Ich schreibe euch von Damaskus

Der syrische Autor Khaled Khalifa ist derzeit als Stipendiat im Literaturhaus Zürich zu Gast. In diesem Essay erzählt er vom Leben in seiner kriegs­zerstörten Heimatstadt.

Von Khaled Khalifa (Text) und Larissa Bender (Übersetzung), 30.05.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Aufräumen, was zerstört wurde: Blick aus einem Wohnhaus ausserhalb von Damaskus im November 2020. Louai Beshara/AFP/Keystone

Dezember 2022. Vor ein paar Tagen habe ich eine Einladung des Literatur­hauses Zürich erhalten, sechs Monate in dieser wunder­schönen Stadt zu verbringen, sechs Monate fernab meines Lebens in Damaskus. Wenn ich daran denke, wie ich alles für den anstehenden Winter organisieren soll, fühle ich mich verloren. Die Kälte steht vor der Tür und es herrscht ein umfassender Mangel. Und dennoch zögere ich eine Weile, bevor ich die Einladung annehme. Trotz der Kälte, des Hungers, der unzureichenden Transport­mittel und der Hoffnungs­losigkeit fällt es mir sehr schwer, Damaskus zu verlassen. Und bevor ich tatsächlich abreise, muss ich euch schreiben, wie es sich in Damaskus, an diesem Ort der Verzweiflung, lebt:

Im Februar 2022 erliess die syrische Regierung eine Amnestie für politische Gefangene. Ein paar Tage später wurden einige wenige Häftlinge aus der Haft entlassen und in Saidnaya, das nur wenige Kilometer von dem gleich­namigen, berühmt-berüchtigten Gefängnis entfernt liegt, ihrem Schicksal überlassen. Männer in zerrissener Kleidung und mit eingefallenen Augen. Männer, die durch die Hölle gegangen waren; anders kann man sie nicht beschreiben, mit ihren ausgemergelten Körpern und ungläubigen Blicken, die sich plötzlich erneut dem unmöglichen Leben gegenüber­sahen. Die Leute aus dem Ort trauten ihren Augen nicht und boten ihre Hilfe an, damit die Freigelassenen zu ihren Familien in den verschiedenen syrischen Städten reisen konnten.

Nach Jahren in der Hölle fanden sich die Gefangenen plötzlich in einem Land wieder, das sich tiefgreifend, ja vollkommen verändert hatte. Alles im heutigen Syrien ist anders geworden, Syrien gleicht nicht mehr dem Land, das es vor zehn Jahren gewesen ist. Es besteht nur noch aus Trümmern, und alle warten darauf, dass es seinen letzten Atemzug tut, um begraben zu werden.

Am darauffolgenden Tag passierte Erstaunliches. Überall begannen die Menschen in den sozialen Netzwerken Hinweise auf Orte zu verbreiten, wo angeblich die nächsten Freilassungen stattfinden sollten, und alle verfolgten gierig diese Meldungen, auch wenn sie gelogen waren. Denn ausser einer illusorischen Hoffnung ist den Syrern nichts geblieben.

Als einer dieser Orte wurde die Präsidenten­brücke in Damaskus genannt. Innerhalb von kürzester Zeit verwandelte sich die ganze Stadt in einen einzigen grossen Wartesaal, und die Anzahl der Wartenden verdoppelte sich danach stündlich. Zehntausende strömten aus anderen Städten herbei, in alten, klapprigen Bussen kamen sie an, bis der Platz restlos überfüllt war. Doch sie fanden niemanden. Auf ihre Angehörigen wartend, schliefen die Menschen in den Strassen, unter der Brücke und auf den Bürger­steigen und waren nicht bereit, den Ort wieder zu verlassen, bevor ihre Lieben kämen.

