Oblast Charkiw: Panzersperren aus Beton liegen neben einer Strasse. Alle Bilder in diesem Beitrag wurden in der Ukraine im April 2023 gemacht.

Die Wahl zwischen Freiheit und Angst

Die Zukunft der demokratischen Welt wird davon abhängen, ob das ukrainische Militär eine Patt­situation mit Russland überwinden und den Angreifer zurückdrängen kann – vielleicht sogar endgültig weg von der Krim.

Von Anne Applebaum, Jeffrey Goldberg (Text), Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung) und Armin Smailovic/Agentur Focus (Bilder), 20.05.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Im März 1774 übernahm Fürst Grigori Potemkin, der Lieblings­general und zeitweilige Liebhaber Katharinas der Grossen, die Kontrolle über die anarchische Südgrenze ihres Reiches. Diese Region war zuvor unter anderem von den mongolischen Khans, den Kosaken­heeren und den osmanischen Türken beherrscht worden. Als Vizekönig führte Potemkin Krieg und gründete Städte, darunter Cherson, den ersten Sitz der russischen Schwarzmeer­flotte. Im Jahr 1783 annektierte er die Krim und wurde zum Avatar des imperialen Ruhms. Vor allem für Wladimir Putin ist Potemkin der russische Nationalist, der sich das Gebiet unterwarf, das nun frech und unrecht­mässig von der Ukraine beansprucht wird, einer Nation, die nach Putins Ansicht nicht existiert.

Der Rest der Welt erinnert sich anders an Potemkin. Und zwar wegen etwas, was wir heute als Desinformations­kampagne bezeichnen würden. Im Jahr 1787 besuchte Katharina sechs Monate lang die Krim und das Land, das damals als Neurussland bekannt war. Die Legende besagt, dass Potemkin entlang ihrer Reise­route falsche Dörfer errichtete, die von falschen Dorf­ansässigen bewohnt wurden und falschen Wohlstand ausstrahlten. Diese «Potemkinschen Dörfer» haben wahrscheinlich nie existiert, aber die Geschichte hat sich aus gutem Grund erhalten: Der kriecherische Höfling, der für die Kaiserin ein falsches Bild entwirft, ist eine Figur, die wir aus anderen Zeiten und von anderen Orten kennen.

Die Geschichte erinnert auch an etwas, das wir nicht nur im kaiserlichen Russland, sondern auch in Putins Russland wieder­erkennen, wo irrsinnige Anstrengungen unternommen werden, um dem Führer zu gefallen – Anstrengungen, die heut­zutage auch darin bestehen, ihm zu sagen, dass er einen Krieg gewinnt, den er ganz sicher nicht gewinnen wird.

Um die Potemkinschen Städte wieder unter seine Oberhoheit zu bringen, besetzte Russland Anfang März 2022 Cherson. Es war der Beginn eines Feldzugs zur Vernichtung sowohl der Ukraine als auch der Idee der Ukraine. Russische Soldaten entführten den Bürger­meister, folterten Angestellte der Stadt, ermordeten Zivilistinnen und raubten Kinder.

Im September hielt Putin im Kreml eine Zeremonie ab, in der er Cherson und andere besetzte Gebiete zu einem Teil Russlands erklärte. Doch Cherson wurde nicht zu Russland. Partisanen wehrten sich mit Auto­bomben und Sabotage­akten. Noch während die Besatzer ein lächerliches Referendum abhielten, das zeigen sollte, dass die Ukrainerinnen sich für Russland entschieden hatten, bereitete die russische Armee in aller Stille ihren Abzug vor. Im Oktober brach dieses neue Potemkinsche Dorf zusammen, und die wieder­erstarkte ukrainische Armee näherte sich den Aussen­bezirken von Cherson. Zu diesem Zeitpunkt taten die Russen etwas besonders Merkwürdiges: Sie entführten die Gebeine von Grigori Potemkin.

Potemkin war 1791 gestorben. Sein Schädel und einige andere Knochen wurden schliesslich in die Katharinen­kathedrale in Cherson gebracht, die von Potemkin selbst erbaut worden war. Die Knochen wurden in einer Krypta unter dem Haupt­schiff der Kathedrale aufbewahrt.

Was die Russen mitnahmen: Gemälde, Waschbären aus dem Zoo – und Pissoirs

An einem bewölkten Sonntag im vergangenen März besuchten wir die Kathedrale, die nur wenige Strassen vom Fluss Dnipro – der heutigen Frontlinie – entfernt liegt. Wir wollten verstehen, warum die russische Armee in den chaotischen letzten Tagen ihrer Besetzung von Cherson innehielt, um ein Grab zu plündern.

Als wir ankamen, gab es gerade eine kurze Pause zwischen den Gottes­diensten. Anwesend waren hauptsächlich ältere Menschen, aber auch einige jüngere Leute und Kinder. Die Strassen draussen waren leer; die Stadt ist entvölkert worden durch die Invasion, die Gegen­invasion und den ständigen Beschuss durch russische Soldaten. An einem der Tage, an denen wir dort waren, schlug eine Rakete auf dem Parkplatz eines Super­markts ein. Dabei wurden drei Menschen getötet und drei weitere verwundet, darunter eine ältere Frau. Der Beschuss hörte sich für uns weit weg an, und gleichzeitig sehr nah.

In der Kathedrale rollte ein junger Priester einen Teppich im Kirchen­schiff zurück und öffnete eine Falltür. Wir stiegen eine schmale Treppe hinunter. Potemkins Gebeine hatten einst in einem Holzsarg geruht, auf einem Stein­podest in der Mitte des dunklen, klaustrophobischen Raums. Pfarrer Vitaly – der auf Ukrainisch, in der Sprache der modernen Herrscher von Cherson, und nicht auf Russisch, in der Sprache Potemkins, sprach – schilderte den Tag des Diebstahls. «Russische Fahrzeuge umstellten die Kirche», sagte er. «Dann kamen Soldaten herein und verlangten, dass die Krypta geöffnet werde. Man spürte, dass ihnen nicht wohl dabei war. Sechs von ihnen gingen die Treppe hinunter und nahmen die Gebeine mit. Sie brachten sie nach draussen zu einem Liefer­wagen. Dann waren sie weg.»

Wir fragten ihn, was er davon halte. «Ich bin Potemkin dankbar, dass er diese Kirche gebaut hat», sagte er vorsichtig. Dann zuckte er mit den Schultern. Potemkins historische Verbindung zur Stadt interessierte ihn nicht so sehr wie uns. Seine Schäfchen hatten wichtigere Sorgen.

