Am Gericht

Eine «resiliente Frau»

Sie beschuldigt ihn schwer – doch am Prozess zieht sie ihre Aussagen plötzlich zurück. Dann zerrt er sie vor Gericht. Ein Ehedrama, das die Grenzen des Strafrechts zeigt.

Von Brigitte Hürlimann, 21.12.2022

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Es gibt im Straf­verfahren zwei Grund­sätze, die sind in keinem Gesetz wortwörtlich festgeschrieben, spielen aber eine zentrale Rolle – in fast jedem Fall, der in die Mühlen der Strafjustiz gerät.

Zum einen hat die Staats­anwaltschaft zu entscheiden, ob sie Anklage erheben soll oder ob die Sache anders beendet wird: mit einer Einstellung oder einer Nicht­anhandnahme. Die Straf­verfolger entscheiden sich in aller Regel für eine Anklage (oder für einen Strafbefehl). Sie berufen sich auf den Grundsatz in dubio pro duriore: im Zweifel für eine Anklage­erhebung. Die Staats­anwältinnen verzichten nur dann auf den Gang vor Gericht, wenn sie felsenfest überzeugt sind, dass keine strafbaren Handlungen vorliegen. Sie haben übrigens auch die Möglichkeit, Anklage zu erheben und einen Freispruch zu fordern – was selten passiert.

Der zweite Grundsatz betrifft den Strafprozess. Die Richter beugen sich über die Sache, die ihnen von der Staats­anwaltschaft präsentiert wird (was der kleinste Anteil aller Fälle ist, über 90 Prozent werden per Strafbefehl erledigt). Sie schauen sich die Beweislage an, hören die Argumente der Verteidigerinnen, der Geschädigten­vertreter und der Staatsanwälte. Bleiben danach erhebliche, unüberwindbare Zweifel hängen, fällen die Richterinnen einen Freispruch: in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.

Beide Grundsätze, in dubio pro duriore und in dubio pro reo, spielen im Fall eines Ehedramas, das vor dem Zürcher Obergericht landet, eine wesentliche Rolle.

Ort: Obergericht des Kantons Zürich, Zürich
Zeit: 1. Dezember 2022, 8 Uhr
Fall-Nr.: SB220167
Thema: sexuelle Nötigung, versuchte sexuelle Nötigung, Drohung, Nötigung, Tätlichkeiten

Es gibt eine Anklageschrift, knappe zehn Seiten ist sie lang, verfasst von der Staats­anwaltschaft I des Kantons Zürich. Was dort beschrieben wird, ist haarsträubend.

Eine Ehefrau soll ihren Mann mehrfach übel malträtiert haben: an den Ohren gezogen, in die Brust gebissen, geohrfeigt, immer wieder angeschrien und bedroht, ihn an den Genitalien gezwackt – und, so der schlimmste Vorwurf: Sie soll den Gatten im Dezember 2019 gegen seinen Willen zum Sex gezwungen haben. Das sei ihr in einem Fall vollends gelungen, bei anderer Gelegenheit habe sie es bloss versucht, schreibt die Staats­anwaltschaft.

Nach dem heute (noch) geltenden Sexual­strafrecht wird eine solche Handlung als sexuelle Nötigung qualifiziert; nicht als Vergewaltigung, aber die maximale Straf­androhung ist bei beiden Delikten die gleiche: Freiheits­strafe bis zu zehn Jahren.

Beschuldigte und mutmassliche Täterin in diesem Verfahren ist also die Frau, mutmassliches Opfer der Mann. Und wie fast immer bei Sexual­straffällen handelt es sich um ein Vier-Augen-Delikt. Nur die Frau und der Mann wissen, was geschehen ist. Sie schildern Vorfälle, für die es keine Zeugen und kaum Spuren gibt – und die Aussagen gehen diametral auseinander.

Die Anklage­schrift basiert vor allem auf den Aussagen des Ehemanns. Staats­anwältin Bettina Groth bezeichnet diese als glaubhaft und den Mann als «deutlich glaubwürdiger» als die Frau. Die 40-jährige Kosovarin stelle ihn als den Haupt­schuldigen dar, negiere alles, was ihr vorgehalten werde, und zeige «absolut keine Einsicht». Gleichzeitig könne die Frau nicht erklären, warum der Mann sie falsch beschuldigen sollte.

