Auf lange Sicht

Ein tödlicher Sommer

Von Juni bis August starben dieses Jahr mehr Menschen als normalerweise. Was ist da los?

Von Felix Michel, 03.10.2022

Synthetische Stimme
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Diese Nach­richt ist traurig: Im Sommer 2022 starben aussergewöhnlich viele Menschen. Das zeigen Daten des Bundes­amts für Statistik (BFS), das die Anzahl der wöchentlichen Todes­fälle laufend mit den statistisch zu erwartenden Werten vergleicht.

Übersterblichkeit in den Sommer­monaten

Personen über 65 Jahre

Statistische Bandbreite
2022JuniJuliAugust06501300 Personen pro Woche2021JuniJuliAugust06501300 Personen pro Woche2020JuniJuliAugust06501300 Personen pro Woche

Quelle: Bundesamt für Statistik

Die farbigen Flächen der Grafik zeigen den Bereich an, in dem die Anzahl der Todes­fälle – aus statistischer Sicht – nicht überrascht. Verlässt die Linie diesen Bereich deutlich nach unten, sterben weniger Menschen als erwartet. Dann ist von Unter­sterblichkeit die Rede. Ist die Linie hingegen oberhalb der Band­breite, handelt es sich um Über­sterblichkeit. Mit anderen Worten: Mehr Menschen als erwartet sind gestorben.

Eine solche Über­sterblichkeit gab es in diesem Sommer. Von Juni bis August sind 1700 Personen über 65 Jahre mehr gestorben, als aus statistischer Sicht anzunehmen war. So was ist auch früher schon vorgekommen. Zum Beispiel war die Über­sterblichkeit im Hitze­sommer 2003 ebenfalls ausser­gewöhnlichen hoch. Damals starben 975 Menschen mehr als statistisch erwartet aufgrund der hohen Temperaturen.

Hitzebedingte Über­sterblichkeit im Sommer

20030975 20150804 20180185 20190521

Die Übersterblichkeit im Sommer 2018 ist statistisch nicht signifikant. Quelle: Swiss TPH

Geht die Über­sterblichkeit des vergangenen Sommers also aufs Konto der Hitze? Nimmt man die Durchschnitts­temperatur als Anhalts­punkt, war der Sommer 2022 tatsächlich der zweit­wärmste Sommer seit Mess­beginn. Heisser war nur noch der Sommer 2003. Selbst wenn wir für den Sommer 2022 mit den gleichen Werten wie 2003 rechnen, bleiben noch rund 700 Todes­fälle, die so nicht erwartet wurden. Das heisst, sie lassen sich nicht mit der Hitze erklären.

Aber war nicht noch was? Covid-19?

Ungebremst viral

Der Sommer 2022 war der erste Pandemie-Sommer ohne Schutz­massnahmen. Der erste Sommer also, in dem sich Covid-19 ungehindert verbreiten konnte. Das zeigt sich auch in den Daten: Im Vergleich zu den vorherigen zwei Jahren waren die nachgewiesenen Infektionen im diesjährigen Sommer klar am höchsten.

Covid-19 in den Sommer­monaten

Positiv getestete Personen: gleitender Mittelwert über 7 Tage

2020
2021
2022
01.0630.0631.0731.08040008000 Personen

Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Erstaunlich ist zudem, dass sich das Infektions­geschehen innerhalb der Alters­gruppen verschoben hat. Lag im letzt­jährigen Sommer der Anteil der positiv getesteten Personen über 60 Jahren noch bei unter 10 Prozent, so waren es diesen Sommer beinahe 30 Prozent. Ohne Schutz­massnahmen hat sich das Infektions­geschehen also stärker auf die gesamte Bevölkerung ausgewirkt.

Infektions­geschehen nach Alters­gruppe

Anteil der positiv getesteten Personen je nach Alters­gruppe

0–29 Jahre
30–59 Jahre
60+ Jahre
2020JuniJuliAugust050100 % 2022JuniJuliAugust050100 % 2021JuniJuliAugust050100 %

Wöchentliche Daten, Zusammenfassung der Alters­gruppen durch die Republik. Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Mit einer traurigen Folge: Im Jahr 2022 starben mehr Personen über 60 Jahre an Covid-19 als noch 2021. Da sich in dieser Alters­gruppe auch deutlich mehr Menschen infizierten, stellt sich die Frage: Wie sieht das Verhältnis zwischen Infektionen und Covid-19-Toten aus? Also wie tödlich war das Virus in diesem Sommer?

