Verbissen

Die Polizei macht mit Hunden Jagd auf Sprayer. Die Verletzungen sind gravierend, Regeln für den Einsatz gibt es kaum.

Von Basil Schöni (Text) und Jörn Kaspuhl (Illustration), 22.08.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Stellen Sie sich vor, ein Hund rennt auf Sie zu. Er wiegt 25 Kilo und kommt mit etwas Anlauf auf eine Geschwindigkeit von fast 50 Stunden­kilometern. Es ist ein Schäfer­hund, und er ist darauf trainiert, zuzubeissen.

Als die Polizei um die Ecke kam, sind Sie instinktiv losgerannt. Doch nun haben Sie den Hund bemerkt. Sie halten an und heben die Arme. «Ich ergebe mich», sagen Sie. Doch der Hund rennt weiter auf Sie zu.

Er erwischt Sie, bohrt seine Zähne in Ihren Unter­schenkel und verbeisst sich darin. Sie schreien. Und Sie bluten.

Dann kommen mehrere Uniformierte hinzu. Einer greift den Hund am Halsband und zieht ihn weg. Erst dann löst sich das Gebiss von Ihrem Bein.

Man nimmt Sie fest und bringt Sie ins Spital. Dort stellen die Ärzte eine rund zehn Zentimeter grosse, stark klaffende Rissquetsch­wunde sowie zwei stichförmige Wunden fest; beide haben einen Durchmesser von rund einem Zentimeter und sind etwa anderthalb Zentimeter tief. Ihre Verletzungen werden genäht. Sie erhalten Schmerz­mittel und Antibiotika für sieben Tage.

Wenn Sie Fieber entwickeln oder sich Ihr Allgemein­zustand verschlechtert, sagen die Ärztinnen, sollten Sie erneut den Notfall aufsuchen. Dann bestehe Verdacht auf eine Infektion der Bisswunde, was dringende medizinische Versorgung erfordere. Es drohen bleibende Gewebe­schäden, Verlust von Gliedmassen und im schlimmsten Fall eine lebens­gefährliche Blutvergiftung.

Das alles erlebte im November 2021 der damals 24-jährige Andreas Steiger, der eigentlich anders heisst. Er hatte Glück. Die Bisswunde verheilte gut, es kam zu keiner Infektion. Der Grund, warum die Polizei einen Hund auf ihn losgelassen hatte, war Farbe. Er hatte einen Zug besprayt.

Ähnlich erging es in den letzten zwei Jahren vier weiteren jungen Männern, mit denen die Republik sprechen konnte und die ebenfalls anonym bleiben wollen. Sie alle wurden von der Polizei verdächtigt, gesprayt zu haben. Alle fünf versuchten zu flüchten oder sich zu verstecken. Keiner von ihnen war gewalttätig. Und trotzdem wurden sie von einem Diensthund der Kantons­polizei Bern in Arme, Beine oder Brust gebissen.

Bei einem von ihnen infizierte sich die Wunde. Er wurde notfall­mässig operiert und verbrachte eine Woche im Spital. Ohne die Operation hätte er wohl einen Arm verloren.

Ein Freipass im Gesetz

Dass die Polizei Diensthunde gegen Menschen einsetzen darf, ist in den kantonalen Polizei­gesetzen geregelt. Wobei «geregelt» zumindest für den Kanton Bern kaum der richtige Ausdruck ist. Denn das Wort «Hund» kommt im Berner Polizei­gesetz kein einziges Mal vor. Die Polizei beruft sich stattdessen auf Artikel 132 des Gesetzes:

Die Kantonspolizei kann zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben unmittelbaren Zwang gegen Personen, Tiere und Sachen anwenden und geeignete Einsatz- und Hilfsmittel einsetzen.

Hunde seien dabei als «geeignete Einsatz- und Hilfsmittel» zu betrachten, teilt die Kantons­polizei Bern der Republik auf Anfrage mit. Im Gesetz ist damit bloss geregelt, dass die Polizei Hunde gegen Menschen einsetzen darf. Unter welchen Umständen, bleibt offen.

Das ist auch in anderen Kantonen so. Weder in Zürich noch in Luzern oder im Aargau regeln Polizei­gesetze und -verordnungen, wann und wie Diensthunde eingesetzt werden dürfen. Und auch dort kam es zu Fällen, bei denen flüchtende Personen gebissen wurden.

