Das Martyrium der ungeliebten Tochter
Vater und Stiefmutter misshandeln über Jahre ihr Kind. Sie werden streng bestraft. Doch die Frage bleibt: Hätte das Leiden der Tochter nicht viel früher auffallen und beendet werden müssen?
Von Brigitte Hürlimann, 19.10.2022
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In diesem Beitrag werden Misshandlungen an einem Kind und Herabwürdigungen geschildert.
«Wir haben eine gesellschaftliche Pflicht den Kindern gegenüber», sagt der Advokat Patrick Fassbind, der im Kanton Basel-Stadt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) leitet. Den Kindern zuliebe sollten Fachpersonen wie Lehrerinnen aber auch Nachbarn, Freunde oder Angehörige lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zum Telefon greifen, um sich beraten zu lassen – und die Scheu gegenüber der Kesb überwinden. «Wir sind in erster Linie dazu da, die Familien zu unterstützen und ihnen zu helfen, wenn sie überfordert sind. Sie nehmen diese Hilfe meist noch so gerne an. Die allerwenigsten Eltern sind kriminell», sagt Fassbind.
Zu diesen wenigen, aber schlimmen Ausnahmen gehört ein Elternpaar, das Ende September vom Bezirksgericht Zürich wegen schwerer Körperverletzung verurteilt und streng bestraft worden ist. Doch sogar dieser Vater und diese Stiefmutter beteuern am Strafprozess, dass es ein grosser Fehler gewesen sei, keine Hilfe geholt zu haben – aus Scham und weil sie gedacht hätten, die Überforderungssituation selber meistern zu können.
Unabhängig davon, wie viele dieser Beteuerungen reine Schutzbehauptungen sind, um im Strafverfahren glimpflich davonzukommen: Die unsägliche, acht Jahre dauernde Leidensgeschichte der Tochter nahm erst dann endlich ein Ende, als eine Schulbehörde die Kesb informierte.
Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 1. September 2022, 8.30 Uhr (Verhandlung) und 29. September 2022, 15.30 Uhr (Urteilseröffnung)
Fall-Nr.: DG220018 und DG220019
Thema: schwere Körperverletzung
Zwei Anklageschriften, sie sind je siebzehn Seiten lang. Was dort von Staatsanwältin Sabine Schwarzwälder minutiös aufgeführt und geschildert wird, ist schwer erträglich. Beschuldigt werden ein Vater und dessen Ehefrau, die Stiefmutter des betroffenen Kinds. Das Mädchen war sieben Jahre alt, als das innerfamiliäre Martyrium begann, und es war ein gebrochener, verletzter, tief unglücklicher und suizidgefährdeter Teenager im Alter von fünfzehn, als es endlich aus der Misere befreit wurde.
Sie sei selbst erstaunt, dass sie noch lebe, nach alldem, was sie mitgemacht habe, sagte die junge Frau in der Strafuntersuchung gegen die Eltern aus. Heute lebt sie teilbetreut in einer Wohnung und hofft, die Matura nachholen und studieren zu können. Sie möchte Kinderanwältin werden. Doch vorerst kämpft sie gegen Schlafstörungen und Erschöpfungszustände. Die Ärztinnen diagnostizierten eine schwergradige depressive Symptomatik und eine Belastungsstörung.
All das, sagt Anwältin Veronika Imthurn vor dem Bezirksgericht Zürich, sei die Folge des mehrjährigen, unmenschlichen, grausamen und sadistischen Erziehungs- und Strafsystems, dem das Kind acht Jahre lang ausgesetzt worden sei. Das Mädchen habe es nicht gewagt, jemandem davon zu erzählen. Es habe sich verleugnet, um überleben zu können, seine Persönlichkeit fast ausgelöscht. In der Anklageschrift heisst es dazu, das Mädchen habe geschwiegen, weil es in ständiger Angst gelebt und weitere Schläge, ja sogar den Tod befürchtet habe.
