«Die Demokratische Partei muss an der Seite der Arbeiter­klasse stehen»

Warum es okay ist, wütend zu sein auf den Kapitalismus, wieso das als Antwort auf die immensen Probleme nicht reicht. Und was Joe Biden tun muss, um Donald Trump erneut zu schlagen. Ein Gespräch mit Bernie Sanders.

Von Daniel Graf (Text) und Aline Zalko (Illustration), 17.10.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
0:00 / 21:56

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Herr Sanders, wir hatten ein Gespräch über die Themen Ihres neuen Buches vereinbart. Aber wir sollten wohl zuerst auf das zu sprechen kommen, was uns alle derzeit gedanklich okkupiert: die schrecklichen Bilder des Hamas-Terrors in Israel, den Krieg, das anhaltende Blutvergiessen im Nahen Osten. Möchten Sie sich dazu äussern?
Natürlich, ich habe mich ja auch in den letzten Tagen mehrfach geäussert. Der Terror­anschlag der Hamas gegen Israel, die Ermordung so vieler unschuldiger Männer, Frauen und Kinder ist entsetzlich. Israel hat zweifelsohne das Recht, auf diesen Angriff militärisch zu antworten, und das geschieht auch. Die Sorge, die mich dabei umtreibt, ist, dass es dadurch zu einer weiteren humanitären Katastrophe kommen wird. Im Gazastreifen leben etwa zwei Millionen Menschen, die Hälfte davon sind Kinder. Und ich möchte nicht, dass eine Über­reaktion erfolgt, die zum unnötigen Tod von Frauen und Kindern führt.

Joe Biden hielt am Dienstag eine viel beachtete Rede. Hat er die richtigen Worte gefunden?
Um ehrlich zu sein, ich habe die Rede nicht gehört. Ich war die ganze Zeit hier in Europa unterwegs, deshalb habe ich sie auch nicht nachgelesen. Aber ich weiss, von welcher Warte aus er spricht. Der Balanceakt besteht nun darin, einerseits sicher­zustellen, dass diesem schrecklichen Terrorismus der Hamas ein Ende gesetzt wird. Und zugleich muss alles unternommen werden, dass nicht Frauen und Kinder in Palästina für das, was die Hamas getan hat, sterben müssen.

Ausgerechnet in der jetzigen Situation ist der US-Kongress nicht handlungsfähig, weil das Repräsentanten­haus nach der Absetzung von Kevin McCarthy keinen Sprecher hat. War es die richtige Entscheidung der Demokraten, die Rebellion der extremen Rechten gegen ihn zu unterstützen?
Die Demokraten konnten McCarthy einfach nicht unterstützen. Auch er steht weit rechts, wenn auch nicht derart weit rechts wie andere Leute seiner Partei. Vernünftige Republikaner müssen jetzt einsehen, dass es in diesem besonderen Moment der amerikanischen Geschichte, wo wir mit derart vielen Problemen zu kämpfen haben, geboten ist, nicht vor einer Handvoll Extremisten einzuknicken, sondern mit den Demokraten zusammen­zuarbeiten. Und dass es darum geht, eine Art Koalition zu bilden. Jetzt ist der Moment, wo die vernünftigen Verantwortungs­träger der Republikaner sagen müssen: Zum Wohl des Landes arbeiten wir mit den Demokraten zusammen, nicht mit rechts­extremen Republikanern.

Zur Person, zum Buch und zu diesem Gespräch

Bernie Sanders, 1941 in New York City geboren, vertritt seit 2007 den Bundesstaat Vermont im US-Senat. Sanders ist parteilos, aber seit vielen Jahren enger Verbündeter (und prominenter Kritiker) der Demokraten. Er trat bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei zu den Präsidentschafts­wahlen 2016 und 2020 gegen Hillary Clinton beziehungs­weise Joe Biden an und war jeweils der aussichts­reichste innerparteiliche Gegen­kandidat. Spätestens seit diesen Wahlkämpfen ist der bekennende «demokratische Sozialist» eine Ikone der Linken in den USA und weltweit. «Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein» heisst sein neues Buch, das vergangene Woche auf Deutsch und Niederländisch erschienen ist (Deutsch von Richard Barth, Enrico Heinemann und Michael Schickenberg; Tropen-Verlag, 432 Seiten). Nach Terminen in Amsterdam und Brüssel hat Sanders das Buch am 12. Oktober in Berlin vorgestellt. Am Samstag, 14. Oktober, hat die Republik Sanders zum Gespräch in einem Hotel in Berlin-Mitte getroffen.