Dabei ginge es auch anders. Im österreichischen Waffengebrauchs­gesetz beispielsweise ist eindeutig geregelt, wann die Polizei mithilfe von Dienst­hunden einen Menschen festnehmen darf. Erlaubt ist das nur bei Notwehr, bei gewaltsamem Widerstand oder wenn die vorgeworfene Tat mit mehr als einem Jahr Freiheits­strafe bedroht ist.

Für eine einfache Sachbeschädigung (bis 5000 Euro Schaden) sieht das österreichische Strafgesetz­buch eine Höchst­strafe von sechs Monaten vor. In zwei der fünf Berner Fälle beträgt der verursachte Schaden weniger als 5000 Franken; bei einem streiten sich die Parteien noch um die genaue Höhe.

In Österreich wären diese Festnahmen mit Hunde­einsatz somit illegal gewesen.

Weil das Gesetz in Bern derart schwammig ist, hat die Republik gestützt auf das Öffentlichkeits­gesetz den internen Dienstbefehl verlangt, der den Einsatz von Polizei­hunden regelt. Das erhaltene Dokument wird aber nur wenig konkreter als der Artikel im Polizei­gesetz. Bloss eine einzige Passage betrifft den Einsatz von regulär ausgebildeten Polizeihunden gegen Menschen:

Die Hundeteams werden eingesetzt bei Verhaftung gefährlicher Personen.

Die Berner Staats­anwaltschaft warf keinem einzigen der fünf Betroffenen ein Gewalt­delikt oder eine Drohung vor. Sind mutmassliche Sprayer, die sich einer Polizei­kontrolle entziehen wollen, schon «gefährliche Personen»?

Darauf will die Medienstelle der Kantonspolizei Bern keine konkrete Antwort geben. Die Auflistung im Dienstbefehl sei nicht abschliessend, schreibt sie auf Anfrage. Der Einsatz von Dienst­hunden stütze sich immer auf den Einzelfall und das Verhältnismässigkeits­prinzip.

Es gibt also ein Gesetz, in dem das Wort Hund nicht vorkommt. Und einen Dienstbefehl, der sehr allgemein gehalten ist. Konkrete Regeln hingegen, wann die Polizei einen Hund auf einen Menschen loslassen darf, die gibt es nicht.

Drei Tage vor der Amputation

Matthias Bruggmann war 25 Jahre alt, als er in einer August­nacht 2022 im bernischen Laupen einen Zug besprayte. Er war noch nicht fertig, als er zwei Polizisten mit Taschen­lampen bemerkte, die sich ihm näherten. Er rannte los, quer über einen Feldweg, und versteckte sich im flachen Wasser eines nahe gelegenen Flusses hinter einem Gebüsch. Etwa anderthalb Stunden verharrte er dort.

Dann hörte er einen Hund.

Er blieb im Wasser liegen. Plötzlich war der Hund da, rannte einmal um ihn herum und biss dann zu. Wie ein Schraub­stock hielt er seinen Unterarm fest. Ein Schraub­stock mit Zähnen. Bruggmann ergab sich. «Nehmt ihn weg», rief er den heran­nahenden Polizisten zu. Er müsse warten, bis sie bei ihm seien, erwiderten diese.

Die Polizei brachte Bruggmann ans Flussufer und forderte einen Kranken­wagen an – das ist Vorschrift, wenn ein Diensthund einen Menschen beisst. Nach etwa 15 Minuten traf die Ambulanz ein.

Im Spital desinfizierten und verbanden die Ärztinnen die Verletzung. Eine Röntgen­untersuchung schloss Knochen­brüche und Fremd­körper in der Wunde aus. Mit einer Starrkrampf­impfung, Antibiotika und Schmerz­mitteln wurde er entlassen.

Bereits am nächsten Morgen war sein Arm stark angeschwollen. Nach zwei weiteren Tagen kam eine Rötung hinzu. Bruggmann fragte in einer Apotheke um Rat. «Sofort auf den Notfall», hiess es. In einer Walk-in-Praxis am Bahnhof Bern sagte man ihm: «Sofort ins Inselspital.»

Dort diagnostizierten die Ärzte eine Infektion mit Bakterien aus dem Hundemaul und dem Flusswasser – wobei der besonders aggressive Erreger jener des Hundes war. Bruggmann wurde noch am gleichen Tag operiert.