Die junge Frau wird dieses Jahr volljährig. Sie hat es sich nicht zugemutet, am Strafprozess gegen die Eltern anwesend zu sein, ihnen begegnen zu müssen, ihnen zuzuhören. Anwältin Imthurn vertritt in der Rolle als Geschädigtenvertreterin die Rechte ihrer Mandantin und fordert eine Genugtuung von 80’000 Franken.
Und was sagen die Eltern? Die beiden Beschuldigten?
Sie geben einen Teil der Vorwürfe zu, aber längst nicht alle. Auch vor Gericht betonen sie ihre Überforderungssituation. Und die Stiefmutter ihre eigene, schwere Kindheit und Jugend. Das Mädchen sei ein schwieriges Kind gewesen, sagen die zwei übereinstimmend. Und ja, sie hätten Fehler gemacht. Hätten Hilfe holen müssen. Das sei ihnen im Nachhinein bewusst. Heute würden sie ganz anders reagieren, das hätten sie inzwischen gelernt. Aber das Mädchen übertreibe auch. Es stimme nicht alles, was sie sage und was in der Anklageschrift aufgeführt werde.
Das wenige, was die Eltern zugeben, ist allerdings schlimm genug. Und was auffällt: Die Familie zog innerhalb dieser acht Jahre, in denen die Stieftochter gequält wurde, immer wieder um, von einem Kanton in den anderen.
Das könnte mit ein Grund sein, sagt Patrick Fassbind, Leiter der Kesb Basel-Stadt, dass die Behörden nicht schon früher eingegriffen hätten. Fassbind ist in den Fall nicht involviert, in Basel hat die Familie nie gelebt, sondern in der Zentralschweiz, im Aargau und am Schluss im Kanton Zürich, wo die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde von der Schule informiert wurde – und sofort eingriff.
Die Eltern räumen ein, dass die Tochter einmal mit einem Schneidebrett geschlagen, einmal im Bett gefesselt und einmal in den Keller gesperrt worden sei. Vereinzelte Male sei sie heiss und kalt abgeduscht worden, einmal habe ihr der Vater ein ätzendes Putzmittel über den Kopf geschüttet, was zu Schmerzen, Haarausfall und Rötungen am Kopf führte. Als bei einer dieser übergriffigen Duschaktionen ein Zahn beschädigt wurde, gingen die Eltern mit dem Kind nicht zum Zahnarzt. Auch eine demolierte Brille wurde nicht zeitnah ersetzt; das Mädchen, das an einer starken Sehschwäche leidet, musste sie mit Klebeband notdürftig zusammenflicken und so zur Schule gehen. Und es hatte zu erdulden, dass man ihr die vollgekackte Katzenkiste im Kinderzimmer ausleerte. Als Strafaktion.
Eingestanden ist auch, dass die Familie mit den zwei anderen Kindern ein paar Tage lang ins Tessin in die Ferien fuhr und die ungeliebte Stieftochter zu Hause bleiben musste.
Mutterseelenallein.
Staatsanwältin Schwarzwälder listet noch eine Vielzahl anderer Misshandlungen auf. Die Schilderungen stammen von der betroffenen Tochter, die sich nur mit Mühe und erst allmählich dazu aufraffen konnte, ihre Eltern zu belasten. Sie berichtete von weiteren Schlägen, von Demütigungen, Beschimpfungen, Ausgrenzungen und Misshandlungen.
Dem Gericht und der Staatsanwaltschaft liegen zudem Chat-Nachrichten der Eltern vor, in denen sie das Kind als «Drecksstück», «Drecksgoof», «Drecksgöre» oder «Dreckshaufen» bezeichneten. Unter anderem. Und es gibt Arztberichte. Und die Beobachtungen der Lehrerinnen. Das Mädchen, so die Staatsanwältin, habe acht Jahre Kindheit verloren: «Das kann nicht nachgeholt werden.»