Als schliesslich ein paar Freigelassene auftauchten, deren Anzahl einige Dutzend nicht überstieg – die Gesamtzahl der Entlassenen bei einer Amnestie betrug niemals mehr als ein paar hundert –, hielten ihnen verzweifelte Mütter Fotos ihrer Söhne entgegen. Die Freigelassenen, die vom Wahnsinn, vom Verlust ihres Gedächtnisses und Verstandes gezeichnet schienen, warfen einen kurzen Blick auf die Tausenden von Fotos und setzten ihren Weg fort, wenn sie erkannt hatten, dass die Person mit dem Foto in der Hand nicht zu ihrer Familie gehörte. Die Familien waren auf der Suche nach irgendeiner Nachricht über ihre Kinder, und die Freigelassenen suchten nach ihren Familien oder nach jemandem, der ihnen half, sie wiederzufinden.

Die Aufregung in der Stadt, in der man auf die Entlassung von etwa zweihundert­tausend Vermissten oder eine Nachricht über ihr Schicksal wartete, hielt für ein paar Tage an. Es war unvergesslich. In dieser Zeit tauschten sich die Menschen über ihre abwesenden Söhne aus und öffneten erneut die Wunden, die niemals heilen werden. Der Stadt, die stolz darauf ist, der älteste bewohnte Ort der Welt zu sein, wird die Erinnerung an diese wenigen Tage ihrer Geschichte für immer bleiben.

Stromunterbruch, für Licht sorgt eine Batterie: Friseurgeschäft in Damaskus im September 2021. Yamam al Shaar/Reuters
Spaziergang in Ruinen: Duma in der Agglomeration Damaskus im März 2021. Omar Sanadiki/Reuters

Es fällt mir schwer, den Schmerz der Syrer über ihre Verluste zu beschreiben.

Einige Tage später wurden die Zusammen­künfte unter der Brücke verboten, und die Syrerinnen verstanden, dass die angebliche Amnestie eine Lüge war, wie viele andere Beschlüsse der Regierung auch, die den Wundschorf abkratzten und die Wut der Menschen noch vergrösserten.

Das Land versank – traurig, verletzt und verzweifelt – wieder in tiefen Schlaf, während die Menschen in ihren kalten Wohnungen über das Schicksal der Verschwundenen diskutierten, die nicht zurück­kehren würden.

Jeden Morgen bereiten sich die Syrer darauf vor, neue Gruppen von glücklichen jungen Männern und Frauen zu verabschieden, die einen Studienplatz, einen Job oder die Genehmigung zur Familien­zusammen­führung in Deutschland oder einem anderen europäischen Land erhalten haben, was für das Gros der Syrerinnen schier unmöglich ist. Für die restlichen jungen Leute verkaufen die Familien ihr Hab und Gut oder leihen sich Geld, um sie nach Erbil oder Beirut oder sonst einen Ort zu schmuggeln, an dem noch Syrer aufgenommen werden, verbunden mit dem Ratschlag, nicht in das Land zurück­zukehren, das sich in eine Ruine verwandelt hat, wie sie nicht einmal T. S. Eliots «Waste Land» beschreiben kann.

Ich schreibe diese Zeilen, um euch zu berichten, dass ich inmitten dieser Zerstörung lebe, inmitten dieser Hölle. Ich weiss nicht, ob ich froh oder traurig darüber bin, wütend oder zufrieden. Alles, was ich weiss, ist, dass ich hier und jetzt keine Zeit habe, über das Glück nachzudenken, wie andere Menschen es tun. Seit Ewigkeiten wurde ich nicht zu einer Hochzeit oder einer Party eingeladen, täglich nimmt die Trauer zu. Wir wissen nicht mehr, was wir mit unserem Leben anfangen sollen und ob der Tod nicht eine Lösung für unseren Schmerz wäre.

Immer wieder beobachte ich die langen Schlangen vor den Bäckereien; vier oder fünf Stunden in kalten Winter­nächten warten, um ein paar Fladen Brot zu ergattern. Und doppelt so lang für den Erwerb von Benzin. Als ich mich das letzte Mal anstellen wollte, um Benzin zu kaufen, bereitete ich mich gut vor. Ich stand um sechs Uhr auf und packte einen Skizzen­block, zwei Bücher und eine Thermos­flasche Kaffee ein. Dann reihte ich mich in die Schlange ein und teilte mit den Armen meiner Stadt die morgendlichen Gespräche über die Teuerungen und die Möglichkeiten, das Land zu verlassen.

