Gegen die Repression

Das Regime in Belarus verfolgt Autorinnen, verbietet Verlage, zensiert und verhindert Bücher. Von der Schweiz aus formiert sich nun kreativer Widerstand.

Von Daniel Graf (Text) und Michela Buttignol (Illustration), 21.09.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Im Zürcher Diaphanes-Verlag ist vor kurzem eine Anthologie zum experimentellen belarussischen Theater der 1990er- und Nuller­jahre erschienen – und zwar auf Belarussisch.

Suhrkamp, das Flaggschiff der deutsch­sprachigen Verlags­welt, bereitet derzeit die erneute Herausgabe eines dokumentarischen Textes von Nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewitsch vor – auf Belarussisch.

Und der auf Osteuropa spezialisierte Berliner Verlag Edition Fototapeta, wo im Frühjahr das Buch «Wörter im Krieg» des ukrainischen Schriftstellers Ostap Slyvynsky herauskam, plant für Januar noch einmal eine Ausgabe – auf Belarussisch.

Haben die Verleger etwa ein neues Geschäfts­modell entdeckt?

Natürlich nicht. Dass deutsch­sprachige Häuser nun begonnen haben, Bücher in bela­russischer Sprache auf den Markt zu bringen, hat handfeste politische Gründe. Und es geht zurück auf eine Idee der bela­russischen Übersetzerin Iryna Herasimovich, die seit Mai 2021 im Exil in Zürich lebt (und auch schon für die Republik über Belarus geschrieben hat).

Zusammen mit der Slavistin Sylvia Sasse und dem Schriftsteller Lukas Bärfuss hat Herasimovich die Aktion «33 Bücher für ein anderes Belarus» ins Leben gerufen, die vom Slavischen Seminar der Universität Zürich unterstützt wird. Der Grund­gedanke dabei lautet: Wenn Bücher wegen der Repressionen nicht in Belarus verlegt werden können, dann bringen wir sie einfach mithilfe ausländischer Verlage zu den bela­russischen Leserinnen: zu jenen in der Diaspora; aber auch – weil das E-Book leichter Grenzen überwindet – zu den Menschen in Belarus.

Das klingt wesentlich einfacher, als es ist. Und doch hat die Umsetzung der Idee bereits begonnen.

Nicht zuletzt liegt das an der tatkräftigen Mithilfe der Exilierten. Zmicier Vishnioŭ zum Beispiel, einer der Herausgeber der Theater-Anthologie. Der Dichter und Künstler war 15 Jahre lang Leiter von Halijafy, einem der führenden unabhängigen Verlage in Belarus – bis Halijafy im April 2022 vom Regime kurzerhand zwangs­liquidiert wurde. Vishnioŭ ging nach Berlin ins Exil. Und versucht nun, da es die «33 Bücher»-Aktion gibt, mit seinem Netzwerk und Know-how dafür zu sorgen, dass ein Teil der Bücher, die bei Halijafy hätten erscheinen sollen, auf anderen Wegen ihre Leser finden. Die erwähnte Anthologie etwa, das erste bereits erschienene Buch aus der Aktion, trägt denn auch konsequenter­weise nicht nur das Verlagslogo von Diaphanes – sondern auch das von Halijafy.

Die Repressionen gegen Vishnioŭ und seinen Verlag sind beileibe keine Einzelfälle. Vor allem seit dem Jahr 2021 gehe Lukaschenkos Regime besonders «rabiat gegen die freie Kultur­szene in Belarus vor», schreibt die Slavistin Nina Weller in einem einschlägigen Text.

Zmicier Vishnioŭ geht im Gespräch mit der Republik noch einen Schritt weiter: «Es geht um die Säuberung der ganzen Zivil­gesellschaft», die unabhängige Verlags­branche sei da nur eines von vielen Zielen der staatlichen Willkür. Die Anthologie, die er nun bei Diaphanes mit­herausgegeben hat, sei noch nicht einmal ein im engeren Sinne politisches Buch. Aber in Belarus sei ohnehin längst alles politisch, sagt er und fügt sarkastisch hinzu: «Man kann auch für das Einatmen von Luft angeklagt werden.»

