«Wir müssen eine offene Fehler­kultur leben, damit wir besser werden»

Polizisten im Einsatz stehen unter Beobachtung der Öffentlichkeit. Beat Oppliger, Kommandant der Zürcher Stadtpolizei, über Handy­aufnahmen von Passantinnen, den Umgang mit Fehlern und interne Konsequenzen.

Ein Interview von Brigitte Hürlimann, 18.09.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 23:03

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Herr Oppliger, auch Polizisten sind nur Menschen und machen Fehler. Was passiert, wenn Sie davon erfahren?
Wir müssen wissen, was geschehen ist. Es ist entscheidend, dass wir sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen zusammen­tragen. Wir brauchen diese Basis, wir dürfen uns nicht auf einzelne Meldungen abstützen. Im Zentrum stehen folgende Fragen: Was ist passiert? Wer hat was gemacht, wer hat sich wie verhalten?

Und wenn Sie die Informationen zusammen­getragen haben?
Dann müssen wir einordnen und die Weichen stellen. Bei schwerwiegenden Hinweisen und einem klaren Anfangs­verdacht informieren wir die Staats­anwaltschaft. In anderen Fällen ziehen wir die Kantons­polizei bei. Die Stadtpolizei ermittelt nie gegen ihre eigenen Leute. Dann gibt es Vorfälle, die von den Vorgesetzten aufgegriffen werden, wenn es keine strafrechtliche, aber möglicherweise eine personal­rechtliche Relevanz hat. Personal­rechtlich steht uns eine ganze Kaskade an Reaktionen zur Verfügung: vom Führungs­gespräch bis zur Entlassung.

Manchmal geht es um mehr als «nur» das Fehlverhalten eines Einzelnen.
Ja, wir müssen zwischen individuellen und strukturellen Fehlern unterscheiden. Das ist in der Polizei­arbeit entscheidend, damit wir die nötigen Konsequenzen aus den Fehlern ziehen. Allenfalls muss die Ausbildung angepasst werden, die Aufsicht, die Führung oder die Verhaltens­weise im Einsatz. Es reicht nicht aus, sich nur auf die unmittelbar Betroffenen zu konzentrieren. Die Polizei ist vor Fehlern nicht gefeit. Wir müssen eine offene Fehler­kultur leben, damit wir besser werden.

Zur Person

Keystone

Beat Oppliger hat im Juni 2022 das Kommando der Stadt­polizei Zürich übernommen, des drittgrössten Korps der Schweiz mit rund 1700 vereidigten Polizistinnen sowie 500 Zivil­angestellten. Der 56-jährige Jurist war bereits zwischen 2003 und 2014 in leitender Stellung bei der Stadtpolizei tätig und wechselte anschliessend in die Staats­anwaltschaft des Kantons Zürich, der er von 2014 bis 2022 als Leitender Ober­staatsanwalt vorstand.

Die entscheidende Frage ist: Erfahren Sie überhaupt von Fehlern?
Auf jeden Fall. Und die Wege sind sehr unterschiedlich. Ein Betroffener erhebt Beschwerde, es gibt Berichte in den Medien oder auf Social Media, unsere eigenen Leute machen Meldungen oder es trifft eine Straf­anzeige ein. Ihre Frage zielt darauf ab, ob alles gemeldet wird. Vermutlich nicht. Das ist aber im Strafrecht nicht anders – es ist klar, dass niemals alle Delikte gemeldet werden.

Wenn ich das Fehlverhalten eines Stadt­polizisten melden will – wie gehe ich vor?
Sie haben drei Möglichkeiten: Sie deponieren Ihre Beschwerde direkt bei uns, dafür haben wir auf unserer Website ein Feedback­management eingerichtet. Wir gehen jeder Meldung nach und geben immer eine Antwort. Wenn Ihnen das zu nahe bei der Polizei ist, können Sie sich bei der städtischen Ombuds­stelle melden. Das ist eine hervorragende Institution. Der Ombuds­mann geht unabhängig, objektiv und transparent vor, er gibt uns gute Rück­meldungen und sagt, wenn etwas nicht stimmt. Die dritte Möglichkeit ist die Straf­anzeige. Die können Sie auf einem Polizei­posten oder schriftlich bei der Staats­anwaltschaft einreichen.