Auf der langen Fahrt zu ukrainischen Artillerie­stellungen entlang des Flusses diskutierten wir, was der Dieb­stahl bedeuten könnte. Vielleicht hatte Russland Cherson aufgegeben und Potemkin deshalb mit nach Hause genommen, weg von der elenden und undankbaren Ukraine. Oder vielleicht lag Potemkins Schädel nicht auf Putins Schreib­tisch im Kreml, sondern in einem sicheren Haus auf der anderen Seite des Flusses und wartete darauf, nach einer russischen Reinvasion zurück­gebracht zu werden.

Eine Woche später hatten wir in Kiew die Gelegenheit, einen der führenden ukrainischen Experten für russisches imperialistisches Verhalten zu fragen, warum ein Trupp russischer Soldaten, der vermutlich mit der Planung des Rückzugs aus Cherson beschäftigt gewesen war, Potemkins Gebeine gestohlen hatte. «Ich bin mir nicht sicher, ob sie wissen, wer Potemkin ist», sagte Wolodimir Selenski. Der ukrainische Präsident winkte ab: «Ich denke, für sie spielt es keine Rolle, was sie gestohlen haben.» Als die Russen Cherson verliessen, nahmen sie alles mit: Gemälde, Möbel, Geschirr­spüler, die Waschbären aus dem Zoo, den Schädel von Katharinas Liebhaber. Das lange Erbe von Fürst Potemkin, die neoklassizistische Stein­kathedrale, das ausser­ordentliche Gewicht der Vergangenheit – nichts davon sei für die Männer, die aus Cherson geflohen seien, von Bedeutung gewesen, meinte er.

«Wenn sie fliehen, nehmen sie alles mit, was sie sehen», sagte uns Selenski. «Wissen Sie, was sie aus der Region Kiew mitgenommen haben? Pissoirs. Sie haben Pissoirs gestohlen!»

Butscha im April 2022, Butscha im März 2023

Bei einem früheren Besuch bei Selenski im April 2022 war das Ausmass von Putins Wahn­vorstellungen gerade erst deutlich geworden. Das Treffen damals wirkte improvisiert, fast zufällig; es wurde spontan arrangiert, via eine verrückte Reihe von Text­nachrichten, in den Tagen unmittelbar nach dem chaotischen russischen Rückzug aus dem nördlichen Teil des Landes. Wir nahmen einen Zug nach Kiew, der auf keinem Fahr­plan stand; im dunklen Stadt­zentrum war nur ein Restaurant geöffnet. In Butscha, dem von den russischen Truppen besetzten Vorort von Kiew, beobachteten wir, wie Soldaten und Technikerinnen Leichen aus einem Massen­grab hinter einer Kirche exhumierten.

In diesem Moment wendete sich der Krieg: Nachdem es den Russen im ersten Monat der Kämpfe nicht gelungen war, Kiew von Norden her einzunehmen, bereiteten sie sich auf einen Angriff von Osten her vor. Nach unserem Treffen schickte uns ein Mitarbeiter von Selenski eine Liste mit Waffen, die die ukrainische Armee benötigte, um diese Offensive abzuwehren, in der Hoffnung, dass wir die Nachricht nach Washington weiter­leiten würden.

Bei unserem erneuten Besuch vor einigen Wochen waren die Lichter an, die Restaurants geöffnet, und die Züge fuhren nach einem vorhersehbaren Fahrplan. Ein Café im Bahnhof servierte Caffè Latte mit Hafermilch. Butscha ist nun eine Baustelle, mit einem nagelneuen Eisenwaren­laden für alle, die die Kriegs­schäden selbst reparieren. Und ein Gespräch mit Selenski ist jetzt eine formellere Angelegenheit, mit Simultan­übersetzung, einem Video­filmer und einer Reihe von englisch­sprachigen Helferinnen. Selenski selbst sprach die meiste Zeit Englisch – er hat, wie er sagt, mittler­weile viel mehr Übung.

Tschassiw Jar, Oblast Donezk: Die Schlacht um Bachmut ist nur wenige Kilometer entfernt, nur noch ganz wenige Menschen sind in der Stadt geblieben.
Unterwegs von Charkiw Richtung Norden an die Grenze zu Russland.

Zu den Bildern

Der Fotograf Armin Smailovic, von dem die Bilder in diesem Beitrag stammen, ist gemeinsam mit Sebastian Backhaus im April 2023 an die ukrainische Front gereist. Ihre Bilder zeigen das Leben der Bevölkerung und der Soldatinnen nahe der Front.

Doch hinter der geschliffenen Präsentation bleiben die Anspannung und die Unsicherheit bestehen, angeheizt durch das Gefühl, dass wir uns wieder einmal an einem Wende­punkt befinden, an dem wichtige Entscheidungen getroffen werden, natürlich in Kiew, aber vor allem in Washington.

Denn obwohl der Krieg nicht verloren ist, ist er auch nicht gewonnen. Cherson ist frei, wird aber ständig angegriffen. Die Kiewer Restaurants sind geöffnet, aber die geflüchteten Menschen sind noch nicht nach Hause zurück­gekehrt. Die russische Winter­offensive ist abgeflaut, aber als wir diesen Bericht schreiben, Mitte April, ist unklar, wann die ukrainische Sommer­offensive beginnen wird. Solange sie nicht beginnt, oder besser gesagt, solange sie nicht beendet ist, können auch keine Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine beginnen. Keine Verhandlungen über ihre Grenzen, über die Beziehungen der Ukraine zu Russland und zu Europa und über den endgültigen Status der Halb­insel Krim.

Es geht um die Ukraine, aber auch um etwas noch Grösseres

Im Moment scheint Putin immer noch zu glauben, dass ein langwieriger Zermürbungs­krieg ihm schliesslich sein Reich zurück­bringen wird: Die schwachen westlichen Verbündeten der Ukraine werden müde und geben auf; vielleicht gewinnt Donald Trump die Wieder­wahl und verbündet sich mit dem Kreml; die Ukraine wird sich zurück­ziehen; die Ukrainerinnen werden von der schieren Anzahl russischer Soldaten überwältigt werden, egal wie schlecht bewaffnet und ausgebildet diese sein mögen.

Die Vereinigten Staaten haben die einzigartige Macht, zu bestimmen, wie und wie schnell sich der Zermürbungs­krieg in etwas ganz anderes verwandelt. Der ukrainische Verteidigungs­minister Oleksij Resnikow sprach mit uns über den «Ramstein Club», benannt nach dem amerikanischen Luftwaffen­stützpunkt in Deutschland, auf dem sich die Gruppe, die aus den Verteidigungs­vertretern von 54 Ländern besteht, zum ersten Mal traf. Seine wichtigste Beziehung ist jedoch die zu US-Verteidigungs­minister Lloyd Austin («Wir kommunizieren sehr, sehr oft»), und jeder weiss, dass dieser Club von Amerikanern organisiert, von Amerikanern geführt und von Amerikanern angetrieben wird. Andrij Jermak, Selenskis Stabschef, sagte uns, dass sich die Ukrainerinnen heute als «strategische Partner und Freunde» Amerikas fühlen. Das wäre vor einigen Jahren, als Donald Trump unter dem Vorwurf, Selenski erpressen zu wollen, angeklagt wurde, wahrscheinlich weniger wahr gewesen.