«Etwas Derartiges lässt sich niemand einfallen»

Für die Staats­anwältin war deshalb klar, dass der Fall vor ein Strafgericht gehört, in dubio pro duriore. Die Beschuldigte sei zu verurteilen und zu bestrafen – und zwar streng. Die erste Instanz, das Bezirks­gericht Dielsdorf, folgt den Anträgen der Anklägerin weitgehend. «Etwas Derartiges» lasse sich niemand einfallen, heisst es im Urteil vom März 2021.

Und: «Ausserdem ist nicht anzunehmen, dass ein Mann (und dann noch albanischer Herkunft) grundlos behaupten würde, von seiner Ehefrau geschlagen, bedroht und sexuell genötigt worden zu sein.» Die Beschuldigte sei überdies eher klein und zierlich. Sogar der Mann räume ein, ihr körperlich überlegen zu sein. So stehts wortwörtlich im hundert Seiten dicken Entscheid aus Dielsdorf.

Die Mutter von drei Kindern wird nur in einem einzigen der vielen Anklagepunkte, der einfachen Körper­verletzung, freigesprochen. Auf einen Landesverweis, wie von der Staats­anwaltschaft gefordert, verzichtet das Bezirksgericht. Es liege ein «schwerer persönlicher Härtefall» vor.

Schuldsprüche gibt es wegen sexueller Nötigung, versuchter sexueller Nötigung, wegen mehrfacher Drohung und Nötigung sowie wegen wiederholter Tätlichkeiten. Die Frau wird zu einer Freiheits­strafe von 42 Monaten verurteilt, zu einer Busse plus zu einer stationären therapeutischen Massnahme – weil die Delikte mit einer psychischen Erkrankung in Zusammenhang stünden, so die Auffassung des Bezirksgerichts Dielsdorf.

Es spricht eine ungewöhnlich harte Strafe aus. Was mit einer längeren Vorgeschichte zu tun hat. Das Ehedrama hat nämlich schon Jahre vorher begonnen und eskaliert im Herbst 2015 ein erstes Mal. Mit umgekehrten Vorzeichen.

Plötzlich nimmt sie ihre Aussagen zurück

Damals ist es die Frau, die gegen ihren Gatten Straf­anzeige einreicht, unter anderem wegen mehrfacher Vergewaltigung, häuslicher Gewalt und Drohungen.

Der Mann wandert für fünf Monate in Untersuchungs­haft. Kaum wieder draussen, so erzählt es die Verteidigerin der Ehefrau, Ganden Tethong, habe er die Gattin aufgesucht. Und ihr und ihrem Bruder mit dem Tode gedroht, falls sie ihre Anzeige nicht zurückziehe. Was sie dann auch tut. Im Oktober 2016, am Strafprozess gegen ihren Ehemann, erklärt sie, ihre Aussagen seien unwahr. Der Mann wird freigesprochen – und setzt dann gegen die Frau ein erstes Strafverfahren wegen falscher Anschuldigung und qualifizierter Freiheits­beraubung in Gang. Das Bezirksgericht Zürich verurteilt sie im April 2018 zu einer bedingten Freiheits­strafe von 20 Monaten, bei einer Probezeit von zwei Jahren.

Die Eheleute leben nach dieser Episode mit den drei gemeinsamen Kindern wieder im gleichen Haushalt, doch die Beziehung steht unter einem denkbar schlechten Stern.

Ende 2019 ist es der Mann, der eine Strafanzeige gegen seine Frau einreicht: wegen der eingangs erwähnten sexuellen Nötigung und der vielen anderen Vorwürfe. Die Frau landet in Untersuchungs­haft – und kassiert ihre zweite Verurteilung. Das Bezirksgericht Dielsdorf widerruft dabei die frühere, bedingt ausgesprochene Freiheits­strafe von 20 Monaten und fällt eine neue Gesamtstrafe von 42 Monaten. Diese wird zugunsten der stationären therapeutischen Massnahme aufgeschoben.