Kommen wir zu Ihrem Buch «Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein». Wenn Politiker ein Buch schreiben, tun sie das normalerweise, weil sie sich für ein Amt, etwa das des Präsidenten, bewerben. Dieses Mal unterstützen Sie aber Joe Biden und haben es abgelehnt, selbst wieder für das Präsidenten­amt zu kandidieren. Warum?
Ich bin der Meinung, an diesem schwierigen Punkt der amerikanischen Geschichte muss sich die progressive Bewegung geschlossen hinter Biden versammeln. Zum einen, weil er wirklich etwas vorzuweisen hat. Die Bilanz ist vielleicht nicht so stark, wie ich es gerne gesehen hätte, aber sie enthält eine Reihe sehr konkreter Errungenschaften, auf die wir stolz sein sollten.

Woran denken Sie zum Beispiel?
Zunächst einmal haben wir den «American Rescue Plan» verabschiedet, das folgenreichste Konjunktur­paket in der modernen amerikanischen Geschichte, das uns schneller als gedacht aus der Pandemie heraus­geführt und unsere Wirtschaft wieder aufgebaut hat. Wir haben ein riesiges Infrastruktur­paket verabschiedet. Unsere Strassen, das Transport­netz und die Wasser­versorgung sind in äusserst schlechtem Zustand, und wir haben viel Geld in den Wieder­aufbau dieser Systeme gesteckt. In die Transformation unserer Energie­versorgung hin zu einer grüneren Wirtschaft haben wir mehr investiert als je zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Wir haben angefangen – angefangen! –, es mit der Pharma­industrie aufzunehmen und die Kosten für verschreibungs­pflichtige Medikamente zu senken. Ist das so viel, wie ich es mir wünschen würde? Nein. Ist es ein signifikanter Fortschritt? Ja!

Es sieht nun alles nach einem erneuten Duell Biden gegen Trump aus.
Und dieser Punkt ist genauso wichtig: Wir haben es bei Donald Trump mit einem pathologischen Lügner zu tun, der Tag und Nacht daran arbeitet, die amerikanische Demokratie zu unterminieren. Wenn Sie mich also nach dem wichtigsten Thema für die kommende Wahl fragen, dann ist es nicht das Gesundheits­wesen, nicht die Bildungs­politik, nicht einmal der Klima­wandel. Es geht bei dieser Wahl um die Frage, ob die Strukturen der amerikanischen Demokratie intakt bleiben oder nicht. Denn es besteht kein Zweifel, dass Trump die Grundlagen der amerikanischen Demokratie zerstören will.

Einer der Schlüsselsätze in Ihrem Buch lautet: «Unsere Ideen» – und «unsere» meint die progressive Bewegung, die aus Ihrem letzten Wahlkampf hervor­gegangen ist – «unsere Ideen sind die Zukunft dieses Landes.» Wenn es das ist, wovon Sie überzeugt sind, wäre es dann nicht folgerichtig gewesen, selbst für das Präsidenten­amt zu kandidieren?
Nein. Wenn ich kandidiert hätte, hätten wir die Demokratische Partei gespalten und es Trump und dem rechten Flügel des Landes leichter gemacht, sich durchzusetzen. Stattdessen müssen wir von Biden verlangen, eine politische Agenda zu vertreten, die so progressiv ist wie irgend möglich. Wir haben Fortschritte gemacht in der Zusammen­arbeit mit der Biden-Administration: Es war kein Zufall, dass sich Präsident Biden vor einigen Wochen bei einem Streik der United Auto Workers [der von Shawn Fain angeführten Gewerkschaft in der Automobil­industrie; Anm. d. Red.] demonstrativ an die Seite der Arbeiter gestellt hat. Das ist das erste Mal in der amerikanischen Geschichte, dass so etwas vorkommt. Und wir müssen auch weiterhin sehr deutlich machen: Der Präsident und die Demokratische Partei stehen an der Seite der amerikanischen Arbeiterklasse.