In unserem Interview fragten wir Selenski, wie er diese ungewöhnliche Beziehung gegenüber einem skeptischen Amerikaner rechtfertigen würde: Warum sollten die Amerikanerinnen Waffen für einen Krieg spenden, der weit entfernt stattfindet?

Selenski betonte, dass der Ausgang des Krieges über die Zukunft Europas entscheiden wird. «Wenn wir nicht genug Waffen haben», sagte er, «sind wir schwach. Wenn wir schwach sind, werden sie uns besetzen. Wenn sie uns besetzen, werden sie auch Moldau besetzen. Wenn sie Moldau besetzt haben, werden sie durch Weiss­russland ziehen und Lettland, Litauen und Estland besetzen. Das sind drei baltische Länder, die Mitglieder der Nato sind. Sie werden sie besetzen. Natürlich sind die Balten ein tapferes Volk, und sie werden kämpfen. Aber sie sind klein. Und sie haben keine Atom­waffen. Sie werden also von den Russen angegriffen werden, denn das ist die Politik Russlands, alle Länder zurück­zuerobern, die zuvor Teil der Sowjetunion waren.» Es geht um das Schicksal der Nato, um Amerikas Position in Europa, ja um Amerikas Position in der Welt.

Aber es geht auch um etwas noch Grösseres. Gemäss Selenski ist dies ein Krieg um eine grund­legende Definition nicht nur der Demokratie, sondern der Zivilisation. Ein Kampf, «um allen anderen, einschliesslich Russland, zu zeigen, dass man die Souveränität, die Menschen­rechte und die territoriale Integrität respektiert und dass man Menschen respektiert, dass man keine Menschen tötet, dass man keine Frauen vergewaltigt, dass man keine Tiere tötet und dass man sich nicht nimmt, was einem nicht gehört».

Wenn eine Ukraine, die an Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte glaubt, einen Sieg gegen eine viel grössere, viel autokratischere Gesellschaft erringen kann und wenn sie dies unter Wahrung ihrer eigenen Freiheiten tun kann, dann können ähnlich offene Gesellschaften und Bewegungen in der ganzen Welt ebenfalls auf Erfolg hoffen. Nach der russischen Invasion hängte die venezolanische Oppositions­bewegung eine ukrainische Flagge an die Fassade des Botschafts­gebäudes ihres Landes in Washington. Das taiwanesische Parlament hat die ukrainischen Aktivisten im vergangenen Jahr mit Begeisterung empfangen. Nicht alle interessieren sich für diesen Krieg, aber für alle, die versuchen, einen Diktator zu besiegen, hat er eine tiefe Bedeutung.

So ist auch Amerika mit dem Krieg verbunden. Die Ukraine verteidigt eine Zivilisation, die stark von amerikanischen Ideen geprägt worden ist, nicht nur in Bezug auf Demokratie, sondern auch auf Unternehmer­tum, Freiheit, Zivil­gesellschaft und Rechts­staatlichkeit. Als wir Selenski nach dem ukrainischen Technologie­sektor fragten, erzählte er voller Freude von seinem Traum, eine Universität für Informatik zu gründen, und von den Projekten, die das Ministerium für digitale Transformation seines Landes ins Leben gerufen hat. Darunter eine einzigartige App, die es den Ukrainerinnen ermöglicht, Dokumente auf ihren Handys zu speichern – ein Glücksfall für Menschen auf der Flucht. Er spricht bereit­williger über das Silicon Valley als über die Knochen von Potemkin, und das ist kein Wunder: Ersteres definiert die Welt, in der er leben möchte.

Im Gegensatz zu uns beschäftigt sich Selenski nicht mit der Geschichte des russischen imperialen Bestrebens. «Ich mag die Vergangenheit nicht», sagte er. «Wir müssen vorwärts­springen, nicht zurück.»

«Hochzeits­drohnen» werden zu tödlichen Waffen umfunktioniert

In einem anderen Teil der Ukraine sahen wir, wie Selenskis «Sprung nach vorn» in der Praxis aussieht. Dort entfaltet sich die Zukunft in einem Raum, in dem Klebstoff, Draht, Metall­stücke und elektronische Komponenten auf mehreren grossen Tischen verstreut sind. Daneben steht ein 3-D-Drucker. An einer Wand hängt ein Regal voller Drohnen. Das hier ist eine Drohnen­werkstatt, eine von zwei, die wir besucht haben, und eine von Dutzenden, die im ganzen Land verteilt sind.

Diese spezielle Drohnen­werkstatt könnte Amerikaner verwirren, die denken, dass «das Militär» eine einheitliche Institution ist oder dass «Rüstungs­produktion» etwas ist, an dem milliarden­schwere Unternehmen beteiligt sind. Der Schirmherr dieses Projekts ist ein ehemaliger Kommandeur der ukrainischen Spezial­einheiten und jetziges Mitglied des Parlaments, Oberst Roman Kostenko. Die «Mitarbeiter» sind allesamt Ingenieure, die jetzt in der Armee als Piloten und Entwickler von Drohnen eingesetzt werden.

Die Finanzierung ist privat, und das gesamte Unternehmen basiert auf der Überzeugung, dass die Ukraine zwar nicht mit der russischen Quantität konkurrieren kann, aber die russische Qualität übertreffen kann: «Wir können nur gewinnen, wenn wir intelligenter sind», sagte Kostenko. Er spreche regelmässig mit der militärischen Führung, obwohl er nicht mehr in der Befehls­kette stehe.

In der Werkstatt werden in erster Linie kommerziell erhältliche Drohnen modifiziert. Resnikow, der ukrainische Verteidigungs­minister, nennt sie «Hochzeits­drohnen» – gemeint sind Drohnen, die normaler­weise zum Filmen von Hochzeiten verwendet und nun zu tödlichen Waffen umfunktioniert werden. In der Werkstatt werden auch vorhandene Spreng­sätze, darunter solche aus der Sowjet­ära, für die Drohnen umgebaut. Das Team arbeitet auch an neuen Arten von Drohnen, die beispielsweise anspruchs­volle elektronische Kriege führen und unter Wasser angreifen können, und das alles mit relativ geringen Kosten. Kostenko beschrieb eine Drohne, die nach seinen Angaben 24 feindliche Geräte zerstört hatte, darunter auch Panzer.

