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Selber lesen oder verschenken? Wir haben wieder literarische Ostereier versteckt.

Von Daniel Graf (Text) und Julia Plath (Illustration), 28.03.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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«Schaut meine Verse an»

Man soll sich bloss nicht täuschen lassen. Wenn Margherita Costa, um das Jahr 1600 in Rom geboren und einst die schillerndste Autorin des italienischen Barocks, in einem ihrer Gedichte verkündet, sie wolle das Leben nun etwas ruhiger angehen, dann stammt das von einer Schrift­stellerin, die mit lyrischen Maskeraden so virtuos umgeht wie mit poetischen Formen.

Geruhsam ging es bei Margherita Costa nach allem, was man weiss, jedenfalls recht selten zu. Sie war mindestens 15-fache Buchautorin, Kurtisane, Proto­feministin, Räuber­geliebte, Mutter von mindestens fünf Töchtern, Vertraute der Familien, die jeweils die Päpste stellten, und die vielleicht erste Satirikerin des Kontinents. Mit Mitte 40 startete sie eine Karriere als internationaler Opern­star.

Geschrieben hat Costa unter anderem: voluminöse Gedicht­bände, Opern­libretti, eine pornografische «Narren­komödie», die auch als Schimpfwörter­sammlung durchgehen könnte, fiktionale Liebes­briefe, die die Inquisition kurz nach ihrem Tod auf den Index setzt, ein geistiges Epos als Nachweis ihrer umfassenden Läuterung sowie das Skript für ein Pferde­ballett (solche Spektakel aus Dressur­reiten, Schau­kampf, Musik und allerlei Special Effects waren damals in Florenz der hot shit – das Werk von Costa ist trotzdem nie zur Aufführung gekommen).

Knapp 400 Jahre später hat nun die Schrift­stellerin Christine Wunnicke in einer echten Heldinnen­tat Margherita Costa dem Vergessen entrissen und eine Auswahl ihrer Texte in ein fulminantes Deutsch gebracht. Costas Schalk klingt dann zum Beispiel so:

Schaut meine Verse an und gebt gut Acht:
Ihr findet, statt Daktylen und Spondeen,
nur Backpapier, worin man Braten macht.

«Scusandosi Autora» hiess damals eines ihrer ersten Gedichte in Terzinen: «Die Autorin entschuldigt sich.» Solche Demuts­gesten ziehen sich durch Costas Texte – und sind doch nur ein bewährter Trick, mit dem sich umso leichter Regeln brechen und gesellschaftliche Konventionen über den Haufen werfen lassen.

Costa spielt permanent mit doppeltem Boden; gesellschaftliche Rollen­erwartungen und misogyne Klischees treibt sie satirisch auf die Spitze:

sì, sì, Donne, se vuolete
di filar solo godete
chi la Donna sol dèe fare
l’esercizio del filare.

ja, ja, Frauen, bitte tut es,
spinnt den Faden guten Mutes,
ihr könnt im Leben nichts gewinnen
ausser Spinnen, Spinnen, Spinnen.

Costas spöttischer Anarchismus gegen das, «was sich ziemt», ist auch in den deutschen Fassungen mit Händen zu greifen. Und ein furioses Stück Literatur eröffnet diesen funkelnden Band: das knapp 70-seitige Autorinnen­porträt, mit dem Christine Wunnicke Margherita Costa ein Denkmal setzt.

Poetische Dystopie

Die namenlose Hafen­stadt, die hier von einer Öko­katastrophe heimgesucht wird, könnte Montevideo sein, die Geburts­stadt von Fernanda Trías. Oder jede andere Hafenstadt.

Der «Rote Wind» treibt zuerst massen­weise tote Fische an die Ufer, dann trägt er die Verheerung in die Strassen. Masken­tragende Polizisten montieren Schilder mit der Aufschrift «Sperrzone». Überall Algen und Müll, Sirenen­geheul. Die Reicheren sind bereits ins Landes­innere geflüchtet. Und ein Taxifahrer fragt die Frau, der wir durch dieses endzeitliche Szenario folgen: «Hast du mal gesehen, wie diese Infizierten zugerichtet sind?»

Die uruguayische Autorin Fernanda Trías erzählt in ihrem Roman «Rosa Schleim» von einer Öko­katastrophe und einer tödlichen Epidemie, und nun muss man vielleicht dazusagen, dass das Buch im Original bereits 2020 erschien und die Autorin es schon beendet hatte, bevor die Welt von Covid-19 erfuhr.

