Bis Ende 2019 war das AKW Mühleberg in Betrieb, seither wird es zurückgebaut. Peter Klaunzer/Keystone

Das Ende der Welt ist nicht in Mühleberg

Geht die Welt unter? Oder gibt es auch Zukünfte, die nicht lähmen? Auf der Suche nach Antworten in Mühleberg, wo Zentimeter für Zentimeter die Vergangenheit abgebaut wird – mit einem klaren Plan für das, was kommt.

Von Anna Dreussi, 30.08.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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In das Buch, das ich immer mit mir herumtrage, kritzle ich alles, woran ich mich erinnern möchte. Zwischen Einband und erster Seite klemmen mein Pillen­rezept und ein U-Bahn-Ticket. Und auf der ersten Seite steht: «Das Ende der Welt atmet uns in den Nacken.» Ich frage mich, ob sich andere Generationen auch so fühlten. Vielleicht ist es etwas inhärent Menschliches, sich Sorgen zu machen, überall einen doppelten Boden zu erwarten. Aber für mich fühlt es sich anders an. Wie Krise zu nah gepresst an Alltag, wie der Welt­untergang und das Pillen­rezept geklemmt zwischen Einband und Buchseite.

Auf Instagram scrolle ich durch Videos. Eine Aufnahme von Tischen am Rand des Meers, das Wasser schwappt sachte über die Steine. In weissen Buchstaben steht auf dem Video: «You are destined to spend the summer in Greece with the first person who comes up when you press share.» (Du bist dazu bestimmt, den Sommer in Griechenland mit der ersten Person zu verbringen, deren Name erscheint, wenn du auf Teilen drückst.) Und im Fernsehen brennt Rhodos. Der Alltag und die Krise liegen nah beieinander.

Vielleicht haben wir uns schon ein bisschen damit abgefunden. Mit dem Ende der Welt.

«Wer würde Kinder in diese Welt setzen?» ist ein Satz, der in meinem Freundes­kreis fast beiläufig fällt, ohne Empören, als hätten wir uns schon darauf geeinigt: Zukunft ist etwas für Millionäre mit Hybris und Plänen für Mars­expeditionen, für die, die den schmelzenden Permafrost als Chance für neue Handels­wege bezeichnen, für Klimaanlagen­hersteller.

Die Gegenwart gibt uns die schleichende Ahnung, dass wir auf keinem guten Weg sind. Die letzten Jahre fühlten sich an wie schnelles Klicken durch die Krisen­diashow. Auf dem Bauch liegende Covid-Patientinnen an Beatmungs­geräten in Bergamo, die AfD mit 20 Prozent bei einer Umfrage, neue Hitze­rekorde, in Italien eine Postfaschistin als Minister­präsidentin, Tote an den EU-Aussen­grenzen und europäische Gleich­gültigkeit, Maui brennt. Kanada brennt. Teneriffa brennt. Griechenland brennt.

Von hier aus sieht Zukunft kahl aus, wie verkohlte Baumkronen, und sie wird verhandelt von reaktionären Wissenschafts­leugnern, die ihre Gefolgschaft mit Wutreden gegen den Genderstern anstacheln und Pride-Flaggen verbieten. Das Gefühl des drohenden Welt­untergangs ist überwältigend.

Gibt es auch Zukünfte, die nicht lähmen?

Antworten suche ich an einem Ort, der mit einer Zukunft rechnet. An einem Ort, an dem es einen Plan gibt für die Zukunft.

Das Atomkraftwerk Mühleberg wurde im Dezember 2019 stillgelegt. Seitdem wird es zurückgebaut, als erstes AKW der Schweiz. 2034 soll das Areal wieder neu genutzt werden können.

7.02 Uhr, Zug von Zürich nach Bern. Danach S-Bahn. Sie lädt mich bei einem Einkaufs­zentrum ab. Brünnen Westside. Der Bus, der mich ins Dorf Mühleberg bringen soll, hat Verspätung. Ich habe Schluckauf. Ich halte die Luft an. Die Strasse von der Halte­stelle zum AKW hat kein Trottoir.