Aber diese ukrainische Tech-Armee, die in Kellern und Garagen sitzt, baut nicht nur Drohnen, sondern auch die Software, die die Arbeit der Drohnen koordiniert. Ein Entwickler beschrieb die Software als «eine Erfindung, kein Produkt» – eine Erfindung, die ständig neu gestaltet wird. Eines dieser Programme sammelt Informationen und verteilt sie an die Laptops und Tablets einfacher Soldaten an der Front. Dass dadurch alle auf dem gleichen Stand sind, wurde zu einem der unerwarteten Vorteile der Ukraine. Ein kleiner Gefechts­stand, den wir besuchten, verfügte über eine Reihe von Bild­schirmen, von denen jeder eine andere Ansicht des Schlacht­felds zeigte.

Region Kostjantyniwka, Oblast Donezk: Ein Soldat in einem Unterstand einer Artillerie­einheit. Von hier aus greifen sie in die Schlacht um Bachmut ein.
Charkiw: Vor der völlig zerstörten Schule #134, einer Fachschule für die deutsche Sprache.
Kurachowe, Region Wuhledar, Oblast Donezk: Die Wowtscha bietet den Menschen eine gute Möglichkeit, Fische zu fangen. Im Hintergrund ist eine Getreideanlage zu sehen, sie kann aufgrund von Beschuss nicht betrieben werden.

Mehrere ausländische Unternehmen arbeiten ebenfalls zusammen. Die fortschrittlichsten, wie das US-amerikanische Software- und Verteidigungs­unternehmen Palantir, haben Software, die auf mehrere Daten­quellen – kommerzielle Satelliten­bilder, Berichte von Partisanen – zurückgreifen kann, um Ziele zu identifizieren und zu priorisieren. Diese Form der «algorithmischen Kriegs­führung» ist nicht neu, aber die Ukrainerinnen haben einen Grund, sie auszubauen: Weil sie keine Lager­häuser voller Ersatz­munition haben, müssen sie mit der kleinsten Anzahl von Raketen die grösste Anzahl feindlicher Fahrzeuge treffen.

Zur Bürgerarmee gehören Gross­väter, die ihr eigenes Dorf bewachen

Maxwell Adams, ein Ingenieur bei Helsing, einem europäischen Unternehmen für Verteidigungs­technologie, das pro bono in der Ukraine arbeitet, erzählte uns, dass die Ukrainer sein Team mit ihrer Fähigkeit beeindruckt hätten, alles zu nutzen, was zur Verfügung steht – von einfachen Messenger-Apps bis hin zu ausgeklügelter Artillerie, und das unter unvorhersehbaren Bedingungen. Gemeinsam mit ihren ukrainischen Kollegen arbeiten seine Mitarbeiterinnen daran, «unsere Software so zu gestalten, dass sie direkt an der Grenze läuft, das heisst, auf winzig kleinen Computer­chips, auf einem rostigen alten Fahrzeug oder im Rucksack eines Soldaten oder auf einer Drohne». Die Ukrainer haben «absolut verstanden, wie man KI einsatzfähig macht», sagte er.

Sie verstehen auch, dass sie alles einsetzen müssen, was sie haben. Resnikow beschrieb die Kombination von Waffen, die die Ukrainer von Dutzenden verschiedenen Ländern erhalten haben, als einen «Zoo», eine Menagerie von Waffen: «Wir haben ungefähr 10 Artillerie­systeme», sagte er, während er sie an seinen Fingern abzählte. Und sie alle müssen zusammen funktionieren, obwohl die Munition begrenzt ist, das Personal und manchmal auch die Satelliten­verbindung.

Diese Hightech­welt existiert neben und innerhalb einer ausser­ordentlich vielfältigen Bürger­armee, zu der von der Nato ausgebildete Offiziere bis hin zu Gross­vätern gehören, die ihre eigenen Dörfer bewachen, sie umfasst alle erdenklichen Stufen der Ausbildung, Erfahrung und Ausrüstung. Da die Front­linie durch Hinter­höfe von Vorstädten und durch landwirtschaftliche Betriebe verläuft, lebt und arbeitet diese Armee auch an diesen Orten.

In einer Hütte in der Nähe eines anderen Teils der Front­linie trafen wir eine Handvoll Drohnen­bediener, zusammen mit ihrem Chihuahua und ein paar Katzen. An der Wand in der Küche hingen religiöse Ikonen, die einem früheren Besitzer gehörten, und im Flur waren schlammige Stiefel aufgereiht. In einem ehemaligen Wohn­zimmer sprach «Elefant», der vor dem Krieg Landwirt war (wenn auch ein Landwirt, der zuvor im ukrainischen Geheim­dienst gedient hatte), über die Notwendigkeit, die Armee­ausbildung zu modernisieren.

«Frenchman» erhielt seinen Übernamen, weil er in der französischen Fremden­legion gedient hatte, bevor er nach Hause kam, um in Lwiw eine Wein­bar zu betreiben. Er sieht weniger wie der harte Legionär aus, den man sich vorstellt, als vielmehr wie der hippe Gastronom, der er geworden ist. Ein anderer Soldat fummelte an etwas herum, das wie eine Videospiel­konsole aussah; in Wirklichkeit lernte er, eine Drohne zu steuern. Sie alle waren nach dem Februar 2022 zu dieser Spezial­einheit gestossen.

Die Wehr­bereitschaft wuchs entscheidend mit der Besetzung der Krim 2014

Ein paar Auto­stunden weiter, auf einer unbefestigten Strasse mit Steinen, Schlamm und Schlag­löchern so gross wie kleine Teiche, trafen wir auf eine ganz andere Art der ukrainischen Armee, eine Infanterie­brigade, die aus einheimischen Männern besteht. Ihre Artillerie­einheit hat Waffen, die aussehen, als wären sie in den 1980er-Jahren im sowjetischen Krieg in Afghanistan eingesetzt worden, und sie lagert sie in Scheunen und Lager­häusern.

Sie waren fröhlich – vor unserem Gespräch bestanden sie darauf, dass wir in einer Armee­kantine zu Mittag assen – und zeigten keine Anzeichen von Erschöpfung. Aber obwohl sie mit der Software auf ihren Tablets russische Ziele finden können, haben sie nicht viel Munition, um sie anzugreifen.