Was müssen Joe Biden und die Demokraten tun, um Trump erneut zu schlagen?
Zwei Dinge. Erstens: jedem in Amerika klarmachen und vor Augen führen, dass Trump ein Schwindler ist. Dass es schlichtweg gelogen ist, wenn Trump sagt, er mache sich Sorgen um die Arbeiter­klasse. Seine Agenda als Präsident bestand darin, den Reichen massive Steuer­erleichterungen zu bescheren. Er hat nichts getan, um unser katastrophales Gesundheits­system zu verbessern. Im Gegenteil, er hat versucht, es noch schlimmer zu machen. Auch die Vorstellung, dass wir einen Kandidaten haben, der nicht einmal die Realität des Klima­wandels anerkennt, ist einfach unglaublich. Die Bilanz von Trumps Amtszeit ist unterirdisch. All das müssen wir unmissverständlich sagen. Aber zweitens müssen wir sicher­stellen, dass die Demokraten mit einer starken, fortschrittlichen Agenda für die Arbeiter­klasse antreten und endlich die Probleme ansprechen, die lange vernachlässigt wurden.

Was ist Ihre Erklärung dafür, dass Millionen von Menschen aus der Arbeiterklasse Trump unterstützen, obwohl er nicht nur eine Bedrohung für die Demokratie ist, sondern in dem, was er tut und repräsentiert, das genaue Gegenteil der Arbeiter­klasse darstellt?
Ich denke, daran wird die ganze Frustration deutlich, die viele Menschen empfinden. In Europa hat man oft gar keine Vorstellung davon, wie schlecht die wirtschaftliche Lage der Arbeiter­klasse in den Vereinigten Staaten tatsächlich ist. Wir leben in einer Zeit, in der es dem obersten einen Prozent der Gesellschaft so gut geht wie überhaupt noch nie in der Geschichte Amerikas. Die reichsten Menschen werden immer noch viel, viel reicher. Die grossen Unternehmen erzielen Rekord­gewinne. Ihre Vorstands­vorsitzenden bekommen inzwischen das 400-Fache von dem, was der durchschnittliche Arbeiter bekommt. Währenddessen leben 60 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer von der Hand in den Mund. Und der inflations­bereinigte Wochenlohn des amerikanischen Durchschnitts­arbeiters ist heute niedriger als vor fünfzig Jahren. 85 Millionen Menschen haben eine unzureichende oder gar keine Kranken­versicherung. Junge Menschen verlassen das College mit einem Schuldenberg von 40’000 oder 50’000 Dollar. Andere können es sich gar nicht erst leisten, aufs College zu gehen. Unser System der Kinder­betreuung kollabiert. Manche Menschen geben die Hälfte ihres Einkommens fürs Wohnen aus. Die amerikanische Arbeiterklasse befindet sich in einer echten Krise. Meiner Meinung nach haben die Demokraten dem nicht annähernd genug Aufmerksamkeit geschenkt. Und dann sagen die Arbeiter, wenn die Demokraten nicht reagieren, wird es vielleicht Mr Trump tun; vielleicht reagiert ja eine autoritäre Regierung auf diese Krisen. Nur dass die Versprechen von Trump eben reine Lügen sind: Er wird überhaupt nichts tun. Unsere Aufgabe ist es, das deutlich zu machen.

