Sie bewegen sich zusammen und doch jeder für sich: Die Proben zu «jetzt, jetzt, jetzt» im Schauspielhaus Zürich. Laura Kaufmann

Spiel des Lebens

Wie bekommt man junge Menschen ins Theater? Indem man sie auf die Bühne holt, zum Beispiel. Über das Geschenk des zeitgenössischen Theaters und drei aktuelle Inszenierungen.

Von Theresa Hein, 08.09.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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I. Liebe, Wut und Anarchie

Ich hab gemerkt, dass ich aufblühe, wenn ich Theater mache.

Wir können hier was ausleben, was man sonst nicht so ausleben kann.

Ich führe andere Gespräche, seit ich hier angefangen habe. Ich bin aufmerksamer.

Die Sensibilität für alle um einen rum steigt.

Eigentlich macht das mega Angst, oder? Aber in der Gruppe habe ich noch nie Angst gehabt beim Proben.

Ich bin lustiger, wenn ich Theater spiele.

Spielende bei «jetzt, jetzt, jetzt», Schauspielhaus Zürich.

Sie haben lange Zöpfe mit Schleifchen oder kurz geschnittene Haare oder Stirn­fransen oder sorgsam gepflegte Bärte oder Stoppeln am Kinn oder glatte Wangen. Sie sind lang oder kürzer, kräftig oder schmal, blass oder braun gebrannt. Sie tragen Ohrringe und Armreifen, Trainings­hosen und Turnschuhe. Auf ihren T-Shirts stehen Bandnamen, «Big Thief» und «Metallica», oder Sprüche wie «Du bist ein einzigartiger Gedanke Gottes» und «Expect the worst». Oder Marken­namen oder gar nichts. Und wegen einer Sache, die sie vereint, kann man sich nicht so ganz sicher sein, welches Kleidungs­stück sie jetzt ironisch tragen und welches mit vollem Ernst – sie alle sind jung. Zwischen 17 und 25 sind die 40 Menschen, die im Schiffbau des Schauspiel­hauses Zürich für eine neue Inszenierung proben und sich über die Bühne bewegen, die schräg nach vorne abfällt.

Und wie sie sich bewegen. Als habe jemand einen Faden in ihrer Magen­grube befestigt, mit dem sie auf eine Seite der Bühne gezogen werden, bevor sie sich die Kontrolle zurück­holen, mit einer ruckartigen Bewegung in eine Drehung fallen und auf der schiefen Ebene nach vorn kippen, in die andere Richtung. Dann gehen sie in Tanzschritte über, linker Fuss nach vorn, rechter Fuss nach vorn, dann wieder linker Fuss nach vorn. Sie bewegen sich zusammen und doch jeder für sich, kaum wahrnehmbar zeitversetzt, manch eine zögert noch bei den Schritten, schaut verunsichert zu einem Kollegen: Wie genau war das jetzt noch gleich? Sie bewegen sich zu einer Klavier­komposition von Singoh Nketia und Synthie­sounds. Beeindruckend, wie wenig sie sich trotz ihrer Zahl in die Quere kommen. Die Konzentration ist sichtbar, manche haben die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, andere legen die Stirn in Falten. Am Ende verschwindet die tanzende Masse an den Bühnenrand.

Suna Gürler klatscht in die Hände, als ein paar der jungen Leute sich gleich ganz von der Bühne plumpsen lassen, Durchgang beendet. Sie setzt sich in die Bühnenmitte: Besprechung.

Suna Gürler, Regisseurin am Schauspielhaus Zürich, ist selbst 1986 geboren. Sie hat braune, schulterlange Locken und beneidenswerte Fältchen um die Augen, die sich tief eingraben, wenn sie lacht, was sie bei der Arbeit eigentlich ständig tut. An diesen Spätsommer­wochenenden probt sie mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre neue Inszenierung «jetzt, jetzt, jetzt», auf der Bühne stehen junge Profi­schauspielerinnen, Studenten oder Schülerinnen. Gemeinsam mit Yunus Ersoy (für die Dramaturgie), Alina Immoos (für die Spielleitung) und Lucien Haug (als Autor oder, wie er sagt, «für die allgemeine Betreuung») hat Gürler das neue Stück entwickelt, nicht von einem Text ausgehend, sondern aus der Bewegung heraus – die Choreografie soll im Mittel­punkt stehen. Auch bei ihren vergangenen Inszenierungen hat Gürler stets mit Schweizer Autorinnen und Autoren zusammen­gearbeitet und mit ihnen entweder neue Texte inszeniert («Bullestress» und «Ich chan es Zündhölzli azünde») oder Klassiker aktuell bearbeitet («Frühlings Erwachen»).