Die Ehefrau kommt in die geschlossene Psychiatrie. Und entscheidet sich, mit einer neuen Verteidigerin gegen die Verurteilung anzugehen. Zusammen mit Rechts­anwältin Ganden Tethong kämpft sie um einen Freispruch. Aber auch Staats­anwältin Bettina Groth legt Berufung gegen den Dielsdorfer Entscheid ein. Sie verlangt vor Obergericht eine strengere Strafe für die Frau: 54 Monate Freiheits­strafe, nicht «nur» 42 Monate.

Ein dramatischer Auftritt vor Obergericht

Und so trifft das Ehepaar, das inzwischen getrennt lebt, vor dem Zürcher Obergericht wieder aufeinander. Die Berufungs­instanz hat den Mann und mutmasslich Geschädigten als Auskunfts­person aufgeboten. Die drei Richter wollen direkt von ihm hören, was geschehen ist, was der Grund für seine Anzeige war.

Sie stellen ihm viele Fragen. Und hören nicht viel Brauchbares.

Sobald die richterlichen Fragen eindringlicher werden, wenn von Ungenauigkeiten, Widersprüchen und Erinnerungs­lücken die Rede ist oder wenn der Gerichts­vorsitzende Christian Prinz darum bittet, die Fragen zu beantworten und nicht abzuschweifen, macht der Mann nicht mehr mit. Sein Tonfall wird immer ungehaltener, was ihm eine richterliche Rüge einträgt.

Irgendwann klopft er dann mit der Faust aufs Pult, bricht in ein Schluchzen aus und sagt, er könne nicht mehr, er habe das alles schon so oft gesagt, es stehe doch in den Akten, er wolle nicht mehr darüber reden, jetzt sei Schluss, er gehe jetzt.

«Mein Herr, mein Herr, ich halte es nicht mehr aus.» Sagts, stülpt sein Käppi auf den Kopf und steht auf.

Der Gerichts­vorsitzende ordnet eine Prozesspause an.

Die Anwältin des Ehemanns, Milena Stark Bürki, wird angewiesen, während der Pause abzuklären, ob der Geschädigte von seinem Aussage­verweigerungs­recht Gebrauch machen wolle, was sein gutes Recht sei. Nach dem kurzen Unterbruch ist klar, dass der Mann nicht weiter aussagen will. Er verlässt den Gerichtssaal.

Christian Prinz fragt Staats­anwältin Bettina Groth: «Wird an der Anklage festgehalten?»

Antwort: «Ja, natürlich.»

Sie arbeitet, schmeisst den Haushalt, schaut zu den Kindern

Der Prozess nimmt seinen Gang, als Nächstes wird die Beschuldigte ausführlich befragt. Sie antwortet ruhig, kurz und knapp, ohne Tränen und Gefühls­ausbrüche. Und sagt:

  • Es gehe ihr inzwischen gut.

  • Sie habe nach der Entlassung aus der Psychiatrie innert kurzer Zeit eine Wohnung und eine Arbeitsstelle gefunden.

  • Sie lebe heute mit der Tochter zusammen, die Söhne seien beim Mann, aber sie sehe die beiden regelmässig.

  • Es sei ihr gelungen, nicht sozialhilfe­abhängig zu werden, das sei ihr enorm wichtig.

  • Sie wolle sich scheiden lassen, und zwar einvernehmlich.

  • Die Vorwürfe des Mannes, all das, was in der Anklage­schrift stehe, treffe nicht zu.

Die 40-jährige Frau schildert, wie sie früher, als sie noch mit ihrem Ehemann zusammen­lebte, überfordert und überarbeitet gewesen sei. Sie habe zu hundert Prozent gearbeitet (der Mann zumindest vorübergehend nicht), den Haushalt geführt und zu den drei Kindern geschaut. «Ja, manchmal habe ich die Kinder angeschrien, wenn sie nicht gehorchten, einfach, weil ich so fertig war. Und ja, der Mann und ich haben gestritten. Ich habe ihn aber nie bedroht und schon gar nicht zum Sex gezwungen.»