Die Ärztinnen schnitten seinen Arm auf, entfernten das durch die Infektion abgestorbene Gewebe und spülten die Wunde. Wegen der starken Schwellung konnte die Verletzung nicht zugenäht werden. Das geschah erst einige Tage später in einer erneuten Operation. Insgesamt verbrachte Bruggmann sieben Tage im Inselspital.

Die Ärzte sagten ihm: Wäre er zwei oder drei Tage später gekommen, hätte man den Arm womöglich amputieren müssen.

«Der Faktor Zeit ist bei der Behandlung von Hundebissen sehr wichtig», sagt Sabrina Jegerlehner, Oberärztin an der Universitäts­klinik für Notfall­medizin im Berner Inselspital. «Es ist wichtig, die Wunde so schnell wie möglich zu reinigen und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um das Risiko von Komplikationen zu minimieren.»

Zu diesen Komplikationen zählen primär Infektionen, die nach etwa fünf Prozent der Hundebisse vorkommen. In deren Folge können zudem Abszesse, abgestorbenes Gewebe und tiefe Narben­bildungen auftreten, die zu einer bleibenden Bewegungs­einschränkung in den betroffenen Körper­teilen führen können. Im schlimmsten Fall droht eine lebens­bedrohliche Blutvergiftung.

Doch auch ohne Komplikationen können Hundebisse erhebliche Folgen haben. «Sie führen zu Haut­verletzungen, aber auch tiefere Wunden mit Zerstörung der Muskulatur und der Sehnen sowie Verletzungen von Gelenken und Knochen können auftreten», sagt Jegerlehner.

In jedem Fall werden Hundebisse mit Antibiotika behandelt, um das Risiko einer Infektion zu senken. Je nach Impfstatus ist eine Auffrischung des Starrkrampf­schutzes angezeigt.

Einen Monat mit offenen Wunden

Auch Christian Steffen und Dominik Rossi hatten sich versteckt, bevor sie von einem Schäfer­hund der Polizei gebissen wurden.

Im Sommer 2021 hatten sie in Interlaken einen Zug besprayt. Als sie die nahenden Beamten bemerkten, rannten sie in ein sumpfiges Feld. Mehr als eine Stunde verging. Dann wurden sie entdeckt. Ein Ruf ertönte: «Halt, Polizei!» Die beiden rannten davon.

Zuerst wurde Steffen gebissen. Er stürzte, kurz bevor der Schäfer ihn eingeholt hatte. Der Hund rannte an ihm vorbei, Steffen raffte sich auf. Dann drehte das Tier um, sprang ihn an und biss ihn in die Brust. Das ist bemerkenswert, denn eigentlich werden Diensthunde darauf trainiert, in Arme und Beine zu beissen. Das bestätigt die Kantons­polizei Bern auf Anfrage.

Als die Beamten bei Steffen ankamen, schickten sie den Hund dem flüchtenden Rossi hinterher. Nach einem kurzen Sprint wurde dieser eingeholt. Der Hund biss ihn zweimal in den Oberschenkel.

Beide Verletzten wurden zuerst auf den Posten und auf Anraten der hinzu­gezogenen Sanität schliesslich ins Spital gebracht. Steffens Brust­verletzung musste nicht genäht werden. Doch zwei Jahre später bleibt ihm eine Narbe, die immer noch juckt.

Gravierender war der Biss in Rossis Oberschenkel. Das grösste Loch, das die Zähne des Schäferhundes hinterlassen hatten, war drei Zentimeter tief. Ein Hautfetzen, der lose vom Oberschenkel hing, musste zuerst wieder angenäht und schliesslich ganz entfernt werden. In die tieferen Verletzungen wurden kleine Schläuche gelegt, die verhinderten, dass die Wunden sich schliessen.

Über einen Monat lang lebte Rossi mit offenen Bisswunden am Oberschenkel. Alle paar Tage musste er ins Spital, um die Wunden auszuspülen, damit sie sich nicht infizierten. Es dauerte fast drei Monate, bis sein Oberschenkel vollständig verheilt war. Geblieben sind mehrere Narben. Und Angst, jedes Mal, wenn er einem Schäferhund begegnet.