Oft auf Schweizer­deutsch brachten sie und ihr Team in den vergangenen Jahren Themen wie Polizei­gewalt, Rassismus und Menschen­feindlichkeit auf die Bühne, aber auch grundlegende Emotionen des Jungseins: so viel Liebe. So viel Wut.

«jetzt, jetzt, jetzt», Schauspielhaus Zürich. Laura Kaufmann

Dargestellt wurde das fast ausschliesslich von jungen Menschen. Gürler brachte Jugendliche aufs Parkett und die Ränge voll mit allen Altersgruppen – kaum eine ihrer Inszenierungen war nicht ausverkauft. Kritik und Publikum waren begeistert, sogar im zweiten, besonders schleppenden Corona-Jahr 2021, als eigentlich niemand für irgendwas zu begeistern war.

Es ist die letzte Spielzeit der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg am Schauspiel­haus Zürich. Die Intendanten haben sich am Haus für junges Theater eingesetzt wie kaum jemand im grossen Stadttheater­betrieb, die Jugendclubs des Schauspielhauses sind weit über die Stadt­grenzen hinaus bekannt.

Einer der ersten Schritte der Intendanz bestand darin, die Sparten­trennung aufzuheben: Junge Schauspiel­bühnen sind, auch wenn sie an ein grosses Haus angegliedert sind, oft abgetrennt vom Spiel­betrieb. Manchmal ist das nicht schlecht, weil es einen geschützten Arbeits­kosmos ermöglicht, aber es lässt die jungen Inszenierungen auch aussen vor. Am Schauspiel­haus in Zürich sagen sie: Fuck it. Und für das junge Ensemble um Suna Gürler geht es mit «jetzt, jetzt, jetzt» nicht wie bei den letzten Inszenierungen in den Schiffbau. Sondern noch einmal mitten ins Herz des Schauspiel­hauses: den Pfauensaal.

Bei «jetzt, jetzt, jetzt» ist es leider ein bisschen schwieriger zu sagen als bei anderen Stücken, worum es genau geht, weil es so wenig Text gibt. Man muss aus den Bewegungen herauslesen, wovon das Stück handelt. Es sind mehrere Gefühle, die die Spielenden hier ausdrücken. Was beim Publikum ankommen soll, das ab Ende September den jungen Tänzerinnen im Pfauen zuschauen kann?

Vielleicht, dass man Teil von einem ist. Sie sind Teil von dem, was sie anschauen, von der Masse.

Ich fänds noch nice, wenn das Publikum rausläuft und nicht weiss, ob es weinen oder lachen soll.

Dass sie alles spüren, was man in Beziehungen spüren kann, ausgeschlossen und alleine sein, und dann wieder ein Miteinander, alles, was geht.

Empathie. Empathie für unsere Sicht. Und für andere Ansichten.

Ich bin da ein bisschen skeptisch, weils um das Pfauenpublikum geht. Ich hab da so eine anarchistische Energie. Ich würde sie gerne es bitzli rüttle.

Spielende bei «jetzt, jetzt, jetzt».

II. Gut, böse und Vertrauen

Eine junge Frau mit rötlichen Haaren steht in einer Trainings­hose und einem Schlabber-T-Shirt auf der Bühne und blickt ins Publikum. Sie erzählt uns, wie sie vor Hunger in ein kleines Lebensmittel­geschäft eingebrochen ist. Wie sie mit einem Stein das Fenster eingeschlagen hat und mit einem Stock die restlichen Scherben aus dem Rahmen schlug. Wie sie sich beim Hinein­klettern die Fersen aufschürfte, wie sie in Panik eine grosse Tasche von neben der Kasse griff und blind alles hineinwarf. Wie sie hektisch durch das Fenster den Laden verliess, wie sie wegrannte, weil im Haus die Lichter angingen, wie sie panisch aus dem Dorf und über die Felder lief, bis sie sich irgendwo einiger­massen sicher fühlte, eine Tafel Schokolade in sich hineinstopfte und dann – einschlief.