Diesen Sommer gab es zwei Vorfälle, die heftige Diskussionen auslösten. Im Juni wurde an der Frauen­demo eine Teilnehmerin an den Haaren gerissen und grob zu Boden gebracht. Wenige Tage später sorgte die Verhaftung eines 11-Jährigen für Unmut. Die Stadt­polizisten drückten das Kind auf den Boden und legten es in Hand­schellen. Beide Ereignisse wurden gefilmt und auf Social Media geteilt. Wie gehen Sie damit um?
Es ist extrem, wie schnell solche Sequenzen in den Medien sind und viral gehen. Jeder und jede hat sofort eine Meinung. Bilder sagen mehr als Worte. Aber es ist unmöglich, diese Filme richtig einzuordnen, wenn man die Vorgeschichte und die Umstände nicht kennt. Seriöse Medien­schaffende melden sich bei uns und fragen nach. Sie setzen uns mit kurzen Rückmeldungs­fristen unter Druck – aber das ist ein anderes Thema. Fakt ist: Von diesem Moment an müssen wir uns mit dem Ereignis auseinander­setzen. Wir schauen uns die Bilder an, und auch wir haben Fragen. Aufgrund des medialen Zeitdrucks müssen wir schnell antworten.

Warum?
Es geht um unsere Reputation. Es ist entscheidend, dass wir unsere Sicht der Dinge zeitnah einbringen können – sobald wir über Fakten verfügen und die Ereignisse einordnen können. Wir gehen den Vorwürfen nach, wir klären das ab, wir wollen wissen, ob verhältnis­mässig und rechtmässig gehandelt wurde. Aber das braucht manchmal längere, vertiefte Abklärungen. In beiden von Ihnen genannten Fällen kam es auch zu politischen Anfragen. Wir sind gegenüber der Exekutive und der Legislative rechenschafts­pflichtig. Unsere Antworten sind noch in Bearbeitung.

Trotzdem reagieren Sie auch unmittelbar auf Vorwürfe, und zwar auf Social Media.
Wenn Falsch­angaben oder faktenwidrige Darstellungen kursieren, kombiniert mit schwersten Vorwürfen, dann müssen wir sofort reagieren. Wir haben auch gegenüber der Öffentlichkeit eine Informations­pflicht. Doch es gibt Grenzen. Wir dürfen keine Mutmassungen oder Recht­fertigungen veröffentlichen. Wir brauchen Fakten. Das muss trotz Zeitdruck sauber getrennt werden – was an Information möglich ist und was nicht.

Der Zürcher Stadtrat nimmt Stellung

Mindestens in einem Fall hat eine schnelle Reaktion der Stadt­polizei auf Social Media – konkret auf jener Plattform, die damals noch Twitter hiess – zu einem politischen Nachspiel geführt. Grund dafür war der erwähnte Einsatz am Feministischen Streiktag auf dem Parade­platz. Eine Video­aufnahme ging viral, die Empörung unter den Usern war gross, und die Stadtpolizei liess sich auf eine gehässige Twitter-Debatte ein; sie habe sich in einen Shitstorm getwittert, titelte die NZZ.

Parlamentarierinnen der AL, der SP und der Grünen erkundigten sich beim Stadtrat (der Zürcher Exekutive) erstens nach der Verhältnis­mässigkeit des Polizei­einsatzes und zweitens nach den Regeln für die «Bewirtschaftung der Social-Media-Kanäle» durch die Stadtpolizei.

Die Antworten sind letzten Donnerstag eingetroffen. Den Einsatz am Parade­platz bewertet die Stadt­regierung als rechtmässig. Es sei darum gegangen, Stahl­seile zu entfernen, die über die Zufahrts­strassen gespannt worden seien. Auch die Verhaftung der Teilnehmerin sei nötig und verhältnis­mässig gewesen. Sie habe zuvor einen Polizisten mit einem gezielten Tritt verletzt, was allenfalls den Tat­bestand der Gewalt und Drohung gegen Beamte erfülle.