Diese ungewöhnliche Basis-Kampftruppe mit ihrer ungewöhnlichen Bandbreite an physischen und technologischen Fähigkeiten erklärt, warum die Ukrainer zu Beginn des Konflikts unterschätzt wurden und warum ihre Fähigkeiten heute so schwer einzuschätzen sind. In Washington und Brüssel ging man davon aus, dass in diesem Krieg «eine grosse sowjetische Armee gegen eine kleine sowjetische Armee» kämpfen würde, wie Resnikow es ausdrückte, und dass die grosse sowjetische Armee natürlich gewinnen würde. Doch nach der russischen Invasion der Krim im Jahr 2014 «waren die ersten Menschen, die sich zur Wehr setzten, Freiwillige vom Maidan», sagte Resnikow. Er bezog sich dabei auf die ukrainische Revolution, die sich gegen den damaligen autokratischen, von Russland unterstützten Präsidenten wandte. «Sie nahmen Gewehre und zogen in den Osten. Im selben Jahr begannen patriotische junge Ukrainer auch in der Rüstungs­industrie zu arbeiten oder gründeten NGOs, die das Militär noch heute unterstützen.»

Die alte ukrainische Armee war durch jahrelange Negativ­auslese geprägt und zog die am wenigsten Gebildeten und Ehrgeizigen an. Die neue Armee wird geprägt von den best­ausgebildeten und ehrgeizigsten Soldaten. In den letzten Monaten hat sich diese Armee sogar noch weiter­entwickelt. In Ausbildungs­lagern in Nato-Ländern lernen die ukrainischen Truppen, wie westliche Kampf­panzer eingesetzt, neuartige Artillerie bedient und vor allem, wie Operationen mit kombinierten Waffen durchgeführt werden, die Teil der Sommer­offensive sein werden.

Manchmal wird der Krieg als ein Kampf zwischen Autokratie und Demokratie oder zwischen Diktatur und Freiheit beschrieben. In Wahrheit sind die Unterschiede zwischen den beiden Gegnern nicht nur ideologischer, sondern auch soziologischer Natur. Im Kampf der Ukraine gegen Russland stehen sich eine Heterarchie und eine Hierarchie gegenüber. Eine offene, vernetzte, flexible Gesellschaft – eine, die sowohl an der Basis stärker ist als auch tiefer mit Washington, Brüssel und dem Silicon Valley verflochten ist, als irgend­jemand geahnt hat – kämpft gegen einen sehr grossen, sehr korrupten, von oben gesteuerten Staat.

Auf der einen Seite verteidigen Bauern ihr Land, während junge Ingenieure Augen in den Himmel bauen, wobei sie Werkzeuge verwenden, die jungen Ingenieuren auch anderswo vertraut wären. Auf der anderen Seite schicken Kommandeure Wellen von schlecht bewaffneten Wehr­pflichtigen in den Tod, unter der Führung eines Diktators, der von alten Knochen besessen ist. «Wir haben die Wahl», sagte Selenski, «zwischen Freiheit und Angst.»

Was würde ein «Sieg» der Ukraine bedeuten? Souveränität, Sicherheit, Gerechtigkeit

Auch in der ukrainischen Gesellschaft gibt es noch Varianten dieser beiden Zivilisationen, auch wenn die Trennung nicht von Ethnie oder Sprache bestimmt wird. Selbst im russisch­sprachigen Osten sind Ukrainerinnen, die sich als prorussisch bezeichnen, nur noch äusserst selten anzutreffen. Die Strassen im Zentrum der russisch­sprachigen Stadt Odessa sind mit ukrainischen Flaggen geschmückt; der Bürger­meister von Odessa, der russisch­sprachige Hennadij Truchanow, sagte uns, er glaube, dass die Ukrainer «die vorderste Front im Kampf um die zivilisierte Welt» seien.

Die Ukrainerinnen, die wollen, dass ihr Land Teil dieser neuen, vernetzten Welt bleibt, glauben, dass sie gewinnen werden. «Wir sehen uns nach dem Sieg», sagen sie, wenn sie sich verabschieden. «Wir werden es nach dem Sieg wieder aufbauen», sagen sie, wenn sie über etwas Zerstörtes sprechen.

Bürger­meister Truchanow träumt bereits von einer Sieges­feier, einem riesigen Esstisch, der sich über die gesamte Länge der berühmten Ufer­promenade von Odessa erstreckt, die derzeit von Soldaten und Barrikaden abgesperrt ist: «Alle sind eingeladen.» Selbst diejenigen, die die unmittelbare Zukunft eher pessimistisch sehen, bleiben optimistisch, was die fernere Zukunft angeht: «Nach dem Sieg werden wir den Sieg verteidigen müssen.» Einige von ihnen haben einen fast mystischen Glauben daran, dass ihr Land nun seinen Auftritt auf der Weltbühne hat. Jermak, Selenskis Stabschef, sagte uns, der Sieg sei «sehr nahe», man könne ihn «in der Atmosphäre spüren». Dmytro Kuleba, der ukrainische Aussen­minister, spricht davon, dass «die Geschichte ihre Räder dreht», ein Prozess, der nicht aufzuhalten ist.

Andere vertrauen auf die Moderne, auf die Technologie und, ja, auf das Beispiel der amerikanischen Demokratie. «Wir leben in einer offenen Welt, in einer demokratischen Welt», sagt Oleksiy Honcharuk, ein ehemaliger Minister­präsident der Ukraine, der jetzt auch in der Technologie­branche tätig ist. «Und dieser Vorteil ist enorm.» Ist das wahr? Nur ein ukrainischer Sieg kann das beweisen.

Aber was ist ein «Sieg»? Das ist die Frage, die jedem amerikanischen Beamten, jeder Expertin und in jeder öffentlichen Debatte über die Ukraine immer wieder gestellt wird, oft in einem fordernden Ton, als ob diese Frage schwierig zu beantworten wäre. In der Ukraine selbst – im Büro des Präsidenten, im Verteidigungs­ministerium, im Aussen­ministerium, in Privat­wohnungen, an der Front – wird die Frage überhaupt nicht als schwierig empfunden.

Der Sieg bedeutet erstens, dass die Ukraine die souveräne Kontrolle über das gesamte Gebiet innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen behält, einschliesslich der seit 2014 von Russland eroberten Gebiete: Donezk, Luhansk, Melitopol, Mariupol und der Krim. «Jeder Zentimeter unserer 603’550 Quadrat­kilometer», sagt Kuleba. Die Ukrainer glauben, dass die faktische Abtretung von Territorium an Russland 2014 Putin auf die Idee gebracht hat, dass er mehr erobern kann, und sie wollen diesen Fehler nicht wiederholen.