Gegenüber «20 Minuten» bezeichnete ein Sprecher der Kantons­polizei Bern die Verletzungen der beiden Männer als «leicht».

«Es ist schon okay, dass die Cops Hunde haben», sagt Rossi heute. «Bei Bewaffneten, bei Gewalt­delikten oder Geisel­nahmen ergibt es ja Sinn, sie einzusetzen. Aber wir bedrohen keine Leute, wir verletzen niemanden – wir machen Kunst. Am Schluss ist irgendwo etwas Farbe dran. Da ist es doch nicht nötig, Kampf­hunde einzusetzen.»

Ich will es genauer wissen: Wie findet ein Polizeihund einen Menschen?

Alle Diensthunde der Polizei sind in der Lage, mit ihrer Nase Menschen aufzuspüren. Woran sie sich dabei orientieren, hängt von der Ausbildung des Hundes ab.

Zur Grundausbildung jedes Schutzhundes gehört es, einer Fährte zu folgen. Als Fährte bezeichnet man hier eine Spur auf sogenannt «verletzbarem» Boden, das heisst auf Waldboden, einer Wiese, einem Acker oder Ähnlichem. Läuft ein Mensch über solchen Boden, zerdrückt er immer wieder Kleinst­tiere. Diese strömen darauf einen Geruch aus, dem der Hund folgen kann. Auf asphaltiertem Boden fehlen diese «Verletzungen». Dort kann der Hund keine Fährte aufnehmen.

Bei Personen­spürhunden, den sogenannten Mantrailern, ist die Situation anders. Diese speziell ausgebildeten Tiere stützen sich nicht auf zerdrückte Kleinst­tiere, sondern auf die Tausenden Hautpartikel, die ein Mensch jede Minute verliert. Diese Haut­partikel werden von Bakterien zersetzt, wobei ein Gas entsteht. Der Hund kann dieses Gas wahrnehmen und verfolgen. Dadurch kann er dem Geruch einer Person sogar auf asphaltiertem Boden folgen und diese aus Tausenden anderen Gerüchen herausfiltern, die gleichzeitig auf den Hund einwirken.

Die Polizei widerspricht der Polizei

Was Rossi «Kampfhund» nennt, heisst bei der Polizei offiziell «Schutzhund» und bildet gemeinsam mit den Spürhunden das Diensthunde­wesen der Schweizer Polizeien. Rein rechtlich ist ein Hund ein «Einsatz- und Hilfsmittel» wie jedes andere im Arsenal der Polizei. Im Unterschied zu einem Schlagstock, einem Taser oder einer Schusswaffe ist ein Hund aber ein Lebewesen, das selbst­ständig handelt und entscheidet.

Umso wichtiger ist es, dass die Hunde­führerinnen ihre Tiere jederzeit unter Kontrolle haben. Wie weit das tatsächlich möglich ist, darüber macht die Polizei widersprüchliche Angaben, wie die ersten beiden geschilderten Fälle von Andreas Steiger und Matthias Bruggmann zeigen.

Steiger ergab sich der Polizei, als er den Hund bemerkt hatte. Trotzdem biss ihn das Tier in den Unter­schenkel. Bei der polizeilichen Einvernahme rund einen Monat später fragte er die Beamten, weshalb sie den Hund nicht zurück­gerufen hätten. Er sei zu diesem Zeitpunkt ja weder geflüchtet noch gewalttätig gewesen. Die Antwort der Beamten: Man könne den Hund nicht mehr zurück­pfeifen, wenn man ihn einmal losgelassen habe. Die Kontrolle sei erst wieder gegeben, wenn der Hunde­führer physischen Kontakt zum Hund habe.

Ähnlich tönte es bei Bruggmann, dem jungen Mann, dessen Wunde sich infiziert hatte. Der Hund hatte sich in seinem Unterarm festgebissen. Bruggmann ergab sich und forderte die Polizisten auf, den Hund wegzunehmen. Er müsse warten, bis sie bei ihm seien, erwiderten diese. Nach der Festnahme sagte auch ihm die Hunde­führerin: Der Hund lasse erst los, wenn sie ihn am Halsband halte.

Doch sowohl die Medienstelle der Kantons­polizei Bern als auch der Chef des Diensthunde­zentrums der Kantons­polizei Zürich sagen das exakte Gegenteil.