Verteidigerin Ganden Tethong spricht von einer «resilienten Frau», die in ihrem Leben nicht viel Glück erfahren habe.

Ihre Eltern trennten sich früh, als kleines Kind kam sie mit der Mutter nach Deutschland und musste dort lange in einer Unterkunft für Asylsuchende leben. Weil die Familie sozialhilfe­abhängig war, durfte sie nicht in Deutschland bleiben. Nach zehn Jahren ging es zurück in den Kosovo, wo die junge Frau als ungelernte Näherin arbeitete – und ihren späteren Ehemann kennenlernte. 2006 zog sie zu ihrem Gatten in die Schweiz, wo sie bis heute lebt und arbeitet. «Mit harter Arbeit, Beharrlichkeit und Fleiss hat es die Frau geschafft, innert dreier Monate nach ihrer Entlassung aus der geschlossenen Psychiatrie wieder auf eigenen Füssen zu stehen», sagt die Verteidigerin.

Tethong zerpflückt die Aussagen des Ehemanns, legt dem Obergericht einen Widerspruch nach dem anderen vor und erwähnt insbesondere die suggestiven Fragen der Staats­anwaltschaft und der erst­instanzlichen Richter. Auf solche Aussagen und Antworten, so die Verteidigerin, könne nicht abgestellt werden. Ihre Mandantin sei freizusprechen. Das Bezirksgericht Dielsdorf habe «ins Auge springende Lügen­signale» des Mannes ignoriert und willkürlich entschieden.

Strahlend wie die Weihnachts­beleuchtung

Das Schlusswort gebührt der Beschuldigten. Sie beteuert nochmals, dass ihr Sachen vorgeworfen würden, die sie nicht getan habe. Das dreiköpfige Obergerichts­gremium hört ihr zu, beendet die Verhandlung und zieht sich zur geheimen Urteils­beratung zurück.

Der Entscheid wird in den frühen Abendstunden eröffnet. Es ist ein vollumfänglicher Freispruch – in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo.

Der Gerichts­vorsitzende Christian Prinz erläutert: Es gehe um ein klassisches Vier-Augen-Delikt, ausser den Aussagen des Ehepaars lägen keine anderen direkten Beweise vor. «In einer solchen Konstellation müssen die belastenden Aussagen qualitativ deutlich besser sein.»

Bei den Schilderungen beider Beteiligter, so der Richter, gäbe es grosse Fragezeichen; ebenso, was die Glaub­würdigkeit der Personen betreffe. Beide hätten teilweise unwahre Angaben gemacht, aber eben: «Die Aussagen des Mannes hätten deutlich überzeugender sein müssen als jene der Beschuldigten. Und das sind sie nicht.» Der Ehemann habe weder konstant noch präzise ausgesagt und nicht nachvollziehbare Erinnerungs­lücken geltend gemacht. «Diese Auffälligkeiten konnten nicht geklärt werden. Auch heute vor Gericht nicht.»

Die Frau erhält eine Genugtuung von 150’000 Franken zugesprochen, weil sie über zwei Jahre in Haft war – im Gefängnis und anschliessend in der geschlossenen Psychiatrie. Für die Zeit, in der sie nicht arbeitstätig sein konnte, erhält sie eine reduzierte Entschädigung für den entgangenen Lohn.

Es ist stockdunkel und kalt draussen, als die Freigesprochene zusammen mit ihrer Verteidigerin das Gerichts­gebäude am Rande der Zürcher Altstadt verlässt. Sobald sie draussen ist, holt sie das Handy aus der Tasche.

Sie müsse sofort ihre Tochter informieren, sagt sie entschuldigend. Und strahlt dabei wie die Weihnachts­beleuchtung in den engen Gassen.

Staatsanwältin Groth hat sich für die Urteils­eröffnung entschuldigen lassen. Sie wird nun entscheiden müssen, ob sie den Freispruch des Obergerichts vor Bundesgericht ziehen will. Tut sie es nicht, nimmt das Ehedrama womöglich endlich ein Ende.

Illustration: Till Lauer

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