Der unabhängige belarussische Schriftsteller­verband SBP wurde 2021 infolge der Massenproteste zwangs­aufgelöst; nur der staatsnahe Konkurrenz­verband ist übrig geblieben. Das belarussische Zentrum der internationalen Schriftsteller­vereinigung PEN wurde ebenfalls dicht­gemacht und agiert seit 2022 aus dem polnischen Exil heraus. Unzählige Kultur­schaffende sitzen im Gefängnis, viele andere sind längst ins Ausland geflüchtet. Vishnioŭs Kollege Ihar Lohvinaŭ betreibt seinen Verlag, einst ein Hotspot für die alternative Literatur­szene in Belarus, schon seit Jahren aus dem litauischen Exil. Auch er wirkt nun bei «33 Bücher für ein anderes Belarus» mit.

Und dann, sagt die Übersetzerin Iryna Herasimovich, gebe es noch viele Kultur­schaffende, die im Land geblieben seien und im Verborgenen weiter für Veränderungen kämpften. Auch für sie, die häufig vergessen würden, obwohl sie besonderen Risiken ausgesetzt seien, treibe sie die «33 Bücher» voran.

Wie die Co-Initiatorin Sylvia Sasse ausführt, zielten die Repressionen gegen die Verlags­szene immer auf zweierlei. Das Lukaschenko-Regime bekämpfe alles, was nicht in sein Welt­bild passe, es gehe aber auch um Sprach­politik: «Die sogenannte ‹Liste extremistischer Bücher› und die Zwangs­liquidierung von Verlagen richten sich auch gegen Bücher in belarussischer Sprache» – weil das Belarussische in Abgrenzung von der russischen Amts­sprache zur Sprache der Opposition und inzwischen auch zum Statement gegen den Putinismus geworden sei.

Die Zensur aushebeln

Der Zensur und Repression hält die Aktion von Herasimovich, Sasse und Co. nun eine Widerstands­form entgegen, die klassisch subversive und neue digitale Möglichkeiten verbindet. «Wir stehen ganz sicher in der Tradition des Tamizdat», sagt Herasimovich und verweist damit auf die sogenannten Dort-Verlage während der Sowjet­zeit. Unliebsame Bücher wurden schon im Kalten Krieg in Exil­verlagen im Ausland veröffentlicht. So konnten sie Menschen in der Diaspora erreichen, aber auch im Untergrund in der UdSSR zirkulieren.

Anders als beim klassischen Tamizdat handelt es sich beim Projekt von Herasimovich, Sasse und Bärfuss allerdings um eine gebündelte Aktion. Und noch wichtiger: In digitaler Zeit bieten sich für das alte Tamizdat-Prinzip ganz neue Möglichkeiten.

Zwar ist das gedruckte Exemplar für Autorinnen, Verleger und Leserschaft noch immer essenziell, weil es Sichtbarkeit bedeutet und Wertigkeit ausstrahlt; weil die Werke auf diese Weise physisch präsent sind in den Bibliotheken, auf Veranstaltungen und, zumindest ausserhalb von Belarus, potenziell auch im Buchhandel; und schliesslich weil es für die bela­russische Literatur­szene darauf ankommt, möglichst viel von der gewohnten Verlags­infrastruktur auch unter Exil­bedingungen aufrecht­zuerhalten. Aber: Für das Aushebeln der willkür­staatlichen Zensur und um die Distanz zwischen der Produktion im Ausland und der Leserschaft in Belarus zu überwinden, sind digitale Buch­ausgaben das mächtigste Instrument.

Selbst in einem überwachten und zensierten Internet finden sich Möglichkeiten, ein E-Book von Servern im Ausland herunterzuladen oder eine Datei etwa via Telegram weiter­zuverbreiten. Entgegen der üblichen Buchmarkt­logik wollen die Initiatorinnen der «33 Bücher» nämlich die digitalen Ausgaben dieser Reihe kostenlos halten – als Open Access PDF. Das ist nicht zuletzt für potenzielle Leserinnen in Belarus wichtig, erklärt Herasimovich: «Denn wenn sie mit Karte zahlen, hinterlassen sie Spuren – und das ist gefährlich.»

Dass damit für die Menschen in Belarus, wo Willkür, Verfolgung und Dauer­überwachung herrschen, nicht alle Gefahren gebannt sind, ist den Projekt­initiatorinnen natürlich bewusst. «Aber die Menschen im Land», sagt Herasimovich, «kennen die Risiken selbst am besten und sie wissen, welches Risiko sie eingehen wollen»; sie müssten ohnehin jeden Tag vielfach solche Entscheidungen treffen.