Als ich für mein Bachelor­studium in ein anderes Land zog, standen mein Vater und ich vor dem Studierenden­wohnheim und mein Vater suchte im Internet nach einer Karte mit den Standorten der nächsten Atomkraft­werke. Vielleicht aus Sorge. Ich lernte, dass ich nun alt genug war, um neben Atomkraft­werken zu wohnen. Erwachsene haben eine kleine Tüte im Schrank hängen, in der sie gebrauchte Batterien sammeln, Erwachsene haben einen eigenen Briefkasten. Erwachsene denken ans Toiletten­papier. Erwachsene wohnen neben Atomkraft­werken. Für die Generation meines Vaters standen Atomkraft­werke noch für den Weltuntergang. Die radioaktive Wolke von Tschernobyl über der Schweiz, keine Nüsse oder Pilze.

Neben mir hält ein schwarzes Auto. «Wir haben doch gleich einen Termin.»

Stefan Klute, Gesamt­projektleiter der Stilllegung, fährt mich die letzten 900 Meter zum Kernkraftwerk. Das Auto ist gross, eins, mit dem man mit Kindern in die Ferien fährt und in dem man Kühl­taschen mit gestapelten, geschmierten Broten zwischen Beinen und Vordersitz einklemmt.

Bei der Eingangstür wartet der Presse­sprecher. Er fragt mich, ob ich einen Laptop dabeihabe. Ich schüttle den Kopf. «Zum Glück. Den könntest du nämlich nicht mit reinnehmen.»

In einem Neben­zimmer muss ich meinen Finger auf eine Scheibe drücken, bis grüne Lichter aufleuchten. Mit einem Besucher­ausweis in der Hand führt mich der Presse­sprecher zur Dosimetrie. Auf dem Weg wünscht uns ein Mann mit Hummer-Tattoo auf der Schulter einen guten Morgen.

Ich bekomme zwei Dosimeter, zwei Geräte, die die Strahlung messen sollen, der ich ausgesetzt sein werde. Eins, das die Daten für den Bund misst, und ein digitales für das Kernkraftwerk.

«So wissen wir: Wo kriegt wer welche Dosis», erklärt Stefan Klute. «Die Strahlung, der wir bei unserem Rundgang ausgesetzt sind, ist jedoch minimal. Bei einer Flugreise ist sie um ein Vielfaches höher.»

Eine Frau von der Dosimetrie bringt mich in die Umkleide. Sie gibt mir ein blaugraues T-Shirt und gelbe Socken.

«Willst du auch eine Trainerhose?»

So muss ich nicht nur in Unterhose und T-Shirt weitergehen.

«Gerne.»

Ich lege meine Taschen und Kleider in ein Schliessfach. Die Frau zeigt auf meine Kette.

«Willst du die auch hier lassen?» Alles, was im Kernkraftwerk kontaminiert wird, kann man nicht wieder rausnehmen.

In Trainerhose gehe ich einen Gang entlang und werde zu einer Maschine gelotst. Ich strecke meine Arme aus und umarme den grauen Kasten und drücke auf beiden Seiten auf einen Knopf. Die Maschine verkündet, dass kein Verdacht auf Inkorporation festgestellt wurde.

Der Weg in das Atomkraftwerk wird unterbrochen durch mehrere Sicherheits­schleusen, die Koordination erfordern. Meine Hände sind viel zu voll mit den Dosimetern, Ausweis, Schliessfach­schlüssel. In einem Durchgang soll ich mich zwischen zwei Türen stellen und mein digitales Dosimeter in ein Fach schieben. Dann öffnet sich die Tür und ich darf passieren. Auf der anderen Seite der Tür ziehe ich Schuhe, Helm und einen dunkel­blauen Anzug an. Dann noch eine Tür. Auf der anderen Seite treffe ich Stefan Klute und den Presse­sprecher, die über den Eingang für Männer die sogenannte kontrollierte Zone des Kernkraftwerks betreten haben.