«Der Gehorsam auf Distanz ist Teil der Prüfung des Schweizerischen Polizeihundeführer-Verbands, die jede Polizei in der Schweiz einmal pro Jahr durchführt», sagt Jörg Guggisberg. Er leitet das Diensthunde­zentrum in Dübendorf, wo die Hunde und Hunde­führerinnen der Kantonspolizei Zürich ausgebildet werden. «Bei dieser Prüfung ist der Hund mit einem Scheintäter konfrontiert. Zuerst muss er diesen mit einem Biss stellen. Dann auf Kommando sofort loslassen. Darauf folgt eine Bewachungs­phase. Am Schluss muss der Scheintäter unbehelligt davonlaufen können, und der Hund muss zum Hundeführer zurück. Das alles passiert, ohne dass der Hundeführer den Hund berührt.»

Die Kantonspolizei Bern schreibt auf Anfrage: «Grundsätzlich ist es auf eine für den Hund hörbare Distanz möglich, dass der Diensthund durch ein verbales Kommando der Diensthunde­führerin von der Person ablässt und so zurück­gerufen werden kann.» Das sei aber auch immer vom Einsatz und von den örtlichen Umständen abhängig.

Wie passt das zu den Aussagen, die die Kantons­polizisten gegenüber Andreas Steiger und Matthias Bruggmann gemacht haben?

«Generell äussern wir uns nicht zu allfällig gemachten Aussagen von Mitarbeitenden, da wir die genaue Situation vor Ort nicht kennen und auch nicht wissen, in welchem Kontext diese Aussagen entstanden sind», schreibt die Medienstelle der Kantons­polizei Bern. Grundsätzlich könne der Hund schon durch ein verbales Kommando dazu gebracht werden, den Biss zu lösen. Wenn er aber losgeschickt wurde und noch nicht bei der flüchtenden Person angelangt sei, könne man den Hund nicht zurückrufen.

Einer wehrt sich

Steiger, Bruggmann, Steffen und Rossi wurden inzwischen per Strafbefehl verurteilt. Alle vier wegen Sach­beschädigung und Hinderung einer Amtshandlung, manche noch wegen Neben­delikten wie der Übertretung gegen das Eisenbahn­gesetz. Verhängt wurden Geldstrafen, manche bedingt, und Bussen.

Alle vier akzeptieren den Entscheid. Eine fünfte Person, mit der die Republik sprechen konnte, bestreitet die Vorwürfe. Gegen Philipp Jordi, wie wir die Person hier nennen, läuft ein Verfahren. Er selbst hat nun die verantwortliche Polizistin angezeigt.

Jordi war in einer Dezember­nacht 2022 in einem ruhigen Stadtberner Quartier unterwegs. Als er einen Streifen­wagen vorbei­fahren sah, versteckte er sich hinter einem Auto. Die Polizei hielt an, Jordi rannte davon. Wieso er das tat, will er aufgrund des laufenden Verfahrens nicht sagen. Etwa fünf Minuten dauerte der Sprint durch das Quartier. Dann blieb er in einem Innenhof stehen.

Plötzlich spürte er einen Schmerz im rechten Unterschenkel. Er hatte den Hund nicht bemerkt, weder bei der Flucht noch unmittelbar bevor das Tier zupackte. Nach dem ersten Biss liess der Hund kurz los, dann biss er sich in Jordis Wade fest. Wie die Hunde­führerin später in ihrem Rapport schrieb, habe sie den Hund auf ihn losgelassen, weil die Beamten ihm «zu Fuss nicht schnell genug folgen konnten».

Jordi wurde festgenommen und auf den Polizei­posten gebracht. Gut anderthalb Stunden verbrachte er dort, bis ihn die Polizei auf Anraten der Sanität ins Spital brachte. Die Biss­verletzung wurde geröntgt und gereinigt. Er wurde für zwei Wochen krank­geschrieben, durfte das Bein nicht belasten und konnte wegen der Verletzung mehrere Module an der Uni nicht abschliessen. Bis heute plagen ihn Albträume.

Unterdessen hat er Strafanzeige gegen die Diensthunde­führerin eingereicht. Wegen versuchter schwerer Körper­verletzung, Amtsmissbrauch und Tätlichkeit. «Von mir ging keine Gefahr aus, ich war nie aggressiv», sagt er heute. «Und trotzdem verletzten sie mich so. Das ist doch nicht verhältnismässig.»