Trías’ Protagonistin, seit kurzem getrennt von ihrem Mann, kümmert sich gegen Bezahlung um einen adipösen Jungen, der dauerhaft Hunger verspürt.

Wann sie das Geld beieinander­habe, um wegzugehen, wird sie von ihrer Mutter gefragt. Ein paar Monate noch, antwortet die Frau, doch in Wirklichkeit hat sie die Summe längst zusammen, sie kann sich nur, «genau wie die Fischer, einfach nicht vorstellen, anderswo zu sein». Also bleibt sie fürs Erste in diesem Inferno, wo alle nur darauf warten, dass es den Vögeln bald ebenso ergeht wie den Fischen.

Aber nein. Die Vögel blieben weg. Niemandem fiel das auf, denn sie verschwanden ganz allmählich, in Schwärmen (…) Die Vögel liessen uns mit dem Roten Wind allein.

Es sind verschiedene und allesamt drängende Gegenwarts­themen, von denen dieser Roman, der von Petra Strien übersetzt wurde, handelt: von Einsamkeit, Care-Arbeit, von biologischer und sozialer Eltern­schaft. Vor allem aber verhandelt Fernanda Trías den drohenden Öko­kollaps, und sie tut es in poetischen, fast kontemplativen Bildern. Dass das gelingt, macht «Rosa Schleim» zu einem ausser­gewöhnlichen Roman.

75, 76, 43

Über Jahrzehnte waren die «Fünfund­siebzig Blätter» vor allem ein Mythos. Dass Marcel Proust sie im Jahr 1908 beschrieben hatte und dass dieses Konvolut eine Vorstufe war zu seiner «Suche nach der verlorenen Zeit», also der Keimzelle zu einem der grössten Werke der Welt­literatur, all das wusste man, seit der Verleger und Proust-Forscher Bernard de Fallois 1954 in einem Vorwort darüber geschrieben hatte. Nur: Als der Proust-Nachlass 1962 an die Bibliothèque Nationale ging, waren die «Fünfund­siebzig Blätter» nicht dabei und galten fortan als verschollen.

Jahrzehntelang wurde gesucht und spekuliert – bis man die «Fünfund­siebzig Blätter» nach dem Tod von Fallois 2018 in dessen Wohnung fand. Eine Sensation. Oder, wie der Proust-Forscher Jean-Yves Tadié nüchtern formulierte: «ein heiliger Augenblick».

Es mag am Beistand von oben gelegen haben oder nicht, das Timing jedenfalls war exzellent, denn so konnten die «Fünfund­siebzig Blätter» gerade rechtzeitig zu Prousts 150. Geburtstag 2021 fertig ediert auf dem Gaben­tisch landen. Seit kurzem sind sie, umfassend kommentiert, auch in einer hochwertigen Leseausgabe auf Deutsch zu haben.

Wobei die «Fünfund­siebzig Blätter» in Wirklichkeit 76 sind. Oder um genau zu sein: 43 Doppelbögen, ergo 86 Blätter, von denen Proust allerdings 10 unbeschrieben liess. Sie kommen noch mit?

Vergessen Sie die Zahlen wieder. Der Mythos ist ohnehin stärker als philologische Pedanterie, deshalb werden diese Texte auf immer die «75 feuillets» bleiben. Und der Auftakt zu einem Jahrhundert­roman. Begeisterte Proustiens können mit der Konkordanz der neuen Ausgabe sogar die Spuren einzeln nachverfolgen, die von den «Fünfund­siebzig Blättern» zum späteren Roman­zyklus führen. Oder aber man taucht einfach ein in diese frühen Entwürfe, in denen man nicht nur bereits Prousts weiten Satzbögen begegnet, sondern auch vielen Figuren und einigen Orten der «Recherche», zum Teil noch unter anderen Namen.

Da sind schon die Dramen vor dem Einschlafen des kleinen Marcel. Da ist die Mutter, die, wie in Prousts echtem Leben, noch Jeanne heisst, bevor sie im Roman nur noch «Maman» genannt wird. Prousts Gross­mutter Adèle taucht in den «Fünfund­siebzig Blättern» ebenfalls mit Vornamen auf, später wird Proust ihn tilgen. Auch an solchen Details lässt sich beobachten, wie der Autor sukzessive Leben in Literatur überführt.

Auf eines sollte man in den «Fünfund­siebzig Blättern» allerdings nicht warten: eine Madeleine-Szene oder irgendeine andere Spiel­art der berühmten mémoire involontaire. Lediglich an den «Geruch des Tees» muss Marcel hier schon mal kurz denken. Bis zum literarisch heiligen Augen­blick sollten da noch ein paar Jahre vergehen.

