bedient unterschiedliche Alters­gruppen und hat einen jeweils anderen kulturellen Hinter­grund. Nein, mit identitäts­politischen Merkmalen lässt sich der eigentliche Wandel des Theaters nicht mehr beschreiben.

Zürich hat besonders viel Erfahrung mit Theater, in das die Zuschauerinnen eintauchen sollen. Wenn auch mit weniger Tempo – das Schweizer Klischee der Langsamkeit ist im Theater nicht von der Hand zu weisen.

Die Abende von Christoph Marthaler als Schauspielhaus-Intendant haben vor 20 Jahren zwar noch einige verschreckt, aber zugleich viele Freunde beinahe quer durch die politische Bank gewonnen, zumindest bei denen, die Kunst nicht von vornherein hassen. Und auch einzelne atmosphärische, räumliche, fast installative Abende von Alexander Giesche sind in der nicht verlängerten Direktion von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann auf viel Publikums­liebe gestossen, allen voran Giesches «Holozän» nach der Erzählung von Max Frisch (die Inszenierung war zum Theater­treffen 2020 eingeladen, das wegen Corona ausfiel).

Marthaler und Giesche haben zwar auch auf klassischen Bühnen wie im Pfauen ein räumlich geprägtes Theater inszeniert. Aber Zufall ist es dennoch nicht, dass man in Zürich etwas mehr Erfahrung hat mit einem Theater, das das Publikum in seine Mitte nehmen will. Es liegt auch an den Theater­bauten und ihren Räumen.

Eintauchen will gelernt (und gewollt) sein

Seit rund 20 Jahren bemühen sich die Theater­häuser um zusätzliche Bühnen­räume, die offener sind als die barocke Guckkasten­bühne. Diese vergleichsweise neuen Bühnen sind nicht erhöht, sie haben kein Portal und keine Vorbühne. Man spielt auf ihnen buchstäblich nicht «von oben herab», sondern ebenerdig oder in der Mitte, wenn das Publikum rundherum sitzt.

Oder die Zuschauer wandeln sogar selbst durch den Raum und werden Teil der Inszenierung. Die Architektur prägt die Ästhetik entscheidend mit: Wenn die Räume so viele verschiedene Blickwinkel, Wimmel­bilder, ja sogar mobile Zuschauer zulassen, hat es die Kunst schwer, die richtige Haltung vorzugeben.

Die Schiffbauhalle ist dafür ein besonders auffälliges Beispiel. Der Schiffbau stellt dem Schauspiel­haus Zürich seit 2000, dem Jahr von Marthalers Antritt als Intendant, drei neue Bühnen­räume zur Verfügung. Man kann in der Halle und in der Box zwar frontale Bühnen­situationen herstellen. Doch immer wieder ermöglichen die künstlerischen Teams in der Schiffbau­halle vielfältige Blickachsen.

Theater, das auf das Publikum zugehen will, statt es zu verstören: «Riesenhaft in Mittelerde», Regie Nicolas Stemann, Florian Loycke und Stephan Stock. Philip Frowein

Kaum eine Inszenierung reizt die offene Räumlichkeit so weit aus wie die eben erst gestartete «Der Herr der Ringe»-Vorstellung. In Zürich heisst der Abend «Riesenhaft in Mittelerde». In der ersten Viertel­stunde kann das Publikum verschiedene Stationen abgehen, etwa eine Bar oder überwachsene Bühnen­bilder an den Seiten, hier spielt eine Band, dort machen sich ein paar Hobbits fertig.

Aus ihnen löst sich Bilbo Beutlin und betritt ein eher zentrales Bühnen­element, etwas erhöht und mit Treppen auf beiden Seiten. Gottfried Breitfuss erzählt als Beutlin die Geschichte vom gefundenen Ring, während­dessen kommt aber bereits eine kleine Prozession in Gang, die eine Überfahrt per Schiff darstellt. Später sitzt das Publikum auch auf diesen Treppen – oder auf Teppichen, gespielt wird überall.

Man kann sich im Theater immer selbst aussuchen, welchen Bühnen­ausschnitt man interessant findet. Aber bei Inszenierungen wie «Riesenhaft in Mittelerde» sind die Möglichkeiten grösser, die Erfahrungen unterschiedlicher. Die Bearbeitung von Tolkiens «Der Herr der Ringe» ist damit weit entfernt von einer Idee des kritischen Regie­theaters, das eine These durch den Stoff sticht. Das liegt zum einen am flexiblen Raum selbst, den Katrin Nottrodt entworfen hat. Zum andern auch daran, dass gleich drei Leute gemeinsam Regie führen, in dieser Koproduktion von Schauspielhaus (Nicolas Stemann), dem Puppentheater Das Helmi (Florian Loycke) und dem Theater Hora (Stephan Stock). In solchen Räumen mit gemeinsamer Urheberschaft steht eine stabile Deutung oder gar ein politisches Programm nicht mehr zur Debatte.