Das gilt auch für die Autoren, die noch im Land leben. Als kürzlich die Theater-Anthologie erschien, haben Zmicier Vishnioŭ und Iryna Herasimovich die Beiträgerinnen einzeln gefragt, ob sie ein gedrucktes Beleg­exemplar zugesandt haben wollen oder nicht – denn auch die Post könnte geöffnet und kontrolliert werden. Manche wollten unbedingt das Exemplar geschickt bekommen, erzählt Vishnioŭ, auch weil sie diese Bücher als sichtbares Hoffnungs­zeichen und als Statement gegen das Verstummen verstünden. Andere wiederum hätten aus Vorsicht auf eine Zusendung verzichtet.

All das macht bereits deutlich: Das Verlegen im Modus «Tamizdat 2.0» erfordert von den Beteiligten, ganz neu zu denken. Das Projekt stellt die Regeln des internationalen Buchmarkts komplett auf den Kopf – nicht nur, weil es hier von vorn­herein nicht um kommerzielle Ziele geht. Sondern auch, weil die etablierten Arbeits­prozesse und Vertriebs­strukturen nicht mehr greifen.

Diaphanes zum Beispiel gewährleistet über den eigenen Direkt­vertrieb zwar «eine globale Bestellbarkeit und Lieferbarkeit», wie Verleger Michael Heitz gegenüber der Republik ausführt. In der Realität sei es aber insbesondere in Belarus «schwierig bis unmöglich», das Buch, zumal als Print, direkt zu vermarkten.

Die Initiative setzt deshalb auf Veranstaltungen in der Diaspora, wie es sie bereits etwa in Kooperation mit dem Literatur­haus Basel gab. Und es kommt für die Verbreitung auf die belarussischen Vermittler an: Zmicier Vishnioŭ zum Beispiel, der vor allem über die sozialen Netzwerke Aufmerksamkeit für das Buch zu schaffen versucht. Dass die Publikation «unter der Hand zirkulieren» könne, so Michael Heitz, sei «der erste wichtige Schritt, dem sukzessive weitere folgen können». Im Grunde, so Heitz, sei das Ganze «eine Art von moderner Flaschen­post».

Dabei ist der Vertrieb nur die letzte von zahlreichen Heraus­forderungen. Denn fast das gesamte verlegerische Tun muss für die «33 Bücher» neu organisiert werden.

Normalerweise funktioniert der internationale Buchmarkt so: Bücher, die ein Verlag für sein eigenes Programm gewinnen will, werden im Wett­bewerb mit anderen Häusern eingekauft. Das heisst: Die Nutzungs­rechte werden für eine bestimmte Zeit, ein bestimmtes Territorium und eine bestimmte Sprache erworben. Deutsch­sprachige Verlage also kaufen fremd­sprachige Titel ein, um sie ins Deutsche übersetzen zu lassen – und dann möglichst zahlreich an deutsch­sprachige Leserinnen zu verkaufen.

Wenn nun aber Bücher hierzulande auf Bela­russisch produziert werden, dann bedeutet das auch: Die deutsch­sprachigen Verlage können einen Grossteil ihrer Kern­kompetenzen gar nicht einbringen – weil das Lektorieren, Setzen, Korrigieren von Büchern natürlich an der Sprach­kompetenz hängt. Kurz: Die Bücher brauchen belarussische Übersetzerinnen, Lektoren und Herstellerinnen. Und genau diese Kompetenzen bringen die bela­russischen Exil­verlage ein. So erscheinen die «33 Bücher» immer als Kooperation: das Suhrkamp-Buch zum Beispiel in Zusammen­arbeit mit Lohvinaŭ, der Band der Edition Fototapeta im Zusammen­spiel mit Halijafy. «Wir wollen und müssen die Kräfte bündeln», sagt Herasimovich.