Anstatt den Konflikt zu beenden, könnte ein Waffen­stillstand, der grosse Teile der Ukraine unter russischer Kontrolle belässt, Putin einen Anreiz geben, sich neu zu formieren, aufzurüsten und es erneut zu versuchen. Sie weisen auch darauf hin, dass das von Putin kontrollierte Gebiet ein Tatort ist, ein Ort, an dem täglich Unterdrückung, Terror und Menschenrechts­verletzungen stattfinden. Die Ukrainerinnen, die in den besetzten Gebieten bleiben, sind konstant in Gefahr, ihr Eigentum, ihre Identität und ihr Leben zu verlieren. Kein ukrainischer Führer darf den Gedanken aufgeben, sie zu retten.

Kupjansk, Oblast Charkiw: Eine Ziegen­hirtin auf einem Feld nahe der Stadt Kupjansk. Die meisten Bewohner haben die Stadt verlassen.
Charkiw: Eine Barkeeperin bereitet im «The Ditch» einen Drink zu. Das Nachtleben endet in der ostukrainischen Stadt um 21 Uhr, danach gilt eine Ausgangs­sperre.

Der Sieg bedeutet zweitens, dass die Ukrainer sicher sind. Sicher vor terroristischen Angriffen, sicher vor Beschuss, sicher vor Raketen, die auf Supermarkt­parkplätze abgefeuert werden. Selenski spricht von Sicherheit «für alles. Von Schulen bis zu Technologien, für alles im Bildungs­bereich, in der Medizin, auf den Strassen. Das ist der Plan. Für Energie. Für alles.»

Sicherheit bedeutet, dass die Flughäfen wieder öffnen, geflüchtete Personen zurück­kehren, das Ausland wieder investiert und Gebäude wieder aufgebaut werden können, ohne dass man befürchten muss, dass eine weitere russische Rakete sie zum Einsturz bringt.

Um diese Art von Sicherheit zu erreichen, braucht die Ukraine mehr als einen Waffen­stillstand. Das Land muss in eine Sicherheits­struktur eingebettet werden, die so verlässlich ist, dass man ihr vertrauen kann, etwas, das der Nato ähnelt oder sogar die Nato selbst ist. Auch muss sich die Ukraine wieder als Front­staat wie Israel oder Südkorea begreifen, mit einer erstklassigen Verteidigungs­industrie und einem grossen stehenden Heer. Abschreckung ist die wichtigste Garantie für den Frieden.

Der Sieg bedeutet, drittens, eine Art von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges, für die Menschen, die ihre Häuser oder Glied­massen verloren haben, für die Kinder, die ihren Eltern weggenommen wurden. Gerechtigkeit kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden: durch Wiedergut­machung, durch die Übertragung erbeuteter oder sanktionierter russischer Vermögens­werte oder durch den Internationalen Strafgerichts­hof, der kürzlich einen Haftbefehl gegen Putin erliess, weil dieser ukrainische Kinder nach Russland entführt hat.

Wichtiger als die Frage, wie die Gerechtigkeit hergestellt wird, ist jedoch, dass sie überhaupt wahrgenommen wird – weder Putin noch Russland dürfen straf­frei davonkommen. Die Opfer brauchen die Anerkennung, dass sie zu Unrecht verfolgt wurden. Solange diese Art von Gerechtigkeit nicht erreicht ist, werden Millionen von Menschen nicht das Gefühl haben, dass der Krieg zu Ende ist, und sie werden nicht aufhören, nach Wiedergut­machung oder Rache zu streben.

Starke Symbole: Mariupol – und die Krim

Am Tag nach unserem Treffen wurde Frenchman, der junge Drohnen­operator, der früher die Bar in Lemberg betrieb, bei einem russischen Angriff getötet. Sein Name war Dmytro Pashchuk. «Verglichen mit diesem Krieg», hatte er uns gesagt, als wir ihn nach seiner militärischen Erfahrung fragten, «ist alles andere Kinder­garten.» Niemand, der mit ihm gekämpft hat, wird jemals ein ungerechtes Ende dieses Krieges akzeptieren.

Der Sieg kann definiert werden. Aber kann er auch erreicht werden? Ein Teil der Antwort ist militärisch, technisch, logistisch. Ein Teil der Antwort ist jedoch auch politisch und sogar psychologisch. Die ukrainische Sieges­theorie umfasst alle diese Elemente.

In der russischen Geschichte hat der militärische Sieg oft die Autokratie gestärkt. Die Eroberungen Potemkins stärkten Katharina die Grosse. Stalins Sieg über Hitler stärkte sein eigenes Regime. Im Gegensatz dazu haben militärische Niederlagen oft zu politischen Veränderungen geführt. Die russischen Verluste gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg trugen dazu bei, die Russische Revolution in Gang zu setzen. Russische Verluste in Afghanistan in den 1980er-Jahren trugen dazu bei, die Reformen der Gorbatschow-Jahre anzustossen, die wiederum zum Zusammen­bruch der Sowjetunion führten.

Die See­katastrophe, die Russland während des Russisch-Japanischen Krieges erlitt, ist weniger bekannt, war aber ebenso folgenreich. In der Schlacht von Tsushima 1905 zerstörten die Japaner den Gross­teil der russischen Flotte und nahmen zwei Admirale gefangen.

Russland war zu jener Zeit grösser und reicher als Japan und hätte weiter­kämpfen können. Doch der Schock und die Schande der Niederlage waren überwältigend. Obwohl Zar Nikolaus II. die Macht nicht verlor, trug die Unzufriedenheit der Bevölkerung über den Krieg zur letztlich gescheiterten Revolution von 1905 bei und zwang ihn zu politischen Reformen. Dazu gehörte die Schaffung des ersten russischen Parlaments und der ersten Verfassung.

Die Ukrainer brauchen einen solchen militärischen Erfolg – einen, der genug Symbol­kraft hat, um einen Wandel in Russland zu erzwingen. Dies muss nicht unbedingt eine Revolution oder gar einen Wechsel der Führung bedeuten.

Was zählt, ist: Die russische Führung muss zum Schluss kommen, dass der Krieg ein Fehler war, und Russland muss die Ukraine als unabhängiges Land mit dem Recht auf Existenz anerkennen. Mit anderen Worten: Die russische Elite muss einen inneren Wandel vollziehen. Einen Wandel wie derjenige, der die Franzosen Anfang der 1960er-Jahre dazu bewegte, ihr Kolonial­projekt in Algerien zu beenden – ein Wandel, der mit dem Zusammen­bruch der französischen Verfassungs­ordnung, Attentats­versuchen und einem gescheiterten Staats­streich einherging.

Ein langsamerer, aber ebenso tiefgreifender Wandel geschah in Gross­britannien im frühen 20. Jahrhundert, als die britische herrschende Klasse gezwungen war, die Iren nicht länger als Bauern zu bezeichnen, die nicht in der Lage waren, ihren eigenen Staat zu führen, sondern sie einen solchen schaffen zu lassen.