Was die Twitter-Reaktionen betreffe, schreibt die städtische Exekutive, habe sich die Stadtpolizei gegen Falsch­behauptungen gewehrt. Man nehme jedoch zur Kenntnis, «dass die wiederkehrenden Richtig­stellungen auf Twitter in diesem Fall offenbar teilweise den Twitter­sturm genährt haben und die Äusserungen als Recht­fertigung aufgefasst wurden». Die Stadt­polizei habe «unmittelbar nach dem Einsatz» die Äusserungen kritisch hinterfragt und sei dran, ihre Kommunikation grundsätzlich zu prüfen – und wenn nötig anzupassen.

Sie könnten doch sagen: Das sind schlimme Bilder, wir nehmen es ernst.
Natürlich nehmen wir das ernst, wir müssen es ernst nehmen, wir stehen in der Verantwortung, es geht ums Vertrauen in die Polizei. Wir dürfen uns nicht ins Schnecken­haus zurückziehen, keinen Klüngel bilden. Ich kann es nicht genug betonen: Wir nehmen die Vorwürfe auf und klären ab, aber wir können oft nicht unmittelbar danach sagen, was passiert ist. Bei der Verhaftung des 11-Jährigen teilten wir den Medien zeitnah mit, warum es so weit kam. Das geschah nicht aus heiterem Himmel. Es gab einen Auftrag, und es war eine schwierige Situation. Glauben Sie mir, jede Festnahme, bei der Widerstand geleistet wird, sieht unschön aus.

Sind Sie froh um die Hinweise via Social Media? Oder hindert Sie das eher daran, eine gute Fehler­kultur zu leben?
Wir haben uns eine gute Fehlerkultur auf die Fahne geschrieben, das ist auch in den strategischen Zielen festgelegt. Klar, wir können uns noch verbessern, aber wir sind laufend dran, auch in den Aus- und Weiterbildungen. Wenn die Polizistinnen und Polizisten bei jeder Handlung damit rechnen müssen, gefilmt und an den Pranger gestellt zu werden, ist das für die Fehler­kultur nicht hilfreich. Das muss man ehrlicher­weise sagen. Niemand hat ein Interesse daran, ungerechtfertigt in der Öffentlichkeit angegriffen zu werden.

Erst kürzlich forderte die Präsidentin des Polizeibeamten­verbands, es sei den Passanten zu verbieten, Polizei­einsätze zu filmen.
Das ist keine Lösung. Handy­aufnahmen zu verbieten, bringt nichts. Wir müssen damit umgehen – mit professioneller Arbeit. Wir machen unseren Job, wir erklären uns, und wir stehen hin. Wir müssen es aushalten, auch einmal in einem nicht optimalen oder gar schlechten Licht dargestellt zu werden. Was nicht bedeutet, dass wir alles hinzunehmen haben. Wir erklären, was passiert ist. Doch ein Verbot wäre kontra­produktiv und nicht umsetzbar.

Wie erklären Sie das Ihren Leuten?
Ich sage ihnen, sie sollen sich so verhalten, so arbeiten, wie sie es gelernt haben. Dann kann ihnen nichts passieren, und die Vorgesetzten stehen hinter ihnen, unterstützen sie – auch, wenn Vorwürfe kommen. Handy­aufnahmen von Passanten sind Teil der heutigen Realität. Früher standen die Leute bei einem Einsatz den Polizisten im Weg und behinderten sie, da sprachen wir von Gaffern. Heute schicken Passanten ihre Videos an die Medien und bekommen ein Honorar dafür. Sie werden Leser­reporter genannt. Wir lassen uns nicht ins Bocks­horn jagen, doch jeder Polizist muss damit rechnen, aufgenommen zu werden. Auf Social Media können alle sofort etwas hochladen. Bei den Medien hoffe ich auf ein anderes Vorgehen, aber ich weiss, der Wunsch ist der Vater des Gedankens …

Äussern Sie ihn!
Die Medien müssen Verantwortung übernehmen, sprich: verifizieren, einordnen, rückfragen. Verheerend ist, wenn etwas, das auf Social Media unterwegs ist, ungefiltert als Online-Beitrag publiziert wird. Das kommt vor. Dass man bei Bildern, wie jenen von der Frauen­demonstration oder bei der Verhaftung des 11-Jährigen, Fragen stellt, ist logisch. Das müssen wir akzeptieren, es ist die Aufgabe der Medien, zu hinterfragen und zu kritisieren. Aber wenn es nahtlos und ungefiltert vom Social-Media-Kanal in den Medien landet, wird es schwierig.