Ihre Erklärung ist also, Trump bietet Sündenbock­erzählungen an, aber das wahre Problem im Land heisst Ungleichheit?
Und Verzweiflung! Natürlich, Ungleichheit an sich ist niemals gut. Aber wenn es der Mittelschicht wenigstens gut ginge, während die Reichen immer reicher werden, wäre alles nicht so gravierend. Im Moment ist aber genau das Gegenteil der Fall. Und die Arbeiter­klasse in Amerika hat wirklich zu kämpfen. Was viele nicht wissen: Auch die Lebens­erwartung geht in der Arbeiterklasse zurück. Der Unterschied zur Lebens­erwartung der Reichen beträgt etwa zehn Jahre. Die Demokraten müssen diese Realität anerkennen und gegen die Macht von big money aufstehen.

Wie konnte es zu all dem kommen?
Was die letzten Jahrzehnte vor Augen geführt haben, ist die Macht des Geldes in der amerikanischen Politik. Für viele, viele Jahre, von Franklin D. Roosevelt über Harry S. Truman und John F. Kennedy bis hin zu Lyndon B. Johnson, ging man immer davon aus, dass die Partei der amerikanischen Arbeiterklasse die Demokratische Partei ist. Aber in den 1970er-Jahren begannen die Demokraten, viel Geld von Gross­unternehmen und Reichen einzusammeln, und jedes Jahr kehrten sie den Bedürfnissen der Arbeiterklasse ein Stückchen mehr den Rücken zu. Das von Bill Clinton initiierte Freihandels­abkommen Nafta zum Beispiel war eine Katastrophe für die Arbeiter – übrigens ein Thema, das Trump aufgegriffen hat. Auch andere Handels­abkommen hatten fatale Wirkung. Wenn Sie heute in Amerika Milliardär sind, zahlen Sie effektiv einen niedrigeren Steuersatz als eine Kranken­schwester oder ein Lkw-Fahrer. Um also Ihre Frage zu beantworten: Ich denke, die Demokratische Partei hat sich in hohem Masse von den Bedürfnissen der Arbeiter­klasse abgewendet. Gleichzeitig hat sie sich in der immer stärkeren Annäherung an die Interessen der Unternehmen eingerichtet. Und genau an diesem Punkt sind wir heute.

Wenn es um Umverteilung geht, heisst eine Ihrer wichtigsten Referenzen Franklin D. Roosevelt. Was könnte Ihrer Meinung nach die wichtigste Inspiration von Roosevelt für die heutige Politik sein?
Ich werde Ihnen etwas sagen, das Sie überraschen wird: Roosevelt war der beliebteste Präsident in der amerikanischen Geschichte. Er half, die Vereinigten Staaten aus der Wirtschafts­krise zu führen, und regierte das Land während der schwierigen Zeit des Zweiten Weltkriegs. Aber was Roosevelt tat, und Sie können sich die Reden ansehen, die er im Wahlkampf 1936 und bei der Inauguration zu seiner zweiten Amtszeit 1937 hielt, waren zwei Dinge. Erstens sagte er: Ich bin stolz auf das, was wir erreicht haben – und es wurde eine Menge erreicht. Die Roosevelt-Administration hat die amerikanische Regierung revolutioniert und dafür gesorgt, dass sich die Regierenden viel aktiver um die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung und der Menschen mit niedrigem Einkommen kümmerten. Dennoch sagte Roosevelt auch: Ich weiss, dass trotz allem noch enorm viel zu tun ist. In seiner Antritts­rede zur zweiten Amtszeit erklärte er: Ich sehe eine Nation, in der ein Drittel der Bevölkerung in erbärmlichen Wohn­verhältnissen lebt. Er erkannte die Realitäten der amerikanischen Gesellschaft an. Wir tun das im Moment nicht genug.

Und der zweite Punkt?
1936 erklärte Roosevelt: Noch nie in der Geschichte ist eine Person von der herrschenden Klasse so sehr gehasst worden wie ich – und ich begrüsse ihren Hass! So machte er deutlich, dass er es mit den Mächtigen aufnehmen würde. Sie hassten ihn, und das war ihm willkommen.