Nachdem ich vier Stunden gemalt und gelesen hatte, gelang es mir, zwanzig Liter Benzin zu erstehen. Ich hatte vier Skizzen gezeichnet, eine davon von einem Mann, der mich aufgefordert hatte, nicht jedem, der es wollte, meinen Platz in der Schlange zu überlassen. Er arbeitete als Träger und Fahrer eines kleinen, klapprigen Suzuki. Ich bat ihn, sich still hinzustellen, damit ich ihn während des Wartens malen könne; die Idee gefiel ihm, und er warf sich lächelnd in Pose. Dann erzählte er mir von seiner Familie, tadelte mich, weil ich nicht verheiratet war, und bot mir seine Hilfe bei der Suche nach einer passenden Braut an. Ich lachte und dankte ihm. Schliesslich bemerkte ich, dass ich, als ich sein Porträt anfertigte, in Wirklichkeit Jesus Christus gemalt hatte. Ich fragte mich: Wer trägt heutzutage sein Kreuz, wenn nicht die Syrer? Jeder Syrer ist zu Jesus Christus geworden. Zugleich konnte ich nicht leugnen, dass das Warten eine Beleidigung war und man sich Jesus Christus nur als einen Erlöser vorstellen konnte, der uns bei der Über­windung dieser Katastrophe nicht würde helfen können.

Ich schreibe diese Zeilen aus Damaskus, der Stadt der Warte­schlangen, in der der Krieg kein Ende nimmt; der Stadt, die auf unsichtbaren Schichten von grenzenloser Trauer lebt.

Vor neun Jahren habe ich Damaskus zum ersten Mal in vollkommener Dunkelheit gesehen. Es waren nur wenige Stunden, aber sie waren unglaublich. Damals schrieb ich, der Anblick einer dunklen Stadt sei Ausdruck grenzenloser Verzweiflung. Ich fuhr mit dem Auto durch die Strassen und wartete mit anderen an den Checkpoints, die bis heute in der ganzen Stadt verstreut sind. Ich wollte die Dunkelheit mit Händen greifen und konnte kaum glauben, einen solchen Moment zu erleben. Als ich einige Stunden später in meine Wohnung kam, die Richtung Südwesten über die Stadt blickt, war ich erneut betroffen von dem Anblick. Die ganze Stadt war in Finsternis gehüllt, von meiner Wohnung im äussersten Norden der Stadt bis hin zum Flughafen. Abgesehen von ein paar Lichtern der Kranken­häuser oder den Gebäuden der Geheim­dienste, wo man über Strom­generatoren verfügt, war die Dunkelheit umfassend.

Seit etwa vier oder fünf Jahren nimmt die Dunkelheit täglich zu. Aber sie fasziniert nicht mehr, sondern ist zu einer Realität geworden. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, sie mit Händen zu greifen, sondern muss einfach nur achtgeben, nicht in ein Loch zu stürzen und mir die Knochen zu brechen. Das ist keineswegs lustig. Mein Freund Dr. Bashar Al-Mir Ali, ein renommierter Orthopäde der Stadt, hat mir erzählt, am Ende des letzten Winters sei kein einziges Bett im Stadt­krankenhaus mehr frei gewesen, weil die Leute sich beim Laufen durch die Dunkelheit etliche Knochen­brüche zugezogen hätten. Ich stellte mir überfüllte Kliniken vor, in denen die Menschen mit ihren gebrochenen Knochen nach einem Arzt oder einem Kranken­hausbett suchen.