Wenn das in Russland geschieht, wird der Krieg zu Ende sein. Nicht aufgeschoben, nicht um einen Monat oder ein Jahr verschoben – vorbei.

Niemand weiss, wie und wann dieser Wandel eintreten wird, ob nächste Woche oder im nächsten Jahrzehnt. Aber die Ukrainerinnen hoffen, dass sie die Bedingungen schaffen können, unter denen es zu politischen Schocks und entscheidenden Entwicklungen kommen kann. Vielleicht ist das moderne Äquivalent zur Schlacht von Tsushima eine weitere russische See­katastrophe oder die Rück­eroberung der Stadt Mariupol, deren totale Zerstörung durch russische Streitkräfte im März letzten Jahres einen neuen Mass­stab für Grausamkeit und Schrecken in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg setzte.

Das stärkste Symbol ist jedoch die Krim. Die Annexion der Krim 1783 inspirierte Putins Liebe zu Potemkin. Putins eigene Besetzung und Annexion der Krim 2014 hat seine Präsident­schaft verjüngt. Der Slogan «Krym Nash» – «Die Krim gehört uns» – verbreitete sich in einem Ausbruch imperialistischer Emotionen und sowjetischer Nostalgie in ganz Russland, wurde auf Plakaten und T-Shirts reproduziert und inspirierte eine Reihe von Memes. In diesem Jahr beging Putin den Jahres­tag der Annexion mit einem Besuch auf der Halb­insel, bei dem er in Begleitung lokaler Beamter steif durch ein Kinder­zentrum und eine Kunst­schule schritt.

Die Krim wurde auch für die Ukrainer zu einem Symbol. Die Invasion 2014 markierte den Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine; die anschliessende Annexion warnte die Ukrainerinnen, dass das internationale Rechts­system sie nicht schützen würde. Die Geschichte der Krim­tataren, eines muslimischen Volkes, das vor der Ankunft Potemkins die Mehrheit der Bevölkerung der Halb­insel ausmachte, spiegelt die Geschichte des restlichen Landes wider: Die Tatarinnen waren sowohl unter der zaristischen als auch unter der sowjetischen Herrschaft Ziel von Unter­drückung, Einschüchterung und ethnischer Säuberung. Im Jahr 1944 deportierte Stalin alle Tataren, etwa 200’000 Menschen, nach Zentral­asien. Sie kehrten erst nach 1989 zurück.

Nach 2014 flohen erneut viele Tatarinnen von der Halb­insel; mehr als 100 der Verbliebenen sind politische Gefangene. Die Wieder­herstellung ihrer Rechte und ihrer Kultur ist eines von Selenskis Lieblings­themen. Im April dieses Jahres ehrte er die Krimtataren inklusive ihrer politischen Führer mit einem Ramadan-Abendessen. Die ständige Vertreterin des Präsidenten auf der Krim, Tamila Taschewa, selbst Krim­tatarin, bezeichnet ihr eigenes Volk als «Teil der ukrainischen politischen Nation».

Es gibt bereits Pläne, die Krim zu räumen, sie zu einem Urlaubsort umzugestalten

Die Krim hat auch eine strategische Bedeutung. In den vergangenen neun Jahren hat das Putin-Regime sie von einem Ferien­ort in eine Art russischen Flugzeug­träger verwandelt, der von Schützen­gräben und Befestigungen durchzogen ist. Die Halb­insel beherbergt Gefängnisse für Ukrainer und dient als Dreh­scheibe für den Transport von gestohlenem ukrainischem Getreide.

Im Wissen, dass die Krim zu einer Festung ausgebaut wird, sprechen die Ukrainerinnen von der «politisch-militärischen» Befreiung der Krim, nicht von einer rein militärischen Gegen­offensive. Wenn sie erst einmal die Strassen, Eisenbahn­linien und Wasser­wege zur Halbinsel abgeschnitten und die militärische Infra­struktur mit Drohnen ins Visier genommen haben, so die Vermutung, werden viele russische Einwohner, vor allem Neu­einwanderinnen, zur Überzeugung gelangen, dass sie anderswo besser aufgehoben sind. Einige flohen Berichten zufolge bereits, nachdem es mehrere Explosionen auf der Halb­insel gegeben hatte. «Die Krim werden wir kampflos einnehmen», sagte Verteidigungs­minister Resnikow.

Es gibt bereits detaillierte Pläne für die Räumung der Krim. Tamila Taschewa hat zusammen mit Anwältinnen, Pädagogen und anderen eine «Rückgewinnungs­strategie» ausgearbeitet, die eine grünere, sauberere Krim, einen «modernen europäischen Urlaubsort» vorsieht. Schulen müssen reformiert, unabhängige Medien und das ukrainische politische System wieder­hergestellt werden.

Taschewa wehrt sich gegen die Vorstellung, Russland und die Ukraine könnten sich die Halb­insel teilen: «David und Goliath können sich die Macht nicht aufteilen», sagte sie uns. Was die Krim betrifft, so ist der Unterschied zwischen den beiden Zivilisationen sehr gross. Für Russland ist die Krim ein Militär­stützpunkt und wird es immer bleiben. Für die Ukraine ist die Krim «ein Ort der Vielfalt – unsere Brücke zum globalen Süden». Taschewa will bessere Strassen­verbindungen nach Europa bauen, zerstörte tatarische Denkmäler restaurieren und den Gebrauch der ukrainischen und tatarischen Sprache auf der Halb­insel wiederbeleben.

Pläne zur Beseitigung von Umwelt­schäden, zur Verringerung des Verbrauchs fossiler Brenn­stoffe und zur Wieder­belebung von Kultur­festivals wurden ausgearbeitet, ausgedruckt und ins Englische übersetzt. Wenn sie in die Tat umgesetzt werden, würden sie nicht nur Putins Annexion der Krim im Jahr 2014 rückgängig machen, sondern auch die Potemkinsche Annexion im Jahr 1783.

Ist das ein Hirn­gespinst? Vielleicht. Aber im Februar 2022 sah auch die erfolgreiche Verteidigung von Kiew wie ein Hirn­gespinst aus. Die Drohnen­werkstätten, die Artillerie an der Front, die Software­entwicklerinnen in Kiew – all das lag damals jenseits des Vorstellungs­vermögens der Menschen. Um vorher­zusagen, was in einem Jahr in der Ukraine passieren könnte, muss man also eine Welt herauf­beschwören, die derzeit nicht existiert, und akzeptieren, dass Fantasien manchmal Wirklichkeit werden.