Bei der Szene mit dem Stock und dem Stein wird die Schauspielerin vom Regisseur unterbrochen. «Stell dir vor, du wärst komplett fremdgesteuert, wie so ein Sims – du hast das nicht geplant.»

Die Schauspielerin nickt. Der Regisseur erzählt aus seiner Kindheit, wie er einmal einen Stein warf, auf eine Hütte, wie sich das angefühlt hat. Fremd­gesteuert. Nicht wie der Junge, der er eigentlich war. Zumindest haben Verhalten und Selbstbild nicht so zusammen­gepasst, ein bisschen wie bei der Protagonistin Isa im Theater­stück. Die Schauspielerin nickt, im nächsten Durchlauf spricht sie die Worte des Kindes, das sie spielt, anders, aber nicht so, wie der Regisseur es vorgemacht hat.

Es ist ihre eigene Version des Fremdgesteuert­seins: ein Stock, ein Stein. Plötzlich ein eingeschlagenes Fenster.

Der Regisseur heisst Marin Blülle, er ist 27 Jahre alt, die Schauspielerin heisst Kriemhild Hamann und ist 26. Blülle inszeniert an der Bühne Aarau «Bilder deiner grossen Liebe» des vor zehn Jahren verstorbenen Autors Wolfgang Herrndorf, es ist seine erste Regie­arbeit. Er und Hamann kennen sich von ihrer Zusammen­arbeit am Staats­schauspiel Dresden. Die beiden sind jung, aber sie sind nicht die Jüngsten, die sich an diesem Tag bei der Probe in der Reithalle Aarau befinden. Da sind auch noch die Tänzerinnen, zum Beispiel Ann-Sophie, die 8 Jahre alt ist. Und Kyora. Sie ist 5.

Zu dem, was Hamann als Isa auf der Bühne mit ihrer schönen, minimal kratzigen Stimme erzählt, sehen wir Kyora, Ann-Sophie und Ted Stoffer, Kyoras Vater, ein professioneller Choreograf, tanzen. Oder eher: sich bewegen. Sie klettern auf Leitern, huschen hinter aufgehängte Leintücher, spielen Fangen und turnen aufeinander herum wie Akrobatinnen. Zwischen den Mädchen sind es die Bewegungen von Kindern, die miteinander spielen, selbst­verständliche Bewegungen, die wir zwar beobachten, an denen wir als Erwachsene aber nie so teilhaben könnten. Zwischen Kyora und Ted sind es Bewegungen grossen Vertrauens, eines unschuldigen, aber körperlichen Spiels eines Vaters und seiner Tochter, die sich balgen. Es sind Bewegungen, die Nähe voraussetzen.

Nähe, das wissen wir Zuschauerinnen, weil wir es gehört, gelesen oder selbst erfahren haben, kann oft missbraucht werden. Gerade das Wissen darum, dass diese Nähe zerbrechlich ist, und darum, wie oft sie kaputt­gemacht wird, macht das Betrachten der Bewegungen von Kyora und ihrem Vater zu etwas Kostbarem. Es ist alles so selbst­verständlich und doch überhaupt nicht:

Papa. Tochter. Ein grosser und ein kleiner Arm, die sich festhalten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der man als junger Mensch oft handelt, im Moment denkend, nicht gleich an Konsequenzen, hat Wolfgang Herrndorf in «Bilder deiner grossen Liebe» auf jeder Seite festgehalten. Die Möglichkeit einer eindringenden Gefahr, die den zerbrechlichen Zustand zerstören kann, schwebt über allem. In der Inszenierung in Aarau lässt die Musik von Miles Zuberbühler das Publikum mit tiefen Basstönen im Unbestimmten, die Klänge geben uns nicht vor, was wir zu fühlen haben. Sie wickeln uns aber auch nicht ein. Bei jedem fremden Mann, dem die 14-jährige Isa begegnet, wollen wir ihr zurufen: «Lauf weg, nimm dich in Acht.» Oft muss sie sich wirklich in Acht nehmen. Andere Menschen wiederum sind einfach gut.

Woher weiss man, was gut und wer böse ist?

Vielleicht muss man einfach seinen eigenen Weg gehen, wie Isa es in «Bilder deiner grossen Liebe» tut, einem als Roadtrip angelegten Jugend­roman, und hoffen, dass man sich selbst dabei nicht verloren geht. Die Schau­spielerinnen und Tänzer auf der Bühne in Aarau zeigen uns stellvertretend mit ihren zarten Bewegungen, wie schwierig dieser Weg ist, obwohl er Kindern oft so einfach scheint. Und wie einfach er sein könnte, wenn man ein bisschen mehr Grund zu vertrauen hätte.