Mit anderen Worten: Es geht bei den «33 Büchern» nicht in erster Linie um book deals, sondern um Solidarität. Oder wie Mitinitiatorin Sylvia Sasse es ausdrückt: «Die hiesigen Verleger haben sofort verstanden, was es hiesse, wenn ihr eigener Verlag liquidiert werden würde. Da musste kaum einer gross überredet werden, mitzumachen.» So ähnlich beschreibt auch Andreas Rostek von der Edition Fototapeta seine Motivation: «Was in Belarus geschieht, kann man nicht anders denn als ‹Staats­terrorismus› bezeichnen. Für uns als Verlag, der sich oft mit Ost­europa befasst, liegt es nahe, die belarussischen Verleger und Autorinnen zu unterstützen. Da kam das Projekt ‹33 Bücher› wie gerufen.»

Trotz aller Branchen­solidarität wollen die Initiatorinnen in den kommenden Wochen auch ein Crowd­funding starten. Schliesslich will man Autorinnen, Übersetzern, Lektorinnen und Setzern faire Löhne zahlen – und dies, ohne dass die Verlage nennens­werte Einkünfte werden erzielen können.

Die Kraft der Idee

Aber vielleicht muss man die Heraus­forderungen einen Moment beiseite­lassen und sich noch einmal die Idee und das ihr innewohnende Potenzial vor Augen führen.

Man stelle sich nur mal vor, in Belarus mit seinem diktatorischen, Putin-freundlichen Regime kursierte Timothy Snyder auf Belarussisch. Schon der Titel eines seiner jüngsten Bücher wäre eine Pointe: «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand». Oder, anderes Beispiel: Man stelle sich vor, im Land von Lukaschenko, der wie alle Rechts­autoritären die LGBTQ+-Bewegung verfolgt und verfemt, wäre ein Roman wie Kim de l’Horizons «Blutbuch» auf Belarussisch zu lesen.

Beides könnte schon in Bälde kein Gedanken­experiment mehr sein, sondern Realität.

Wie Jonathan Beck, Verleger des renommierten Verlags C. H. Beck, im Gespräch mit der Republik ausführt, will sein Haus die Übersetzung des Snyder-Buchs ins Bela­russische finanzieren. Beck wird die beiden bela­russischen Exil­verlage Lohvinaŭ und die in London ansässige Skaryna Press auch bei der Organisation des Drucks unterstützen, damit diese gemeinsam «On Tyranny» auf Bela­russisch herausbringen können. Und Iryna Herasimovich selbst übersetzt gerade Kim de l’Horizon in ihre Mutter­sprache. Mit de l’Horizons Hausverlag Dumont laufen bereits Verhandlungen über eine bela­russische Ausgabe im Rahmen der «33 Bücher».

Natürlich findet das Projekt unter prekären Bedingungen und abseits der Strukturen statt, die den Literatur­betrieb sonst am Laufen halten: Lesungen, Medien­präsenz, ein umtriebiger Buch­handel. Aber die Aktion bedeutet für die beteiligten bela­russischen Autorinnen und Literatur­betriebs­angehörigen nicht weniger, als dass sie sich nicht mund­tot machen und zur Passivität verdammen lassen. Wenn auch nur ein Teil der Bücher, die in einem freien Belarus hätten verlegt werden können, nun tatsächlich erscheinen, heisst das: Lukaschenko und seine Schergen haben nicht verhindern können, dass diese Werke in die Welt kommen; dass sie da sind, archiviert, in Bibliotheken aufgenommen und überliefert werden. Und dass sie, wenigstens in kleiner Auflage, gelesen und verbreitet werden.

Die Idee der «33 Bücher» besitzt aber auch eine Kraft und Evidenz, die potenziell weit über Belarus hinausreicht.

Man kann den Gedanken ja mal wenigstens im Kopf durch­spielen: Was wäre, wenn solch solidarisches, subversives und kooperatives Publizieren den Despoten und Zensoren welt­weit buchstäblich ihre Grenzen aufzeigte? Wenn es den Unterdrückern und Menschenrechts­feinden, sagen wir, im Iran, in China, Afghanistan oder Eritrea klarmachte, dass sich Gedanken- und Kunst­freiheit nicht dauerhaft und nie vollständig unterdrücken lassen? Wenn es ihnen – und viel wichtiger: den Bürgerinnen – vor Augen führte, dass die Repression der Gewalt­herrscher nur bis zu ihrem Einflussgebiet reicht – und auch dort nie absolut gilt?

Naive Hoffnungen? Vielleicht. Doch die Idee der «33 Bücher» ist grösser als das Projekt.

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