Sie sagen, Sie haben eine Fehler­kultur, die laufend verbessert wird. Wie sieht das konkret aus?
Wenn wir Fehler feststellen, hat es Konsequenzen. Wir müssen einfach zuerst wissen, was Sache ist. Das wird intern abgeklärt und nachbearbeitet. Wenn wir zum Schluss kommen, dass etwas nicht gut gelaufen ist, kommt es zur erwähnten Weichen­stellung. Das ist nicht nur Theorie, das passiert tatsächlich, auch schon während meiner kurzen Zeit als Kommandant. Wir können es uns nicht leisten, irgendetwas unter dem Deckel zu halten. Das kommt immer raus. Es gibt in der Stadt Zürich genügend kritische Medien­schaffende, die den Finger genau dorthin legen würden – zu Recht.

Man hört selten davon, dass Sie streng hinschauen und ein polizeiliches Fehl­verhalten Konsequenzen hat.
Das hat mit dem Persönlichkeits­schutz zu tun. Es kommt vor, dass wir uns von Mitarbeitern trennen müssen, doch das können wir nicht kommunizieren. Weder intern noch extern. Das ist ein Dilemma. Ich wurde erst kürzlich bei einer Weiter­bildung darauf angesprochen, warum wir nicht transparenter kommunizieren würden. Dann muss ich jeweils sagen: Es geht einfach nicht. Auch die betroffenen Mitarbeiter haben Rechte.

Das heisst, auch innerhalb des Korps wollen die Leute wissen, was nach einem Fehler geschieht?
Absolut.

Nicht zuletzt auf Social Media wird öfters die Frage geäussert, warum sich die Polizei nicht einfach entschuldigt – hinsteht und sagt: Sorry, es ist schief­gelaufen.
Wenn wir nicht wissen, ob wirklich ein Fehler geschah, können wir uns nicht entschuldigen. Was eher möglich ist: ein Bedauern auszudrücken. Ein Entschuldigen bedeutet, die Schuld auf sich zu nehmen. Es gab Fälle, da mussten wir das tun, intern und extern. Wenn Polizisten zum Beispiel im Strassen­verkehr einen massiven Fahrfehler begehen, der zu Schwer­verletzten führt, gibt es nichts schön­zureden, dann braucht es eine Entschuldigung. Ein Bedauern kann man jedoch viel früher ausdrücken, dazu braucht es kein juristisches Gutachten. Da haben wir noch Verbesserungs­potenzial.

Wie gehen Sie vor, wenn es um strukturelle Probleme geht?
Wir setzen bei der Ausbildung an. Wir hören ja öfters den Vorwurf des Racial Profilings. Das ist ein wichtiges Thema in der Aus- und Weiterbildung: der Umgang mit fremden Kulturen. Es ziehen ständig neue Menschen in die Stadt Zürich, aus allen Nationen und Religionen, und es gibt ständig neue gesellschaftliche Entwicklungen. Das braucht Know-how in der Polizei, das wir intern und extern holen. Wir sind verpflichtet, unsere Leute regelmässig zu schulen. Dazu gehört übrigens auch der Umgang mit queeren Menschen. Da kann man bei der Polizei­arbeit in Fett­näpfchen treten, Fehler machen, Leute in Nöte bringen. Das können wir vermeiden. Wir haben innerhalb unseres Korps eine spezialisierte Gruppe. Das ist ein Glücks­fall. Diese Gruppe schult auch die Staats­anwaltschaft.

Sprechen Sie von Pink Cop? Dem Verein von Polizistinnen und Polizisten, der sich seit 2008 für queere Anliegen einsetzt?
Genau, sie sind von Beginn an in der Stadt­polizei vertreten und nehmen sich bei uns einer ganzen Palette von Themen an. Die Gruppe ist Anlauf­stelle und Vermittlerin für Menschen rund um die Gay-Community und darüber hinaus. Dank Pink Cop haben wir das Know-how bei uns im Haus. Es sind Kolleginnen und Kollegen, die in der Community eine hohe Akzeptanz geniessen.