Covid-19-Tote in den Sommer­monaten

Auswertung für Personen über 60 Jahren

JahrInfektionenVerstorbeneVerhältnis Infektionen/Verstorbene
202015695330
2021645117337
2022102’429250410

Lesebeispiel: Auf 410 Infektionen kam im Sommer 2022 ein Covid-Toter. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.

Die Zahlen legen nahe, dass das Risiko, an Covid-19 zu sterben, im Sommer 2022 tiefer war als in den beiden Sommern davor. Ein weiteres Indiz dafür ist die Belegung der Intensivbetten. Die Intensiv­stationen waren in diesem Sommer weniger stark mit Covid-19-Patienten ausgelastet als noch im vergangenen Sommer. «Die Bevölkerung war durch Impfungen und Genesungen vor schweren Verläufen besser geschützt», sagt die ehemalige Taskforce-Chefin Tanja Stadler auf Anfrage der Republik. «Zudem kommt es bei der aktuell dominanten Variante Omikron seltener zu einem schweren Verlauf als noch bei der Delta-Variante, die im vergangenen Sommer vorherrschte», sagt Stadler.

Doch auch wenn die Infektionen seltener tödlich verliefen. Dadurch, dass sich so viele Menschen infizierten, war auch die absolute Zahl der Toten bei den über 60-Jährigen enorm. Somit kann Covid-19 einen gewissen Teil der Über­sterblichkeit erklären.

Im Dunkeln tappen

Doch die Zahlen zeigen nicht das ganze Bild. Ein grosser Unterschied zwischen den Sommern besteht auch darin, wie intensiv getestet wurde.

Hohe Dunkel­ziffer im Jahr 2022

Testpositivität von Juni bis August nach Alters­gruppe

Altersgruppe202020212022
0–29 Jahre2 %6 %31 %
30–59 Jahre2 %4 %41 %
60+ Jahre1 %3 %36 %

Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Die Anzahl der positiven Tests, also die Test­positivität, macht eine Aussage darüber, wie gut wir die aktuelle epidemiologische Lage im Blick haben. Die Weltgesundheits­organisation hat zu Beginn der Pandemie den Schwellen­wert von 5 Prozent festgelegt. Liegt die Test­positivität unter diesem Wert, kann man davon ausgehen, dass ein Gross­teil der Covid-19-Infektionen entdeckt wurde. Doch im Sommer war die Test­positivität über 30 Prozent. Das heisst, sehr viele Fälle blieben unentdeckt.

«Wir können annehmen, dass die Dunkel­ziffer im Jahr 2022 um das Zwei- oder Dreifache höher war als noch 2021», sagt Stadler. Demnach hätten sich im Sommer 2022 rund zehnmal so viele Menschen mit Covid-19 angesteckt als noch im vorigen Sommer. In absoluten Zahlen gesprochen wären das rund 200’000 Infektionen im 2021 (bei rund 90’000 bestätigten Fällen) und rund 2 Millionen im 2022 – bei etwa 375’000 nachgewiesenen Infektionen.

«Es braucht nun detaillierte Analysen, um heraus­zufinden, warum die Über­sterblichkeit in den vergangenen Wochen noch höher war, als aufgrund der Hitze und den Covid-19-Zahlen alleine zu erwarten wäre», sagt Stadler.

Je nach Statistik mehr Covid-19-Tote

Wenn die Anzahl der Covid-19-Infektionen also dreimal höher ist, müsste dann nicht auch die Anzahl der Covid-19-Toten entsprechend höher sein? Höher als es die derzeit verfügbaren Daten angeben?