Bewegungen auf der Bühne Aarau, die Nähe voraussetzen … Bühne Aarau
… in der Inszenierung von Wolfgang Herrndorfs «Bilder deiner grossen Liebe». Bühne Aarau

Vertrauen ist ein wichtiges Stichwort für den Regisseur Blülle. Er hat versucht, den Eltern der Kinder so viele Informationen über den Proben­prozess zu geben wie möglich, die Eltern waren am Tag des Auswahl­workshops dabei und können jederzeit bei den Proben zusehen. Hinter mir sitzen an diesem Probentag Kyoras Mutter und ihr Bruder. «Ich, ein männlicher Regisseur, der mit sechs Mädchen auf der Bühne arbeitet, jemand, der keine pädagogische Ausbildung hat – natürlich habe ich mir voll den Kopf gemacht», erzählt Blülle. «Was für Fragen kommen da auf mich zu?»

Am Ende musste das Team feststellen, dass es sich mehr Gedanken gemacht hatte als manche Eltern. «An dem Tag, an dem wir die Infoblätter verteilt haben, hat nur eine einzige Person eines mitgenommen. Fragen kamen überhaupt keine. Das hat uns fast ein bisschen schockiert.»

«Bilder deiner grossen Liebe» ist nicht immer ein einfacher Stoff, der Tod spielt eine grosse Rolle. «Aus Erwachsenen­sicht ist das Thema Tod ja beinahe ein Tabu. Aber man merkt, wenn man mit dem Herrndorf-Text arbeitet, dass er auf eine Weise geschrieben ist, dass auch Kinder einen Zugang dazu finden, der sie nicht verstört. Gleichzeitig geht es um absolutes Lebendigsein», sagt der Regisseur.

Wie sieht das also im übertragenen Sinne aus, das Lebendigsein, das der Autor Herrndorf nicht nur beschrieb, sondern, als bei ihm 2010 ein Gehirn­tumor diagnostiziert worden war, ins Zentrum seines Schreibens rückte?

Es ist vor allem ein Zusammenspiel zwischen den Kindern und der erwachsenen Schauspielerin. Es wirkt leicht und spielerisch, obwohl alle unterschiedlich alt sind, obwohl die Bühne für die einen Arbeit ist und für die anderen eine Freizeit­beschäftigung am Nachmittag. Die jüngeren Mädchen haben denen, die schon zur Schule gehen, dabei geholfen, sich auf der Bühne zurecht­zufinden, weil es ihnen wegen ihres Alters einfacher fiel – sie haben schnell begriffen, dass es nicht darum geht, etwas «richtig» zu spielen. Sondern zu spielen. Ich sehe, wie Kyora und Ann-Sophie in den Pausen, wenn sie nicht an der Reihe sind, kichern und auf der Bühne umher­rennen. Kyora spricht Englisch, Ann-Sophie Schweizerdeutsch. Kyoras Vater, der Tänzer Ted Stoffer, folgt meinem Blick und sagt leise zu mir: «Sie müssen nicht dieselbe Sprache sprechen. Sie können miteinander spielen.»

III. Piraten, Klima und Krach

Dass Theater nicht explizit als Jugend­theater deklariert sein muss, um Jung und Alt gleicher­massen anzusprechen, weiss man auch am Theater Basel. Es ist eine von mehreren Missionen von Anja Dirks, der Co-Leiterin der Sparte Schauspiel. Wer die Frau einmal sieht, der bringt sie gut mit dieser Mission zusammen: Dirks besitzt im Gespräch eine entwaffnende Direktheit, die in der Schweizer Kultur­landschaft ungewohnt sein mag, aber nicht unangenehm heraussticht. Sie setzt sich auch deswegen für neue und manchmal eigens für das Haus geschriebene Stücke ein, weil zeitgenössische Texte, wie sie findet, ein paar entscheidende Vorteile haben: «Auf eine gewisse Art kann man Themen, die aktuell relevant erscheinen, in jungen Texten viel freier verhandeln.» Sie überlegt und schiebt dann grinsend hinterher: «Ausserdem muss man sich nicht so damit rumquälen, dass es in klassischen Texten nur so wenige für Frauen geschriebene Rollen gibt.»