Offiziell äussern sich westliche Politiker klar. Und unter vier Augen?

Teilen die Amerikanerinnen diese Vision? Es stimmt, dass die USA die Ukraine, die kein traditioneller amerikanischer Verbündeter ist, in einem Umfang unterstützt haben, der früher unvorstellbar gewesen ist. Die USA haben die Ukraine mit Geheimdienst­informationen und Waffen versorgt, sich um geflüchtete ukrainische Menschen gekümmert und strenge Sanktionen gegen Russland verhängt.

Bislang ist es zu keiner sekundären Katastrophe gekommen. Trotz tausend gegenteiliger Vorhersagen sind die Europäer im letzten Winter nicht erfroren, als sie gezwungen waren, Alternativen zum russischen Gas zu suchen. Der Dritte Weltkrieg ist nicht ausgebrochen. Aber in den nächsten Monaten, wenn die Ukrainer ihr Bestes geben, um den Krieg zu gewinnen, wird die demokratische Welt entscheiden müssen, ob sie ihnen dabei helfen will. Souveränität, Sicherheit und Gerechtigkeit – sollten die Amerikanerinnen nicht auch wollen, dass der Krieg auf diese Weise endet?

Siwersk, Oblast Donezk: Eine Lagerhalle mit Getreide ist von Granaten und Raketen zerstört worden.
Kupjansk, Oblast Charkiw: Ein Mann auf einem Piaggio Ape in der Nähe der Front.

Ja, natürlich! Das würde jeder hochrangige Beamte der Biden-Admini­stration, jede europäische Aussen­ministerin sagen, wenn man sie offiziell fragen würde. Unter vier Augen sind die Antworten weniger klar. Die Unter­stützung, die die USA der Ukraine bisher gewährt hatten, reichte aus, um der Armee zu helfen, Russland abzuwehren und um Cherson und einige Gebiete in der Region Charkiw zurück­zuerobern. Aber Amerika hat der Ukraine noch keine Kampf­jets oder seine modernsten Langstrecken­raketen zur Verfügung gestellt. Es ist auch nicht klar, ob alle in Washington, Brüssel und Paris glauben, dass es für die Ukraine möglich oder wünschenswert ist, alle seit Februar 2022 verlorenen Gebiete zurück­zuerobern, geschweige denn die 2014 eroberten Gebiete.

Die im April geleakten US-Regierungs­dokumente zeigten eine düstere Einschätzung der ukrainischen Fähigkeiten und sagten voraus, dass weder Russland noch die Ukraine aufgrund «unzureichender Truppen und Versorgung» mehr als «marginale» Gebiets­gewinne erzielen könnten. Dies könnte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sein: Wenn die Ukraine nicht genügend Nachschub erhält, wird sie nicht genügend Nachschub haben. Ein westlicher Beamter sagte uns kürzlich, die Aussicht auf eine Rück­eroberung der Krim durch die Ukraine sei so weit entfernt, dass sein Land keine Notfall­planung dafür vorbereitet habe.

Wenn der Westen nicht für den Sieg plant, wird der Sieg schwer zu erreichen sein.

Offensichtlich fragen sich einige nicht, ob die Gegen­offensive erfolgreich sein kann, sondern ob sie erfolgreich sein sollte. Dahinter versteckt sich die Befürchtung, dass Putin zur Verteidigung der Krim Atom­waffen einsetzen wird – wobei die USA ihm mitgeteilt haben, dass die Antwort darauf «katastrophale Folgen» für Russland hätte. Abschreckung ist wichtig. Der Drang, den Status quo zu erhalten, und die Angst vor dem, was auf Putin folgen könnte, sind ebenso stark.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat offen gesagt, dass Russland besiegt, aber nicht «zerschlagen» werden sollte. Doch selbst der denkbar schlechteste Nachfolger, selbst der blutigste General oder der wütendste Propagandist wäre besser als Putin, weil er schwächer wäre als Putin. Er würde schnell zum Mittel­punkt eines intensiven Macht­kampfes. Er hätte keine grossartigen Träume über seinen Platz in der Geschichte. Er wäre nicht von Potemkin besessen. Er wäre nicht dafür verantwortlich, dass dieser Krieg begonnen hat, und er könnte es leichter haben, ihn zu beenden.

Warten, warten, warten, so viele warten

In den westlichen Haupt­städten hat man sich so stark damit beschäftigt, welche Folgen eine russische Niederlage haben könnte, dass viel zu wenig Zeit darauf verwendet wurde, über die Folgen eines ukrainischen Sieges nachzudenken. Schliesslich sind die Ukrainerinnen nicht die Einzigen, die darauf hoffen, dass ihr Erfolg einen zivilisatorischen Wandel unterstützen kann. Russland, so wie es derzeit regiert wird, verursacht Instabilität, nicht nur in der Ukraine, sondern in der ganzen Welt. Russische Söldner stützen Diktaturen in Afrika; russische Hackerinnen sabotieren politische Debatten und Wahlen in der ganzen demokratischen Welt. Die Investitionen russischer Unternehmen halten Diktatoren an der Macht in Minsk, in Caracas und in Teheran.

Ein ukrainischer Sieg hingegen würde alle Menschen, die für Menschen­rechte und Rechts­staatlichkeit kämpfen, inspirieren. In einem Gespräch in Washington sprach kürzlich ein belarussischer Aktivist über die Pläne seiner Organisation, die belarussische Oppositions­bewegung zu reaktivieren. Im Moment arbeitet sie noch im Geheimen, im Untergrund. «Alle warten auf die Gegen­offensive», sagte er.

Und er hat recht. Die Ukrainer warten auf die Gegen­offensive. Die Europäerinnen, in Ost und West, warten auf die Gegen­offensive. Die Zentral­asiaten warten auf die Gegen­offensive. Weissrussinnen, Venezolaner, Iranerinnen und andere auf der ganzen Welt, deren Diktaturen von den Russen gestützt werden – sie alle warten auf die Gegen­offensive.

In diesem Frühling, in diesem Sommer, in diesem Herbst hat die Ukraine die Chance, die Geo­politik für eine ganze Generation zu verändern. Diese Chance haben auch die Vereinigten Staaten.

Zu den Autorinnen

Anne Applebaum ist mehrfach ausgezeichnete amerikanische Journalistin und Historikerin. Sie ist mit dem einstigen polnischen Aussen­minister Radosław Sikorski verheiratet und lebt seit 2006 in Polen. Jeffrey Goldberg ist Journalist, seit 2016 ist er Chefredaktor des Magazins «The Atlantic».

Dieser Text erschien am 1. Mai 2023 unter dem Titel «The Counteroffensive» in «The Atlantic».

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