Das kann man als angenehm empfinden oder als Verlust. «Riesenhaft in Mittelerde» ist, wie alle anderen genannten Inszenierungen, ein Beispiel für ein Theater, das auf das Publikum zugehen will, statt es zu verstören, wie es sich die selbst ernannte Avantgarde des Theaters früher gerne auf die Fahnen schrieb.

Neben dem Wunsch nach anderen Bühnen spielt noch ein zweiter Grund eine Rolle für diese Transformation des Theaters. Es geht um Medien­wandel: Polemik und Hass sind online überall, auch traditionelle Verlage sind nicht frei davon – das Theater hat in dieser historisch neuen Situation eine andere Funktion. Es scheint nun eher zusammen­zuführen, als zu trennen.

Die offenen Bühnen wurden ab dem Zeitpunkt häufiger nachgefragt, als das Internet seit den Nuller­jahren die Gesellschaft definitiv umzuwälzen begann. Die Nutzerinnen betraten im digitalen Alltag zunehmend selbst die Bühne. Auch wenn sie meistens Käuferinnen waren oder, wie wir nun auch schon länger sehen, Daten­zulieferer für monopol­artige Konzerne. Aber das wischt den Wandel nicht weg: Das konsumierende Publikum wollte verstärkt gemeint sein, egal ob im Netz oder im Theater. Der Wunsch der Zuschauer und Zuschauerinnen, dass man etwas für sie tun müsse und sie vielleicht sogar Teil des Erlebnisses werden möchten, wirkt schon ein paar Jahrzehnte lang.

Behutsam statt provokativ

Ein Blick in die Kunst der Neunziger- und Nullerjahre zeigt im Kontrast, wie anders, vorsichtiger das Theater der Gegenwart auf sein Publikum zugeht. Christoph Schlingensief attackierte in jenen Jahren die Empfindlichkeiten des Publikums. Seine und Frank Castorfs wach machenden Angriffe fanden in einer anderen Zeit statt. Ihre Kunst wirkte wie ein Gegen­mittel für das im Wohlstand bequem gewordene Kultur­bürgertum, das die Schüsse der bereits eingetretenen Umwälzungen noch nicht hören wollte. Bei Castorf, Schlingensief und Co. konnte man im Theater lernen, dass die Welt nicht übersichtlicher wurde, wie viele nach dem Zusammen­bruch des sozialistischen Ostens erst dachten.

Der aufbegehrende Globale Süden, die Selbst­zufriedenheit des Westens, die Körper von Behinderten, Deklassierten und anderen Marginalisierten, der kein bisschen erlöste Osten: Die Welt wurde laut in diesem Theater, sie blieb ungerecht, und die Besten der Neunziger­jahre knallten das dem Publikum auf schmerzhafte (und manchmal sehr lustige) Art und Weise vor den Latz. Heute würde ihr Ton an jenen der Schreihälse erinnern, die jedes soziale Medium zur Hölle machen.

Wer hat schon Lust, im Theater abends noch mal das Gleiche zu sehen, das tagsüber im Telefon lärmt?

Die politische Polemik ist heute nicht mehr cool, sondern sie gefährdet das demokratische Zusammen­leben. Weil wir nun wissen, wie schnell sich Polemik verbreiten kann im Netz. Wie sie zu Falsch­nachrichten führen kann, wenn der Kontext fehlt (und er fehlt meistens). Wie Wahlen und Abstimmungen davon beeinträchtigt werden. Wie Polemik die Gesellschaft polarisieren kann.

In der Politik geht der Begriff der Polarisierung schnell über die Lippen. Vielleicht, weil er da eher zutrifft. Für das Theater ist er falsch. Weil die Kunst heute oft die Mittel der Provokation meidet und behutsamer auf das Publikum zugeht (um das mittlerweile auch ironisch klingende Wort achtsam zu vermeiden).