Sie sind ziemlich überzeugend bei der Frage, warum es «okay» ist, «wütend auf den Kapitalismus zu sein». Aber ich frage mich, wie und unter welchen Umständen ist es auch hilfreich? Anders ausgedrückt: Wut kann auch eine sehr reaktionäre Kraft sein. Was also braucht es, damit sie zu einer konstruktiven wird?
Völlig richtig: Wut kann eine reaktionäre Kraft sein. Schauen Sie, wenn jemand Sie mit Verachtung behandelt und sagt: Ich mache hier das grosse Geld, aber Ihnen zahle ich einen Hungerlohn; wenn jemand sagt, ich werde Lobbyisten in Washington anheuern, um dafür zu sorgen, dass Sie keine anständige Gesundheits­versorgung haben; wenn jemand Sie wissen lässt, er wolle noch mehr Geld verdienen, weshalb er den Standort, an dem Sie arbeiten, schliesst und nach China verlagert – dann haben Sie alles Recht, wütend zu sein. Nur kommt eben alles darauf an, worauf die Wut sich richtet. Trump und seine Kollegen versuchen, diese Wut auf Minderheiten zu lenken, sie geben Einwanderern oder der Gay-Community oder den Ärmsten die Schuld an den Problemen der Gesellschaft. Aber wenn Menschen verletzt sind, haben sie ein Recht darauf, auf diejenigen wütend zu sein, die ihnen und ihren Kindern unnötiges Leid zugefügt haben. Und es ist wichtig, diese Wut in eine konstruktive Richtung zu lenken, um damit die Gesellschaft zu verändern. Genau das versuchen wir zu tun.

Teile der Linken und manche Konservative behaupten, die Linke habe die wirtschaftlichen Themen und die soziale Frage vernachlässigt, weil sie sich nur den Themen race und gender und der sogenannten Identitäts­politik zugewandt habe. Was halten Sie von diesem Argument?
Ich glaube nicht, dass es hier um ein Entweder-oder geht. Amerika hat eine lange Geschichte des Rassismus. In meiner Kindheit herrschte im Süden des Landes noch Apartheid. Schwarze durften nicht ins Kino gehen, ihre Kinder besuchten segregierte, minderwertige Schulen. Dagegen musste man ankämpfen, und deshalb halte ich Dr. Martin Luther King Jr. für eine der grossen Figuren in der amerikanischen Geschichte. Weil der Rassismus bis heute anhält, muss er auch weiter bekämpft werden. Während meiner drei Amtszeiten im Senat gab es eine Phase, in der unter hundert Senatoren eine einzige Frau war. Neunundneunzig waren Männer! Sexismus ist also ebenfalls ein reales Problem. Und das manifestiert sich nicht nur in der mangelnden politischen Repräsentation, sondern auch in den Angriffen auf Frauenrechte, etwa auf das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Als ich ein Kind war, gab es absolut niemanden, weder unter meinen Freunden noch unter Menschen, die ich sonst wie kannte, der sich dazu bekannte, schwul zu sein – was offensichtlich bei vielen der Fall gewesen sein muss. Auch das Recht der Menschen, ihre sexuelle Identität ausleben zu können, ist von enormer Wichtigkeit. Wir müssen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Fremden­feindlichkeit und so weiter energisch bekämpfen. Parallel dazu müssen wir uns aber mit den immensen Problemen der Arbeiterklasse und der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft hin zu einer Oligarchie auseinander­setzen. Es geht also nicht darum, das eine zu tun und das andere zu lassen. Wir können beides tun. Und wenn die Frage lautet: Wurde der Krise, mit der die Arbeiter­klasse konfrontiert ist, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?, dann gilt es festzuhalten: Ein beträchtlicher Teil der amerikanischen Arbeiterklasse besteht aus Schwarzen und Latinos. Und wer sind die am schlechtesten bezahlten Arbeiter in Amerika? Frauen! Das sind alles keine separaten Themen. Meine Kritik an der Demokratischen Partei ist, dass sie zwar bei den kulturellen und gesellschaftlichen Fragen ziemlich gute Arbeit geleistet hat, den Arbeitern und ihrem Kampf für ökonomische Gerechtigkeit aber den Rücken kehrte.

