Ein tödlicher Sommer
Von Juni bis August starben dieses Jahr mehr Menschen als normalerweise. Was ist da los?
Von Felix Michel, 03.10.2022
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Diese Nachricht ist traurig: Im Sommer 2022 starben aussergewöhnlich viele Menschen. Das zeigen Daten des Bundesamts für Statistik (BFS), das die Anzahl der wöchentlichen Todesfälle laufend mit den statistisch zu erwartenden Werten vergleicht.
Die farbigen Flächen der Grafik zeigen den Bereich an, in dem die Anzahl der Todesfälle – aus statistischer Sicht – nicht überrascht. Verlässt die Linie diesen Bereich deutlich nach unten, sterben weniger Menschen als erwartet. Dann ist von Untersterblichkeit die Rede. Ist die Linie hingegen oberhalb der Bandbreite, handelt es sich um Übersterblichkeit. Mit anderen Worten: Mehr Menschen als erwartet sind gestorben.
Eine solche Übersterblichkeit gab es in diesem Sommer. Von Juni bis August sind 1700 Personen über 65 Jahre mehr gestorben, als aus statistischer Sicht anzunehmen war. So was ist auch früher schon vorgekommen. Zum Beispiel war die Übersterblichkeit im Hitzesommer 2003 ebenfalls aussergewöhnlichen hoch. Damals starben 975 Menschen mehr als statistisch erwartet aufgrund der hohen Temperaturen.
Geht die Übersterblichkeit des vergangenen Sommers also aufs Konto der Hitze? Nimmt man die Durchschnittstemperatur als Anhaltspunkt, war der Sommer 2022 tatsächlich der zweitwärmste Sommer seit Messbeginn. Heisser war nur noch der Sommer 2003. Selbst wenn wir für den Sommer 2022 mit den gleichen Werten wie 2003 rechnen, bleiben noch rund 700 Todesfälle, die so nicht erwartet wurden. Das heisst, sie lassen sich nicht mit der Hitze erklären.
Aber war nicht noch was? Covid-19?
Ungebremst viral
Der Sommer 2022 war der erste Pandemie-Sommer ohne Schutzmassnahmen. Der erste Sommer also, in dem sich Covid-19 ungehindert verbreiten konnte. Das zeigt sich auch in den Daten: Im Vergleich zu den vorherigen zwei Jahren waren die nachgewiesenen Infektionen im diesjährigen Sommer klar am höchsten.
Erstaunlich ist zudem, dass sich das Infektionsgeschehen innerhalb der Altersgruppen verschoben hat. Lag im letztjährigen Sommer der Anteil der positiv getesteten Personen über 60 Jahren noch bei unter 10 Prozent, so waren es diesen Sommer beinahe 30 Prozent. Ohne Schutzmassnahmen hat sich das Infektionsgeschehen also stärker auf die gesamte Bevölkerung ausgewirkt.
Mit einer traurigen Folge: Im Jahr 2022 starben mehr Personen über 60 Jahre an Covid-19 als noch 2021. Da sich in dieser Altersgruppe auch deutlich mehr Menschen infizierten, stellt sich die Frage: Wie sieht das Verhältnis zwischen Infektionen und Covid-19-Toten aus? Also wie tödlich war das Virus in diesem Sommer?
Covid-19-Tote in den Sommermonaten
Auswertung für Personen über 60 Jahren
Jahr | Infektionen | Verstorbene | Verhältnis Infektionen/Verstorbene |
---|---|---|---|
2020 | 1569 | 53 | 30 |
2021 | 6451 | 173 | 37 |
2022 | 102’429 | 250 | 410 |
Lesebeispiel: Auf 410 Infektionen kam im Sommer 2022 ein Covid-Toter. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.
Die Zahlen legen nahe, dass das Risiko, an Covid-19 zu sterben, im Sommer 2022 tiefer war als in den beiden Sommern davor. Ein weiteres Indiz dafür ist die Belegung der Intensivbetten. Die Intensivstationen waren in diesem Sommer weniger stark mit Covid-19-Patienten ausgelastet als noch im vergangenen Sommer. «Die Bevölkerung war durch Impfungen und Genesungen vor schweren Verläufen besser geschützt», sagt die ehemalige Taskforce-Chefin Tanja Stadler auf Anfrage der Republik. «Zudem kommt es bei der aktuell dominanten Variante Omikron seltener zu einem schweren Verlauf als noch bei der Delta-Variante, die im vergangenen Sommer vorherrschte», sagt Stadler.
Doch auch wenn die Infektionen seltener tödlich verliefen. Dadurch, dass sich so viele Menschen infizierten, war auch die absolute Zahl der Toten bei den über 60-Jährigen enorm. Somit kann Covid-19 einen gewissen Teil der Übersterblichkeit erklären.
Im Dunkeln tappen
Doch die Zahlen zeigen nicht das ganze Bild. Ein grosser Unterschied zwischen den Sommern besteht auch darin, wie intensiv getestet wurde.
Hohe Dunkelziffer im Jahr 2022
Testpositivität von Juni bis August nach Altersgruppe
Altersgruppe | 2020 | 2021 | 2022 |
---|---|---|---|
0–29 Jahre | 2 % | 6 % | 31 % |
30–59 Jahre | 2 % | 4 % | 41 % |
60+ Jahre | 1 % | 3 % | 36 % |
Quelle: Bundesamt für Gesundheit
Die Anzahl der positiven Tests, also die Testpositivität, macht eine Aussage darüber, wie gut wir die aktuelle epidemiologische Lage im Blick haben. Die Weltgesundheitsorganisation hat zu Beginn der Pandemie den Schwellenwert von 5 Prozent festgelegt. Liegt die Testpositivität unter diesem Wert, kann man davon ausgehen, dass ein Grossteil der Covid-19-Infektionen entdeckt wurde. Doch im Sommer war die Testpositivität über 30 Prozent. Das heisst, sehr viele Fälle blieben unentdeckt.
«Wir können annehmen, dass die Dunkelziffer im Jahr 2022 um das Zwei- oder Dreifache höher war als noch 2021», sagt Stadler. Demnach hätten sich im Sommer 2022 rund zehnmal so viele Menschen mit Covid-19 angesteckt als noch im vorigen Sommer. In absoluten Zahlen gesprochen wären das rund 200’000 Infektionen im 2021 (bei rund 90’000 bestätigten Fällen) und rund 2 Millionen im 2022 – bei etwa 375’000 nachgewiesenen Infektionen.
«Es braucht nun detaillierte Analysen, um herauszufinden, warum die Übersterblichkeit in den vergangenen Wochen noch höher war, als aufgrund der Hitze und den Covid-19-Zahlen alleine zu erwarten wäre», sagt Stadler.
Je nach Statistik mehr Covid-19-Tote
Wenn die Anzahl der Covid-19-Infektionen also dreimal höher ist, müsste dann nicht auch die Anzahl der Covid-19-Toten entsprechend höher sein? Höher als es die derzeit verfügbaren Daten angeben?
Das ist durchaus möglich. Denn wie hoch die Anzahl der Toten in einem Jahr wirklich war, lässt sich erst geraume Zeit später mit Sicherheit sagen. Ein Beispiel: Ende August hat das BFS die Todesursachenstatistik für das Jahr 2020 veröffentlicht. Diese Statistik wird immer rund zwei Jahre nach Ablauf des vollständigen Jahres publiziert. Gemäss BFS war Covid-19 im Jahr 2020 die dritthäufigste Todesursache. Das BFS zählte 9294 Personen, bei denen Covid-19 die Haupttodesursache war. Also diejenige Ursache, die am Anfang der Kausalkette stand, die letztlich zum Tode geführt hat. Im Vergleich zu den Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG), also den kurzfristigen Zahlen, sind das 1471 Personen mehr – ein Unterschied von 19 Prozent.
Die Differenz liegt darin begründet, dass die beiden Bundesämter unterschiedliche Ziele verfolgen. «Die Statistik des Bundesamts für Gesundheit ist eine zeitnahe Statistik zu epidemiologischen Zwecken», schreibt Simon Ming, Mediensprecher beim BAG, auf Anfrage. Während das BFS das ärztliche Zertifikat zur Todesursache auswertet und damit einen abschliessenden Überblick über das Sterbegeschehen in der Schweiz schaffen will.
Das Beispiel aus dem Jahr 2020 zeigt: Es ist durchaus möglich, dass die Zahlen zu den Covid-19-Toten für das Jahr 2022 auch noch höher ausfallen werden. Diese Statistik wird aber erst in rund zwei Jahren erscheinen.
Spätfolgen von Covid-19
Ein weiterer Grund für die Übersterblichkeit könnten Spätfolgen von Covid-19 sein: «Es ist gut möglich, dass ein Zusammenspiel zwischen der Hitze und der durch Covid-19 geschwächten Population für die Übersterblichkeit verantwortlich ist», sagt Martina Ragettli vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut. Demnach gibt es Hinweise, dass auch eine überwundene Covid-19-Erkrankung die Empfindlichkeit zum Beispiel gegenüber Hitze steigert.
Studien zeigen, dass das Virus auch Monate später noch das Herz-Kreislauf-System strapaziert und das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöht. Für ein bereits geschwächtes Herz-Kreislauf-System bedeutet eine Hitzeperiode dann eine enorme zusätzliche Belastung.
Auch eine Studie des Gesundheitsministeriums von Singapur stützt diesen Befund. In dem Stadtstaat zeigte sich ebenfalls eine Differenz zwischen der Übersterblichkeit und der Zahl der Covid-19-Toten. Den Unterschied konnte das Gesundheitsministerium damit erklären, dass sich die verstorbenen Personen 90 Tage vor ihrem Tod mit Covid-19 angesteckt hatten. Das Gesundheitsministerium folgert daraus: Covid-19 hat bestehende Krankheiten verschlimmert und damit zu weiteren Todesfällen geführt.
Für die Schweiz fehlen solche Auswertungen, das BAG stellt nur fest:
«Im Moment ist noch nicht bekannt, was die Gründe für diese Übersterblichkeit gemäss den Daten des BFS sind.»
Was bleibt: Wenn wir das Infektionsgeschehen nicht mehr ernsthaft im Blick behalten, ist das keine Detailfrage, die nur das Management der Pandemie betrifft. Wenn wir nicht mehr wissen, wie viele Menschen sich mit Covid-19 infiziert haben oder sogar daran gestorben sind, dann können wir auch andere Fragen der öffentlichen Gesundheit nicht mehr beantworten.
Wir wissen dann auch nicht mehr, wie viele ältere Menschen unter der Hitze gelitten haben und schliesslich daran gestorben sind. Und damit fehlen Informationen, die helfen könnten, Massnahmen für weitere Hitzesommer zu treffen.