Es könnte sogar sein, dass ein weiterer Grund für diesen Wandel in der Technologie selbst liegt. Der Soziologe Dirk Baecker hat einmal argumentiert, das Zeitalter des Buch­druckes habe die Idee der Kritik ermöglicht, auch in den Künsten. Die Digitalisierung bevorzuge aber nun das Prinzip der Vernetzung – sie verteilt, verbindet, sie hat dezentrale Knoten statt einer Kirche in der Mitte, wie es beim Buchdruck lange der Fall war (auch wenn genau diese Kirche durch den Buchdruck kritisiert werden konnte).

Herausfinden aus dem Knast der alten, mit Scham behafteten Frauenbilder: «Antigone», Regie Leonie Böhm. Ute Langkafel

Die primär vernetzende statt kritische Form der Ansprache lässt sich auch auf traditionellen Guckkasten­bühnen beobachten. Etwa bei der Regisseurin Leonie Böhm, die bis vor kurzem fest am Schauspielhaus Zürich arbeitete und heute frei inszeniert. In ihrer neuesten Inszenierung im Berliner Maxim Gorki Theater sprechen vier Schauspielerinnen von der Bühne oft direkt ins Publikum: «Antigone» folgt kaum dem antiken Stück von Sophokles, sondern lässt die Spielerinnen darüber reden, wie sie aus dem «Felsenhaus» ausbrechen.

Das Felsenhaus ist der Kerker, in dem die Königstochter Antigone steckt und sich schämt, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, weil sie ihren Bruder Polyneikes wider das griechische Gesetz beerdigt hat. Nun stehen die vier Antigones in Berlin am Bühnenrand und wollen ihre Scham überwinden.

«Wir müssen den ganzen Staub wegwischen, der auf dieser ganzen Scheisse liegt. Und dann müssen wir den nackten Leib entblössen», sagt die Schauspielerin Lea Draeger. Die Darstellerinnen stellen dem Publikum Fragen, was es in den vier Frauen alles sieht. Und führen anschliessend ein Ritual auf, um aus dem Knast der alten, mit Schuld behafteten Frauen­bilder heraus­zufinden. Wie ernst es ihnen dabei ist oder ob sie den nun deutlich achtsamen Gestus selbst ironisieren, bleibt in der Schwebe. Klar wird einzig, dass die Regisseurin nicht bloss ihr Programm durchzieht, sondern mit einer Gruppe zusammen­arbeitet und das Publikum in das Spiel miteinbeziehen will.

Am selben Haus, dem Berliner Gorki, wo Leonie Böhm das vernetzende Theater zeigt, hat der Co-Leiter Oliver Frljić im März noch einmal das Theater­prinzip des späten 20. Jahrhunderts aufgeführt. «Schlachten», sein Verschnitt aus Texten von Heiner Müller, verglich den Angriffs­krieg in der Ukraine mit dem Einmarsch der USA im Irak, zeigte riesige Gräuelbilder von verhungernden Kindern in Ostafrika und hielt seinen Schocker wohl für aufrüttelnd. So gut wie alle waren genervt, Publikum wie Kritikerinnen. Es ist anzunehmen, dass man vor 20, 30 Jahren den Regisseur noch für seinen Mut oder seine Radikalität gelobt hätte.

Doch das ist vorbei. Das Theater der harten Provokation und der politischen Partei­nahme findet keinen Zuspruch mehr. Es wurde von der Realität überholt. Wer den Krawall vermisst, kann ja wieder ins Telefon schauen.

Zum Autor und zu den Inszenierungen

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er schreibt vor allem über Pop- und Theater­themen. Zuletzt warf er für die Republik einen Blick zurück auf das Pop-Jahr 2022.

Leonie Böhm (Regie): «Antigone». Termine noch bis Anfang Juli 2023, Maxim Gorki Theater Berlin.

Oliver Frljić (Regie): «Schlachten». Termine noch bis Anfang Juni 2023, Maxim Gorki Theater Berlin.

Sebastian Hartmann (Regie): «Der Einzige und sein Eigentum». Termine bis Mitte Juni 2023, Deutsches Theater Berlin.

Florentina Holzinger (Regie): «Ophelia’s Got Talent». Termine im Rahmen des Theatertreffens Berlin 2023, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.

Philipp Stölzl (Regie): «Das Vermächtnis». Termine im Rahmen des Theatertreffens Berlin 2023, Residenztheater München.

Nicolas Stemann, Stephan Stock, Florian Loycke (Regie) und Der Cora Frost (Co-Regie): «Riesenhaft in Mittelerde». Schauspielhaus Zürich. Noch bis 1. Juni 2023, Schiffbauhalle Zürich.

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