Gunst, Dunst, Kunst

Sie brauchen etwas Erholung von der olympischen Höhen­luft? Auftritt Philip Sass.

Ich gab ihr einen Rad-Rat,
worauf sie um ein Bad bat.
Doch weil ich nur ein Boot bot,
schlug mich ihr Freund, der Tod, tot.

Man sieht: Das Humor-Gedicht holt seiner Pointen Keim noch immer aus dem Reim. Und weil Reime, rührend oder geschüttelt, bei Philip Sass wie aus dem Ärmel kommen, ist sein Band «Abschaffung der Schwerkraft» auch recht passend betitelt.

Der Lyriker Ulf Stolterfoht hat vor ein paar Jahren hinsichtlich Reimzwang noch die Losung ausgegeben: «notfalls kanns assonanz». Bei Philip Sass gilt nun: Notfalls sprich mit Trennungsstrich.

Der Wind weht sacht,
ja: lind. Und in d-
er Ferne lacht
ein Kind.

Man muss schon ziemlich leicht­füssig durch die lyrische Formen­landschaft stänzeln, um wie Sass den «Schuh» klanglich einfach mal auf «Secu-» (rity) abzustellen. Und was reimt sich auf «Liebe»? Natürlich «nie be-» (griffen).

Noch ein bisschen Natur­lyrik? Bitte sehr, hier kommt die Mittel­strophe aus «Lüneburger Heide. Eine Urlaubs­kritik»:

Mal blökt ein Schaf. Mal blüht ein Kraut.
Tourist, du hast mein Beileid:
denn falls das Schaf das Kraut bekaut,
dann gilt das schon als Highlight.

Highlight­verdächtig sind – wie es sich für einen «Titanic»-Beiträger gehört – auch die politischen Satiren. Schwurbler, rechte Bürger­wehren oder Querdenker kriegen darin ordentlich auf die Mütze respektive den Aluhut.

Jedenfalls hat schon länger kein Gedicht­band mehr so viel Hoffnung gestiftet, dass auch in deutsch­sprachigen Gefilden in Sachen Humor vielleicht noch nicht alles verloren ist. Wir empfehlen also die Anschaffung der «Abschaffung» (Anspieltipp: «Tellkamps Lied»), beantragen die Aufnahme von Philip Sass in die Ahnen­reihe der Neuen Frankfurter Schule und geben ambitionierten Jungpoeten folgende Sassische Ode mit auf den Weg:

Wenn du dichten willst, beginn halt. Sorg dich bloss nicht um den Inhalt (…)

Find ein Versmass und bespiel es (aber kein zu diffiziles),
und wenn dir keins einfällt: Stiehl es!

Apropos. Wir haben einen Buchstaben­klau anzuzeigen und senden deshalb folgendes PS an P.S.:

Redaktionelles Bekenner­schreiben in braven Reimen

Irgendwer hat ungeniert
Sassens Namen massakriert.
Denn normalerweise hätt
Philip Sa- noch ein Eszett.
Dies zu rauben: nicht so nett –

allerdings auch nicht beliebig,
vielmehr: schwiizerische Schriebig.
(Gilt halt auch bei Namen.
Amen.)

Ikone der Chicago Black Renaissance

Gwendolyn Brooks gehört zu den bedeutenden Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. In ihrer ganz eigenen Verbindung von klassischen Formen und Blues-Rhythmen fing sie mit ihren Gedichten die Lebenswelt der schwarzen US-Arbeiter­klasse und der armen Bevölkerung Chicagos ein. 1950 gewann sie für ihren zweiten Gedicht­band «Annie Allen» den Pulitzerpreis – es war das erste Mal, dass die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes an eine schwarze Autorin oder einen schwarzen Autor ging. Noch heute ist Brooks für junge Schreibende ein Vorbild, Dichterinnen wie Amanda Gorman nennen sie als wichtige Inspiration.

Einen Lyrikband von Gwendolyn Brooks gibt es noch immer nicht auf Deutsch. Immerhin aber nun ihren einzigen Roman, «Maud Martha», im Original 1953 erschienen und ein Werk, das man heute dem Genre der Auto­fiktion zuordnen würde.