Das Theater Basel ist seit Jahren auch durch die Zusammen­arbeit mit dem «jungen theater basel» dafür bekannt, Generationen zusammen­zubringen. «Dämonen» zum Beispiel, eine Zusammen­arbeit von Boris Nikitin und Sebastian Nübling, war ein beeindruckender Abend mit jungen Menschen, die ihre Innenwelt nach aussen kehrten und von einer wilden Nacht in der Stadt ins Theater hineintrugen. Die Produktion kam auf die Shortlist des Berliner Theater­treffens, eine Einladung dorthin gilt als die vielleicht wichtigste Ehre der gesamten deutsch­sprachigen Branche.

Im Theater Basel werden schon seit Jahren Generationen zusammengebracht: Proben zum Stück «Little Ice Age». Pati Grabowicz

Einer, der dort mitgespielt hat, ist der 1993 in Basel geborene Julian Anatol Schneider, der heute bei den Proben zu «Little Ice Age» auf der Bühne steht, und zwar als Pirat.

«Little Ice Age», ein Stück über eine unserer heutigen Umwelt­situation gar nicht so unähnliche Klima­katastrophe, hat die 26-jährige Dramaturgin und Autorin Marthe Meinhold über den Sommer hinweg mit dem Komponisten Marius Schötz, 34, geschrieben. Grob zusammen­gefasst geht es um Heraus­forderungen der Natur angesichts des veränderten Klimas (nur dass es im Stück ein paar Grad kälter wird und nicht wärmer), es geht ums Weltende und den Kapitalismus und darum, wie Menschen – und manchmal auch speziell Schweizerinnen – mit diesen Problemen umgehen. Oder im Umgang versagen. Damit die schweren Themen nicht zu sehr drücken, hat sich der Komponist Songs dazu ausgedacht.

Es ist die zweite Inszenierung in dieser Konstellation in Folge, das «Narrenschiff» aus der letzten Spielzeit war ein Publikums­renner.

Im Probenraum in Basel spielt Schötz auf dem Klavier, während Julian Anatol Schneider, der Pirat, ein Schiff entert. Auf dem Schiff befindet sich eine Reihe von Spekulantinnen und Spekulanten, die angesichts der eingetretenen Eiszeit ihr schönes Schiff versenken wollen, um noch rasch die Versicherungs­summe abzugreifen. (Dass sie dabei selbst ertrinken werden, kümmert sie nicht, oder sie denken nicht so weit.) Menschen, die das Schiff versenken, auf dem sie reisen – es ist eine schöne, wenn auch etwas offensichtliche Metapher für die Klima­katastrophe, in der wir uns heute befinden.

Aber glücklicherweise hat der Text viel Humor – der Pirat kann sich nämlich nicht so recht entscheiden, ob und wie er die Menschen, die er gerade überfallen hat, abmurksen soll. Den Abzumurksenden wiederum dauert das alles zu lange. In der Schweiz, sagen sie, sei man schon mehr Effizienz gewohnt, und so treiben sie den Piraten mit ihren Kommentaren in die Verzweiflung.

Meinhold und Schötz, die beiden massgeblichen Köpfe hinter «Little Ice Age», interessieren sich für Situationen, von denen man als Beobachterin zu wissen meint, wie sie ausgehen, und dann nehmen sie aufgrund der beteiligten Menschen eine andere Wendung. Ihre Konzentration liegt also auf dem, was passiert, sobald man sich in einer Gruppe befindet. Es ist ein kluger Ansatz, der nicht nur bei Jüngeren viel Anklang finden dürfte: «Alleine», erklärt Marius Schötz, sei man nicht besonders handlungs­fähig. «Viel besser kann man gemeinschaftlich, mit einer Überzeugung etwas bewegen.»

Wer bei diesem Satz an Klima­demonstrationen denkt, denkt schon mal nicht verkehrt.

Meinhold und Schötz sind so konsequent, den Gruppen­gedanken bereits im Arbeits­prozess anzuwenden – der Text wird nicht komplett in einer unabänderlichen Fassung den Darstellenden vorgesetzt, sondern in wochenlanger Arbeit gemeinsam entwickelt. Bis zur Premiere nimmt er immer noch neue Wendungen. An dem Tag zum Beispiel, an dem die Republik bei der Probe zusehen darf, gibt es eine wesentliche Veränderung der Schlussszene.