In Damaskus, meiner Stadt, hat längst alles einen anderen Geschmack angenommen. Unsere Kühlschränke sind zu nutzlosen Schränken geworden, die Syrer haben wieder begonnen, Gemüse für die Winter­monate zu trocknen, wir träumen nicht mehr von kaltem Wasser, und die elektrischen Haushalts­geräte sind zu Schrott verkommen. Wir haben für zwei Stunden Strom, vier Stunden lang fällt er aus. Im besten Fall. Die zwei Stunden können auch zu einer oder einer halben Stunde werden. Und die Menschen in anderen Städten beneiden die Leute in Damaskus, denn in Latakia fliesst der Strom nur alle sechs Stunden für eine halbe oder eine ganze Stunde. In Städten wie Aleppo gibt es gar keinen Strom, weder in den Wohnungen noch in den Strassen. Ich muss an den Titel meines Romans «Keine Messer in den Küchen dieser Stadt» denken. Jetzt heisst es: «Kein Strom in den Häusern dieser Stadt.»

Immerhin fährt der Bus: Unterwegs in Damaskus im Juli 2022. Yamam al Shaar/Reuters

Ich schreibe diese Zeilen, um euch mitzuteilen, dass die Schlange derer, die um einen Reisepass anstehen, die allerlängste ist. Hundert­tausende wollen einfach nur weg, und sei es in die Hölle. Die riesige Anzahl der Antrag­steller hat die Regierung verunsichert, sie weiss seit Jahren nicht mehr, was sie tun soll. Unter anderem erhöhte sie die Gebühren, sodass ein syrischer Reisepass, der an unterster Stelle der Pässe weltweit steht, nun zum teuersten Pass überhaupt geworden ist. Ein syrischer Reisepass kostet jetzt – je nach Umständen – zwischen zwanzig und achthundert Dollar. Jeden Tag wundere ich mich mehr über die Resilienz der Syrerinnen und über meine eigene sehr fragile Bereitschaft, mich in Geduld zu üben und mit dem spartanischen Leben zu arrangieren.

Ich schreibe diese Zeilen, um euch mitzuteilen, dass wir Syrer an einem vergessenen Ort leben, einem gnadenlosen Ort, wo wir Angst vor der Zukunft haben, vor der Vergangenheit, Angst vor Verhaftung, vor dem Verschwinden, vor dem Verhungern, Verdursten, Erfrieren, vor dem Vergehen. Ja, wir haben Angst, zu vergehen und zu verschwinden.

Mai 2023. Seit viereinhalb Monaten erwache ich nun jeden Morgen in meiner schönen Wohnung in Zürich. Ich habe heisses Wasser, es ist warm, man kümmert sich um mich, aber die Albträume wollen mich nicht loslassen. Jede Woche erlebe ich diese Angst, immer wieder habe ich diese schrecklichen Träume. Niemand, der erlebt hat, was wir erleben, kann davor sicher sein.

Ich trinke in aller Ruhe meinen Kaffee und bereite mich auf einen neuen Arbeitstag vor. Mittlerweile kenne ich mich in Zürich gut aus. Ich spaziere am Ufer der Limmat entlang, um mich auf meine Rückreise nach Damaskus vorzubereiten.

Am 30. Juni endet die Zeit meines Stipendiums. Dann werde ich wieder an jenen Ort der Zerstörung zurück­kehren, nach dem ich mich die ganze Zeit über gesehnt habe.

Zum Autor und zu diesem Text

Khaled Khalifa, 1964 in Aleppo geboren, ist Autor zahlreicher Romane und Drehbücher. Er lebt in Damaskus, ist seit Januar und noch bis Juni aber «Writer in Residence» des Literatur­hauses in Zürich. Den vorliegenden Text hat er in einer ersten Fassung im Dezember 2022 auf Arabisch geschrieben und im Mai 2023 aktualisiert. Er erscheint hier, in der Übersetzung von Larissa Bender, erstmals auf Deutsch. Larissa Bender hat auch Khalifas Roman «Keiner betete an ihren Gräbern» (Rowohlt 2022) ins Deutsche gebracht. Zuvor erschienen von ihm die Romane «Keine Messer in den Küchen dieser Stadt» und «Der Tod ist ein mühseliges Geschäft», beide in der Über­setzung von Hartmut Fähndrich.

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