Und innerhalb des Korps?
Natürlich kommt es auch zu Irritationen und kritischen Fragen, das muss möglich sein. In der Ausbildung erklären wir, warum LGBTQ+-Themen für die Polizei­arbeit wichtig sind – unter anderem wegen der Hate-Crimes. Das ist ein Straftat­bestand. Leute, die aus einem bestimmten Lokal treten, werden abgepasst und grundlos zusammen­geschlagen. Es ist unsere Aufgabe, solche Taten zu verhindern, die Menschen zu schützen; egal, wer sie sind, egal, wie sie sich geben.

Was tun Sie, wenn Polizisten diese Offenheit nicht mitbringen, solche Werte nicht mittragen?
Wir schauen bei der Auswahl der Polizisten streng darauf, offene Leute zu gewinnen, die mit der diversen Bevölkerung in der Stadt Zürich umgehen können. Das ist eine Grund­voraussetzung. Wer sich damit nicht arrangieren kann, kommt als Polizei­aspirant nicht infrage. Sollte sich die fehlende Offenheit erst im Laufe des Berufs­lebens einstellen, müssen wir das angehen; allenfalls ist ein Wechsel erforderlich. Leider haben wir viele Abgänge, sprich: Kündigungen. Das ist ein Problem. Wer mit den Heraus­forderungen der Stadt Zürich nicht mehr zurecht­kommt, findet problemlos eine neue Stelle – überall; in anderen Korps oder in der Privat­wirtschaft.

Ist der Polizeiberuf unattraktiv geworden?
Die Abgänge haben viel mit der Situation in der Stadt zu tun. Bei uns kommt es zu sehr vielen Extra­diensten ausserhalb der regulären Arbeits­zeit: Gross­ereignisse am Wochen­ende oder Demonstrationen, die kurzfristig angekündigt werden. Das können wir nicht mit den Leuten stemmen, die im Dienst sind, die brauchen wir fürs Alltags­geschäft. Wir müssen auf Mitarbeiter zurückgreifen, die eigentlich frei­hätten, die das Wochen­ende mit Familien oder Freunden verbringen wollten, private Pläne hatten. Dann kommen wir und bieten sie zur Arbeit auf. Das gehört in einem gewissen Mass zur Polizei­arbeit, aber es hat zugenommen. Bei ländlichen Korps gibt es das nicht. Das Unplanbare ist für die Mitarbeiter ermüdend und belastend.

Wie können Sie diese Situation ändern?
Wir testen ein neues Arbeits­modell, schichten die Arbeits­zeiten um, damit wir mehr Mitarbeiter am Wochen­ende zu regulären Diensten aufbieten können. Und wir brauchen mehr Leute. Der Stadtrat hat uns 152 zusätzliche Stellen zugesprochen, was das Stadt­parlament jedoch nur teilweise umsetzen will. Wir brauchen dringend mehr Stellen, weil die Bevölkerung wächst – und damit auch die Zahl der Delikte. Das konnten wir nachweisen, indem wir den Zuwachs an häuslicher Gewalt mit dem Zuwachs der Bevölkerung verglichen. Dieses Delikt nimmt nicht einfach so zu, sondern ziemlich exakt in jenem Ausmass, wie die Bevölkerung wächst.

Warum schränken Sie Ihr Aufgaben­gebiet nicht ein?
Damit haben wir angefangen. Die Regional­wachen der Stadt Zürich sind neu nicht mehr im 24-Stunden-Betrieb geöffnet. So können wir die frei gewordenen personellen Ressourcen anders und besser einsetzen.

Würden Sie das heutige Korps als divers bezeichnen?
Diverser als noch vor achteinhalb Jahren, als ich letztmals bei der Stadt­polizei gearbeitet habe. Es gibt die unterschiedlichsten Herkünfte und Hintergründe, das sieht man an der Haut­farbe und an den Namen. Das Korps wurde gemischter – aber es könnte noch gemischter sein. Wir brauchen auch mehr Frauen. Da sind wir noch nicht dort, wo wir sein wollen.