Der Vater und die Stiefmutter geben zu, sich der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflichten sowie wegen Tätlichkeiten und einfacher Körperverletzung schuldig gemacht zu haben. Sie bitten um eine milde Strafe.
Von schwerer Körperverletzung hingegen könne nicht die Rede sein.
Das dreiköpfige Gerichtsgremium unter dem Vorsitz von Christoph Benninger nimmt sich Zeit, um den Fall zu beraten. Und kommt zu einem klaren Verdikt. Es spricht den Vater und die Stiefmutter der schweren Körperverletzung schuldig und verhängt für beide eine Freiheitsstrafe von je fünf Jahren; die Staatsanwältin hatte für den Vater sechs Jahre verlangt. Weil dieser deutscher Staatsangehöriger ist, wird er zudem für zehn Jahre des Landes verwiesen, das entspricht dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Und es wird eine ambulante Behandlung angeordnet, das heisst: Der Täter hat eine psychische Störung und wird therapiert, damit es nicht zu weiteren Straftaten kommt.
Die Tochter erhält eine Genugtuung von 50’000 Franken.
Beide Beschuldigten, sagt Benninger bei der mündlichen Urteilseröffnung, hätten erst im Laufe des Verfahrens einzelne Zugeständnisse gemacht. Sie zeigten eine starke Tendenz zum Bagatellisieren. Doch das Mädchen habe äusserst glaubhaft ausgesagt, Erinnerungslücken benannt, zahlreiche Details geschildert – und die Schuld auch bei sich selbst gesucht. Seine Aussagen würden von Lehrern, Ärztinnen und anderen Beobachtern bestätigt. Die Eltern hätten in Mittäterschaft gehandelt, zum Teil allein, zum Teil zu zweit, aber beide hätten sie die «Erziehungsmassnahmen» gebilligt.
Auch der vorsitzende Richter spricht von einem sadistischen, systematischen Regime, von einem jahrelangen Martyrium, das zu schweren psychischen Beeinträchtigungen geführt habe.
Damit ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. Der Verteidiger des Vaters meldet unmittelbar nach der Urteilseröffnung die Berufung an. Er zweifelt an den Schilderungen der Tochter. Sie habe einen Hang zum Fabulieren und Fantasieren. Die Eltern seien schlicht überfordert gewesen. Das sagt auch die Verteidigerin der Stiefmutter. Und ergänzt, einmal mehr: «Die beiden hätten professionelle Hilfe holen müssen.»
Aber genau das haben die Eltern nicht getan.
Patrick Fassbind von der Kesb Basel-Stadt spricht von einem grossen Dunkelfeld. Man müsse aufgrund von Studien, die von Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegeben wurden, davon ausgehen, dass jedes vierte bis fünfte Kind regelmässig psychische Gewalt erfahre. «Nur die Spitze des Eisbergs gelangt zur Kesb», sagt Fassbind. Doch ohne Meldung könne die Behörde nicht tätig werden – obwohl eine Früherkennung für die kindliche Entwicklung so unglaublich wichtig sei.
Die meisten Gefährdungsmeldungen an die Kesb stammen von der Polizei, gefolgt von den Schulen oder den Kinderschutzgruppen der Spitäler. Deutlich seltener melden sich Nachbarn oder Angehörige. Eine falsche Zurückhaltung, sagt der Kesb-Leiter, denn: «Es ist die ethische Pflicht jeder Einwohnerin, genau hinzuschauen und nicht zu schweigen, wenn der Verdacht aufkommt, ein Kind könnte schwer gefährdet sein.»
Erweise sich der Verdacht als falsch, ziehe sich die Behörde rasch wieder zurück. Aber es sei besser, einmal zu viel hinzuschauen und sich zu melden als einmal zu wenig.
«Die Kinder gehören nicht ihren Eltern», sagt Fassbind. «Wir alle haben eine Mitverantwortung. Wir müssen für die Kinder einstehen. Wir müssen sie schützen.»
Illustration: Till Lauer