Brooks zeichnet, mit deutlich auto­biografischen Zügen, das Porträt einer schwarzen Frau namens Maud Martha Brown, die in den 1920ern in der South Side von Chicago aufwächst und die wir bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs begleiten. Erzählt wird aber nicht in weit ausholenden Entwicklungs­linien, sondern in einer Abfolge kurzer Vignetten von jeweils 2 bis 4 Seiten – wer etwa das Werk von Claudia Rankine kennt, kann an «Maud Martha» beobachten, wie viel auch die Gegenwarts­prosa Gwendolyn Brooks verdankt.

Nicht länger als 140 Seiten ist ihr Roman, zusammen­gesetzt aus verdichteten Alltags­szenen: der Schulweg, erste Dates, das Beziehen der ersten eigenen Wohnung, Episoden aus dem Eheleben, eine Szene im Kosmetik­salon. In knappen Strichen, aber ungeheuer plastisch fängt Brooks das Innen­leben ihrer Haupt­figur ein und hat zugleich einen scharfen Blick für soziale Rahmen­bedingungen, für die Gesellschaft der groben und feinen Unterschiede.

Auf erzählerisch engstem Raum macht Brooks den tief verankerten Rassismus in seinen sublimierteren und seinen grellen Formen sichtbar – wofür sie ihre Figuren auch das N-Wort verwenden lässt, das der deutsche Verlag «in enger Absprache mit dem Brooks Estate» in der Übersetzung beibehält.

Nicht zuletzt zeigt Brooks literarisch auf, wie perfide der Rassismus auch in die Selbst­wahrnehmung derer eindringt, die ganz konkret unter ihm leiden. Nur ein Beispiel, als die jugendliche Maud mit einem weissen Mann anbändelt und er sie erstmals zu Hause besucht:

Was spürte sie jetzt? Keine Angst, nein, keine Angst. Eine Art Dankbarkeit! Ekelhaft war das. Als ob Charles’ Kommen ein Geschenk wäre.

«Maud Martha» ist – in leisen, aber bestimmten Tönen – auch ein Buch gegen falsche Selbst­beschwichtigungen, gegen jegliches Sich­abfinden mit Abwertung und Herab­setzung. Und es ist ein Roman über würdevolle Selbst­behauptung in einer Gesellschaft, die eben dies nicht vorgesehen hatte.

Noch ein PS

Bislang nichts dabei für Sie? Einfach unverzagt weiter­stöbern. Die Gegenwarts­literatur ist womöglich vielfältiger denn je, und vermutlich hat es schon sehr lange nicht mehr derart viele Wieder­entdeckungen gegeben wie in den letzten Jahren – Stichwort Kanon­revision.

  • Soeben erst hat der Autor und Hochschul­dozent Adam Bradley im Style-Magazin der «New York Times» einen neuen Kanon der Black American Literature vorgeschlagen.

  • Die ohnehin immer empfehlens­werte Zeitschrift «Schreibheft» hat sich in ihrer 100. Ausgabe der Wieder­entdeckung verschrieben: Frank Witzel stellt «100 Vergessene, Verkannte, Verschollene» vor.

  • Wer vor schwierigen Themen und ambitionierter Machart nicht zurückschreckt, kann – in Buchform und ebenfalls im «Schreibheft» – die Text­landschaften der österreichischen Autorin Marianne Fritz (1948–2007) erkunden: ihres Zeichens Spezialistin für hochkomplexe Mehrtausend­seiter, aktuell aber auch mit einem novellenhaften 150-Seiten-Roman wieder­zuentdecken.

  • Und wenn Ihr Herz für die Satire schlägt: Schauen Sie doch mal bei der «Petarde» vorbei.

Frohes Lesen!

Zu den Büchern

Margherita Costa: «Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht». Porträt, Werk­auswahl und Übersetzung von Christine Wunnicke. Berenberg, Berlin 2023. 352 Seiten, ca. 43 Franken.

Fernanda Trías: «Rosa Schleim». Roman. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Claassen, Berlin 2023. 288 Seiten, ca. 33 Franken.

Marcel Proust: «Die fünfundsiebzig Blätter und andere Manuskripte aus dem Nachlass». Heraus­gegeben von Nathalie Mauriac Dyer. Aus dem Französischen von Andrea Spingler und Jürgen Ritte. Suhrkamp, Berlin 2023. 302 Seiten, ca. 40 Franken.

Philip Sass: «Abschaffung der Schwerkraft». Gedichte. Container Press, Walheim 2023. 140 Seiten, ca. 14 Franken.

Gwendolyn Brooks: «Maud Martha». Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber. Manesse, München 2023. 160 Seiten, ca. 32 Franken.

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