«Damit das funktioniert, müssen wir einander zuhören, wir müssen bereit sein, Meinungen auszuhalten, die vielleicht nicht so in unser vorgefertigtes System passen», sagt Marthe Meinhold, die vorwegschickt, sie sei selbst ein bisschen harmonie­süchtig. Dieser Gedanke aus dem Entstehungs­prozess findet sich auch im Text wieder: In der letzten Szene von «Little Ice Age» unterhalten sich ein paar Vögel darüber, wie man denn nun am besten singen sollte. Besonders die Amsel ist genervt – dass alle sich immer so gut verstehen, geht ihr gegen den Strich:

Amsel: (...) wir reden aber nie drüber, wir streiten uns nie. Wir sagen: Ich kann deine Meinung nachvollziehen, ich möchte sie ergänzen mit meiner Meinung. Aber wir kommen nie zum Clash, wo mal ein Streit stattfindet zwischen uns. (...)

Marthe Meinhold und Marius Schötz: «Little Ice Age».

Streit, sagt aber die Amsel, sei ein Teil unserer Welt:

Guck dich doch mal um. Unser Zeitalter ist mega finster, es gibt Mord und Totschlag, Ungerechtigkeiten ohne Ende, die ganze Menschheit stösst an ihre Grenze. Schrecklich!

Die Amsel fragt sich, ob es nicht öfter mal krachen müsste, damit sich etwas tut, und mit dem Vogel­gesang und dieser Frage entlässt «Little Ice Age» das Publikum. Die Inszenierung, so die Hoffnung, soll man mit der ganzen Familie besuchen können, in der Alters­beschreibung steht «für Menschen ab 10».

Am 21. September ist Premiere: «Little Ice Age» in Basel. Pati Grabowicz

Für Meinhold und Schötz ist das neu, für ein so junges Publikum haben sie noch nie Sprech­theater gemacht. Die Dramaturgin sagt, sie habe das Gefühl, Jugend­theater werde von den grossen Häusern oft «wegsortiert und Theater für Kinder erst recht. Natürlich gibt es immer Angebote, je grösser die Stadt, desto mehr Möglichkeiten, aber ich habe schon das Gefühl, dass wirklich liebevolles Kinder- und Jugend­theater mit Anspruch immer noch eine Seltenheit ist.»

Wie die Amsel sagen würde: Damit man vorwärts­kommt, muss es halt auch mal zum «Clash», zum Zusammen­stoss, kommen dürfen.

IV. Epilog

Ich hoffe, dass die Leute merken, das ist das Schauspielhaus auch. Wir sind auch Teil von dem.

Jascha, 17 Jahre alt, Teil des Ensembles von «jetzt, jetzt, jetzt».

Anders, als man meinen könnte, ist es für Künstlerinnen nicht einfacher, mit jungen Erwachsenen, Jugendlichen oder sogar Kindern zusammen­zuarbeiten. Oder für sie eine Möglichkeit zu schaffen, ans Theater zu kommen. Hinter den Inszenierungen steckt monatelange Vorbereitung, der Organisations­aufwand ist enorm, für alle Abteilungen – von der Konzeption über die Programm­planung bis zur Publikums­arbeit. Die Regisseurin Suna Gürler am Schauspielhaus Zürich sagt, das betreffe aber nicht nur das Thema Alter, sondern auch das Thema Diversität. «Wenn man eine Monokultur aufbrechen will, ist das immer eine wahnsinnige Arbeit. Das schafft man als Einzelne gar nicht.»

Überall dort, wo man sich getraut und den Aufwand nicht gescheut hat, könnte das Ergebnis eine ziemliche Wucht werden.

In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass die Produktion «Dämonen» ans Berliner Theater­treffen eingeladen war. Dies ist nicht korrekt, aber sie hatte es zumindest auf die Shortlist geschafft. Die Stelle ist angepasst.

Zu den Inszenierungen

Noch bis Sonntag, 10. September: «Bilder deiner grossen Liebe», Bühne Aarau. Ab 14 Jahren.
Ab Donnerstag, 21. September: «Little Ice Age», Theater Basel. Ab 10 Jahren.
Ab Donnerstag, 28. September: «jetzt, jetzt, jetzt», Schauspielhaus Zürich. Ab 14 Jahren.
Alle Inszenierungen eignen sich auch für ältere Menschen.

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