Ich denke daran, dass hier drin radioaktives Material ist, das es so viel länger geben wird als mich. Hier sieht Zukunft anders aus. Vielleicht fühlt sich sonst der Weltuntergang so nahe an, weil wir ständig damit konfrontiert sind, dass nichts so bleibt. Vor ein paar Wochen spielte in einem Club eine Band und redete von New York und alle rauchten. Draussen regnete es. Und ich dachte, so muss es auch in New York riechen. Ein Typ behauptete, mich zu kennen, und beteuerte, dass wir mal zusammen LSD genommen hätten. Und ich dachte, dass sich in New York alle so kennen. Und dann dachte ich an den Permafrost und an das Meer. Und an das sinkende New York, an Wasser in den U-Bahn-Schächten, an schwimmende Wallstreet-Aktentaschen. Nichts bleibt.

Als Erstes gehen wir ins Maschinenhaus. Hier standen Generatoren und Turbinen, bevor es entkernt wurde. An der Wand hängt eine Schweizer Bahnhofs­uhr. Die Lüftung rauscht. Mit Duct-Tape und Sprayfarbe in Magenta werden Rohre und Systeme gekenn­zeichnet, die ausser Betrieb genommen wurden und deshalb abgebaut werden können. So beginnt der Rückbau.

Der Prozess ist in vier Schritte geteilt. Auf die Ausserbetrieb­nahme und Demontage folgen Nach­zerlegung sowie Material­behandlung und dann, als Letztes, die Entsorgung oder Freimessung. Dabei werden die Einzelteile auf Radio­aktivität kontrolliert. Nach der Ausserbetrieb­nahme wird zum Beispiel ein Rohr abgebaut und aufgeschnitten. Die Oberflächen werden gereinigt. Damit das Material später weiter genutzt werden kann, wird jeder Zentimeter der Oberfläche auf Kontamination geprüft. Natürlich ist dieser Prozess nicht bei allen Materialien möglich. Ein Staubsauger könnte zwar aufgeschraubt werden, hat aber eine so verwinkelte Oberfläche, dass eine Freimessung einen unverhältnis­mässig grossen Aufwand bedeuten würde. Solche Geräte oder Materialien werden entsorgt.

Hier ist der Weg in die Zukunft nicht abstrakt. Für mich aber schon. Meinungstexte gegen Klima­aktivistinnen, nicht erreichte Klimaziele, Abstimmungen gegen Klima­initiativen. Vielleicht wissen es die siebzigjährigen Ärmel­hochkrempler besser. Die verweichlichte Generation klebt sich auf der Strasse fest, weil sie nicht arbeiten will. Sie spricht über Climate-Anxiety und erfindet «Quiet Quitting», statt Frauen das Stimmrecht zu verweigern und in die Auto­industrie verliebt zu sein. Ich wünschte, die Ärmel­hochkrempler hätten recht. Aber wahrscheinlich nicht.

Mein Helm verrutscht bei jeder Stufe. Die erste Etage ist mit «+16m» angeschrieben, so hoch liegt sie. Die Beine meines Anzugs sind zu lang. Mit einer Hand halte ich meinen Helm, mit der anderen ziehe ich meine Hosenbeine hoch.

Stefan Klute sagt, ich solle mich am Geländer festhalten. «Achtung enthält Asbest» steht auf der Tür am Ende der Treppe. Das Becken, in dem die Wärme­leistung der Brenn­elemente abklingen soll, Marken­zeichen eines AKW, können wir heute nicht anschauen. Diese Brenn­elemente werden soeben für den Transport ins Zwischen­lager vorbereitet.

Ich stellte mir das Atomkraftwerk unbehaglich vor, voller unsichtbarer Gefahren. Aber hier bin ich trotzdem ruhig. Schilder, Aufschriften, das Dosimeter, auf dem die letzte Ziffer irgendwann von 0 auf 2 springt, versichern mir aber, dass sie da sind: Asbest, radioaktive Strahlung, polyzyklische aromatische Kohlen­wasserstoffe, polychlorierte Biphenyle. Und ich muss an letzte Woche in der Badi denken.