Das ist durchaus möglich. Denn wie hoch die Anzahl der Toten in einem Jahr wirklich war, lässt sich erst geraume Zeit später mit Sicherheit sagen. Ein Beispiel: Ende August hat das BFS die Todesursachen­statistik für das Jahr 2020 veröffentlicht. Diese Statistik wird immer rund zwei Jahre nach Ablauf des vollständigen Jahres publiziert. Gemäss BFS war Covid-19 im Jahr 2020 die dritthäufigste Todes­ursache. Das BFS zählte 9294 Personen, bei denen Covid-19 die Haupt­todesursache war. Also diejenige Ursache, die am Anfang der Kausal­kette stand, die letztlich zum Tode geführt hat. Im Vergleich zu den Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG), also den kurzfristigen Zahlen, sind das 1471 Personen mehr – ein Unterschied von 19 Prozent.

Covid-19-Tote je nach Bundesamt

Anzahl Covid-19-Tote für das Jahr 2020

Bundesamt für Gesundheit07823 Bundesamt für Statistik09294

Quellen: Bundesamt für Gesundheit, Bundesamt für Statistik

Die Differenz liegt darin begründet, dass die beiden Bundes­ämter unterschiedliche Ziele verfolgen. «Die Statistik des Bundes­amts für Gesund­heit ist eine zeitnahe Statistik zu epidemiologischen Zwecken», schreibt Simon Ming, Medien­sprecher beim BAG, auf Anfrage. Während das BFS das ärztliche Zertifikat zur Todes­ursache auswertet und damit einen abschliessenden Überblick über das Sterbe­geschehen in der Schweiz schaffen will.

Das Beispiel aus dem Jahr 2020 zeigt: Es ist durchaus möglich, dass die Zahlen zu den Covid-19-Toten für das Jahr 2022 auch noch höher ausfallen werden. Diese Statistik wird aber erst in rund zwei Jahren erscheinen.

Spätfolgen von Covid-19

Ein weiterer Grund für die Über­sterblichkeit könnten Spät­folgen von Covid-19 sein: «Es ist gut möglich, dass ein Zusammen­spiel zwischen der Hitze und der durch Covid-19 geschwächten Population für die Über­sterblichkeit verantwortlich ist», sagt Martina Ragettli vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut. Demnach gibt es Hinweise, dass auch eine überwundene Covid-19-Erkrankung die Empfindlichkeit zum Beispiel gegenüber Hitze steigert.

Studien zeigen, dass das Virus auch Monate später noch das Herz-Kreislauf-System strapaziert und das Risiko für einen Herz­infarkt oder Schlag­anfall erhöht. Für ein bereits geschwächtes Herz-Kreislauf-System bedeutet eine Hitze­periode dann eine enorme zusätzliche Belastung.

Auch eine Studie des Gesundheits­ministeriums von Singapur stützt diesen Befund. In dem Stadt­staat zeigte sich ebenfalls eine Differenz zwischen der Über­sterblichkeit und der Zahl der Covid-19-Toten. Den Unterschied konnte das Gesundheits­ministerium damit erklären, dass sich die verstorbenen Personen 90 Tage vor ihrem Tod mit Covid-19 angesteckt hatten. Das Gesundheits­ministerium folgert daraus: Covid-19 hat bestehende Krank­heiten verschlimmert und damit zu weiteren Todes­fällen geführt.

Für die Schweiz fehlen solche Auswertungen, das BAG stellt nur fest:

«Im Moment ist noch nicht bekannt, was die Gründe für diese Über­sterblichkeit gemäss den Daten des BFS sind.»

Was bleibt: Wenn wir das Infektions­geschehen nicht mehr ernst­haft im Blick behalten, ist das keine Detail­frage, die nur das Management der Pandemie betrifft. Wenn wir nicht mehr wissen, wie viele Menschen sich mit Covid-19 infiziert haben oder sogar daran gestorben sind, dann können wir auch andere Fragen der öffentlichen Gesund­heit nicht mehr beant­worten.

Wir wissen dann auch nicht mehr, wie viele ältere Menschen unter der Hitze gelitten haben und schliesslich daran gestorben sind. Und damit fehlen Informationen, die helfen könnten, Massnahmen für weitere Hitze­sommer zu treffen.

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