Das Ganze sei für ihn zudem eine Doppel­bestrafung: Die Gesundheits­kosten und der Lohnausfall, den er wegen des Bisses auf sich nehmen musste, seien mehr als zweimal so hoch wie die Strafe, die ihm im laufenden Verfahren drohe.

Rechtsanwalt Dominic Nellen vertritt Jordi in dieser Sache. Aus seiner Sicht setze die Kantons­polizei Diensthunde generell viel zu leichtfertig ein: «Das Problem bei Polizei­hunden ist, dass sie schlecht steuerbar sind und schwere Verletzungen verursachen können.» Das habe er schon bei anderen Klienten beobachtet, die auch von Polizei­hunden gebissen wurden.

Jordis Fall findet er besonders stossend: «Mein Mandant war in einem Hinterhof. Es kann nicht zulässig sein, in dieser Situation einen Hund auf eine Person zu hetzen.»

Immer härter

Fünf Gebissene in anderthalb Jahren. Ob das mehr ist als früher, ist schwierig zu sagen, denn die Kantons­polizei Bern gibt auf Anfrage nur die Zahlen von 2019 bis 2022 heraus. In diesen Jahren wurden vier, zwei, sechs und acht Menschen von Polizei­hunden gebissen. Wie schwer sie dabei verletzt wurden, lässt sich ohne Kenntnis der medizinischen Unterlagen nicht beurteilen.

Die Zahlen der Vorjahre will die Polizei nicht bekannt geben. Diese Fälle seien nicht elektronisch, sondern nur in Papier­form vorhanden: «Die entsprechenden Zahlen müssten mit grossem Aufwand einzeln im Archiv erhoben werden.»

In der Berner Sprayer­szene ist es jedenfalls ein Novum, dass die Polizei Hunde auf Verdächtige loslässt. «Hunde­einsätze gab es vorher nie», sagt dazu Bruggmann, der junge Mann, dessen Biss­verletzung sich infiziert hatte. «Nach den zwei Verletzten von Interlaken dachten alle so: ‹Das ist richtig mies, die hatten Pech.› Doch dann wurden immer mehr Leute gebissen. Ich bin überzeugt, dass das ein Strategie­wechsel ist.»

Die Kantonspolizei Bern bestreitet das: «Diensthunde werden bereits seit längerer Zeit bei Anhaltungen von flüchtenden Personen, so etwa auch von Sprayern, eingesetzt.»

Ob Strategiewechsel oder nicht: Wenn die Polizei zur Bekämpfung von Sach­beschädigungen schwere Verletzungen in Kauf nimmt, wie sie durch Hundebisse entstehen können, stellt sich die Frage der Verhältnis­mässigkeit.

Dieser Rechts­grundsatz ist in Artikel 5 der Bundes­verfassung verankert. Was Verhältnis­mässigkeit für den polizeilichen Alltag bedeutet, definiert die Kantons­polizei Bern in ihrem internen Dienstbefehl zu «Zwangsmitteln» (wozu ein Diensthund gehört, wenn er gegen Menschen eingesetzt wird).

Diesem zufolge muss der Einsatz eines Zwangs­mittels vier Kriterien erfüllen: Er muss erstens erforderlich und zweitens geeignet sein, es muss sich drittens um die «mildeste taugliche und verfügbare Massnahme» handeln, und die zu erwartende Beeinträchtigung darf viertens in keinem Miss­verhältnis zum beabsichtigten Erfolg stehen.

In der Praxis legt die Polizei diese Bedingungen sehr weit aus, was in der Vergangenheit immer wieder zu Diskussionen führte. So wurden besetzte Häuser mit Antiterror-Einheiten durchsucht, bewilligte Demos präventiv abgefilmt oder unter Helikopter­einsatz blockiert, und mehrere Polizei­korps rüsteten auf Gummi­geschosse um, die schwerste Verletzungen verursachen können.

«Am Ende ist es eine Frage der Relation», sagt auch Bruggmann, der in Laupen einen Zug besprayte. «Ich habe eine Sach­beschädigung begangen, dazu stehe ich. Aber deswegen einen Hund auf mich loszulassen, was mich fast einen Arm kostete – das war nicht verhältnismässig.»

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