Mein Handy lag auf meinem Bauch und ich dachte an SAR-Werte und an mein erstes Handy. Badegäste sprangen in den Fluss und ich stellte mir vor, wie die Strahlung in meinen Körper eindringt. Ich stellte mir vor, dass meine Organe aussahen wie zusammen­geknülltes Zeitungs­papier, wie die Lungen auf Zigaretten­packungen. Aber hier zwischen den Bergen an Metall auf dem dichten Boden, durch den nichts sickern kann, habe ich keine Angst.

Hinter einer Glasscheibe trägt ein Mann einen gelben Anzug. Tenü­vorschrift IV. Mit einem Hochdruck­reiniger wäscht er Einzelteile. Sein Schutzanzug schützt ihn vor dem Wasserstrahl, der mit einer solchen Geschwindigkeit aus dem Schlauch schiesst, dass er ihm eine Wunde ins Bein schneiden könnte.

Dieser Ort funktioniert nach eigenen Regeln. «Hier ist alles verboten, was nicht explizit erlaubt ist», sagt Stefan Klute. Manche Bereiche sind in einer anderen Schutzzone. Wenn wir in Handschuhe schlüpfen und Überschuhe über die Sohle ziehen, können wir sie betreten. Mit den Über­schuhen soll dann nur der Boden auf der Seite der anderen Schutzzone berührt werden. Beim Verlassen balanciere ich auf einem Bein, während ich mir den Schutz vom rechten Schuh ziehe. Unsere Handschuhe streifen wir in einen Wäschekorb. Alle Arbeits­kleider, die im Kernkraft­werk getragen werden, werden mittlerweile von einer Wäscherei für radioaktives Material gewaschen.

Irgendwo schreien Sägen. Auf einem Schild steht: «Irrenanstalt. Betreten auf eigene Gefahr. Mit Belästigungen muss gerechnet werden.» Stefan Klute zeigt mir ein Rohr, durch das das Flusswasser geleitet wurde. Mir ist zu heiss unter meinem Anzug. Das Radio läuft, während drei Mitarbeiter mit einem Messgerät Zentimeter für Zentimeter die Oberfläche eines Stücks Metall testen.

Während hier Zentimeter für Zentimeter Zukunft freigemessen wird, ist die Zukunft, die ich mir ausmale, überfordernd. Im Internet scrolle ich durch Tweets zu Pushbacks vor der griechischen Küste, lese, dass Alaska 2040 so warm sein könnte wie Florida, ist die Autobahn in Sizilien gesäumt von Flammen. Alles gut ist nur in den Strand-Influencer-Videos und Reels von Daal-Rezepten. Von Infokacheln über Giorgia Meloni kann ich weiterscrollen auf Videos, die eine Welt malen, in der alles stimmt. Eine Welt, in der wir alle den Dyson-Erben geheiratet haben. Wir leben im 77. Stockwerk eines Gebäudes, weil wir es geschafft haben. Die Hitze, die über dem Asphalt flimmert, haben wir schon ewig nicht mehr gesehen. Wir sind ganz oben. Tausende Klimaanlagen pusten uns kühle Brisen ins Gesicht. Uns ist nie zu warm.

Wenn es um Kernkraftwerke geht, gibt es einen Planungs­horizont. Hundert­tausende Jahre werden radioaktive Abfälle gelagert werden müssen. Der Radio­aktivität wird mit Pragmatismus und Systematik begegnet. Diesen Umgang wünsche ich mir auch für die Klimakrise, für alle Krisen. Zukunft verhandeln, Zentimeter für Zentimeter. Ich will weiter an den Weltuntergang denken. Es ist wichtig.

Der Pressebeauftragte fährt mich zurück nach Bern. Das Ende der Welt ist nicht in Mühleberg.

Zur Autorin

Anna Dreussi ist freie Journalistin und gehört der Autoren­agentur Hermes Baby an. Sie arbeitete für das Online­magazin «Vice» und schreibt unter anderem für den «Spiegel», «Zeit Online» und den «Standard».

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