Ist der Schweizer Pass immer noch eine Voraus­setzung für den Polizeiberuf?
Ja, aber das haben nicht wir entschieden. Wir sind zwar ein kommunales Korps, unterstehen aber dem kantonalen Gesetz­geber. Früher konnte jemand, der über die Niederlassungs­bewilligung verfügte, die Polizei­ausbildung beginnen, mit dem Ziel, bis zum Abschluss der zweijährigen Ausbildung eingebürgert zu sein. Das hat der Zürcher Kantons­rat letztes Jahr geändert. Neu braucht es auch für die Ausbildung von Anfang an einen Schweizer Pass. Das ist die rechtliche Situation. Und da haben wir absolut keinen Spielraum.

Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich kann gut nachvollziehen, dass man am Ende der Ausbildung das Schweizer Bürger­recht haben sollte. Aber ich konnte auch sehr gut damit leben, dass man wenigstens am Anfang der Ausbildung Leute mit dem C-Ausweis zuliess. Aber eben, die Mehrheit des Kantons­rats sah es anders.

Was sind die Vorteile eines Polizei­korps, das divers ist?
Bei der Vereidigung der neuen Polizisten sagte ich es so: Eure Unterschiede machen uns besser. Im Ideal­fall sollte die Polizei ein Abbild der Gesellschaft sein. Das geht allerdings nur schon wegen der rechtlichen Grundlage nicht. Aber wir können uns dem Grund­satz annähern. Polizisten aus anderen Kulturen und mit anderen Hinter­gründen helfen uns als Übersetzer – nicht nur, was die Sprache betrifft. Doch die entscheidenden Kriterien bleiben immer noch die Kompetenz und die persönlichen Voraus­setzungen. Da dürfen wir keine Abstriche machen. Es wäre verheerend, die falschen Leute zur Polizei zu holen.

Zum Schluss müssen wir noch die Cop-Culture ansprechen: Wenn Polizistinnen ein Fehl­verhalten von Kollegen feststellen – können sie das melden, ohne zum Kameraden­schwein zu werden?
Es muss möglich sein. Und es geschieht auch. Aber seien wir ehrlich und realistisch: Der Spirit und der Zusammenhalt innerhalb der Stadt­polizei sind gross. Man ist aufeinander angewiesen, arbeitet im Team. Das schweisst zusammen. Wir als Vorgesetzte wünschen uns, dass Fehl­verhalten gemeldet wird. Auch wenn nicht alle Leute über eine solche Meldung begeistert sind, vor allem jene auf der gleichen Stufe nicht. Im Extrem­fall weisen wir einer Person, die einen Vorfall gemeldet hat, ein anderes Arbeits­umfeld zu, um sie zu schützen. Was wichtig ist: Unser Berufs­ethos ist hoch. Alle möchten eine gute Arbeit machen und hinter der Arbeit stehen können. Wer das nicht tut, wird heute eher gemeldet als noch vor zwanzig Jahren. Auch Berufs­einsteigerinnen wagen es, Kritik zu äussern. Und die nehmen wir ernst.

Was bedeutet ein «hohes Berufsethos»?
Ich nenne jeweils drei Werte: Fairness, Transparenz und Verlässlichkeit. Nun können Sie einwenden, das seien bloss Schlag­worte. Aber wir laden regelmässig Politiker ein, uns auf Patrouillen zu begleiten, damit sie die Polizei­arbeit direkt erleben. Die Rückmeldungen, die ich bekomme, sind mit wenigen Ausnahmen hervorragend – und zwar unabhängig von der Partei­zugehörigkeit. Das zeigt mir: Diese Werte werden gelebt.

Es ist eine clevere Idee, die Politikerinnen einzubinden.
Ich muss Ihnen von einer Rück­meldung erzählen, die ich nie vergessen werde, obwohl es schon lange her ist. Es geschah während meiner früheren Tätigkeit bei der Stadtpolizei, bevor ich Kommandant wurde. Eine Parlamentarierin, die eine kritische Haltung zur Polizei­arbeit hat, nahm an einer Patrouille teil. Danach kam sie zu mir und meinte: «Herr Oppliger, ich muss Ihnen etwas sagen. Ihre Leute haben eine Riesen­geduld und ein professionelles Auftreten. Ehrlich gesagt, dem einen oder anderen, den wir während der Patrouille trafen, hätte ich eine runterhauen können.» Da war ich nur noch baff. Gerade von ihr hätte ich eine solche Aussage nicht erwartet.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!