Was bedeutet die gegenwärtige Revolution im Bereich künstliche Intelligenz für die Anforderungen an die Politik?
Diese Entwicklung hat gewaltige Dimensionen. Ihr Job und die Jobs der meisten Menschen werden sich radikal verändern. Und die Frage ist, wer wird diese Entscheidungen treffen? Nehmen wir an, jemand sagt zu Ihnen: «Wir brauchen Sie nicht mehr, weil wir jetzt einen Chatbot haben, der schreibt und recherchiert, und statt zehn Schreibern haben wir nur noch zwei, die vielleicht noch das verfeinern, was der Chatbot gemacht hat.» Haben Sie da ein Mitspracherecht? Sollten Sie ein Mitsprache­recht haben? Was sind die Auswirkungen für Sie? Was wir derzeit erleben, ist eine explosions­artige Zunahme von künstlicher Intelligenz, Robotik und anderen neuen Technologien, die das Arbeitsleben umkrempeln werden. Die gar nicht so komplizierte Frage lautet: Wer profitiert davon, wer nicht?

Und?
Wenn Ihnen Ihr Arbeit­geber die gute Nachricht überbringt, dass man jetzt viel mehr Chatbots einsetzen werde, Sie aber das gleiche Gehalt bekommen, während man Ihre Wochen­arbeitszeit halbiert, werden Sie sagen: Hervorragend, vielen Dank, Mr Chatbot! Wenn Ihr Arbeitgeber hingegen sagt: «Tut mir leid, Sie haben Ihren Job verloren», sieht die Sache anders aus. Es geht also um die Frage, wer die Entscheidungen trifft, wer davon profitiert und wer darunter leidet. Wenn wir die aktuelle Dynamik nicht ändern, werden alle Vorteile den Leuten an der Spitze zugute­kommen und die Arbeitnehmer werden darunter leiden. Ich glaube jedoch, dass künstliche Intelligenz und Robotik, wenn sie angemessen und fair eingesetzt werden, tatsächlich das Potenzial haben, das Leben der arbeitenden Menschen zu verbessern. Viele der gefährlichen, niederen und langweiligen Arbeiten, die die Menschen heute verrichten, können wegfallen, sodass die Menschen mehr Zeit für kulturelle Aktivitäten, Bildung und Familien­leben zur Verfügung haben – grossartig. Aber es ist ein gewaltiger Kampf, den wir führen müssen, um sicherzustellen, dass die Arbeit­nehmerinnen davon profitieren und nicht alles nur den unternehmerischen Interessen zugutekommt.

Betroffen ist hier auch das Steuer­system und damit das Gemeinwesen: Arbeiter zahlen Steuern, Roboter nicht.
So ist es. Roboter sind für Unternehmen eine gute Investition, sie werden auch nicht krank. Sie müssen vielleicht gewartet werden, aber wegen Krankheit fehlen tun sie nicht.

Wenn Sie auf die Jahrzehnte Ihrer bisherigen politischen Arbeit zurückblicken: Was war der grösste Fehler, den Sie gemacht haben, und worauf sind Sie besonders stolz?
Ehrlich gesagt, ich bin so sehr in aktuelle Kämpfe verwickelt, dass ich mich nicht gross mit Rückblicken beschäftige. Wir haben eine Vielzahl an virulenten Fragen auf dem Tisch, und ich bin Vorsitzender eines wichtigen Ausschusses im Senat. Worauf ich stolz bin? Wir haben dem Land und wohl auch der Welt gezeigt, dass in der grössten Volkswirtschaft der Welt, den Vereinigten Staaten, Dutzende von Millionen Menschen mit dem Status quo nicht zufrieden sind und einen Wandel wollen. Vor zehn Jahren haben viele noch gesagt, na ja, wie es läuft, ist im Grossen und Ganzen schon irgendwie in Ordnung. Wir haben gezeigt, dass die Menschen über den Status quo verärgert und bereit waren, für Veränderungen zu kämpfen. Das hat eine ganze Menge von Entwicklungen angestossen, und ich glaube, das ist wahrscheinlich die wichtigste Errungenschaft.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: