Feuer und Flamme für Nordirland: Am Ende wird ganz oben die irische Flagge brennen.

«We’ll always be fucking British»

In Nordirland reisst der Brexit alte Wunden auf. Was bedeutet das Nordirland-Protokoll für die lokale Bevölkerung? Ein Besuch in Derry, wo die Vergangenheit immer auch Teil der Gegenwart ist.

Von Peter Stäuber (Text) und Horst A. Friedrichs (Bilder), 13.09.2022

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Vorgelesen von Danny Exnar
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Der Tag wird damit enden, dass die irische Flagge auf dem Scheiter­haufen verbrannt wird, aber am späten Nachmittag ist in Derry davon noch nichts zu spüren. In den altehrwürdigen Räumen der Memorial Hall, die hoch oben über den Stadt­mauern thront, liegen Aufregung und Vorfreude in der Luft. Flaggen werden sorgfältig ausgerollt, Uniformen und weisse Socken liegen bereit, daneben Säbel und purpur­rote Schärpen. Junge Männer, die meisten gedrungen, kurzhaarig und tätowiert, sitzen in ernster Stille auf den Samt­stühlen. Gleich wird die Zeremonie beginnen, die sie zu den neusten Mitgliedern der Apprentice Boys kürt, der wichtigsten unionistisch-protestantischen Organisation in der Stadt.

Es ist Freitag, der 12. August, das Wochenende der probritischen Unionisten steht bevor. Derry, in der nordwestlichen Ecke von Nordirland gelegen, ist eine mehrheitlich katholische, irisch-nationalistische Stadt. Aber einmal im Jahr markieren die Protestanten ihre Präsenz – «we’ll always be fucking British», wie es ein angetrunkener Mann später sagen wird, «wir werden, verdammt noch mal, immer Briten sein».

David Hoey – sechzig Jahre alt, Schnauz und Brille – ist da diplomatischer. Geschäftig geht er durch die Gänge der Memorial Hall, öffnet hier und dort eine Tür und weist auf dekorative Säbel und alte Gewehre hin sowie auf Bilder von Würden­trägern, alle schon lange tot. Seit letztem Jahr ist Hoey Schatz­meister der Apprentice Boys, seit über zwanzig Jahren Mitglied des Vereins, ein Leben lang stolzer Unionist und Protestant.

Hoey spricht ausgiebig und gern über die Traditionen seiner Organisation und über den historischen Zwischenfall, der dahinter­steckt. In Nordirland ist die Vergangenheit immer auch Teil der Gegenwart, und Hoey berichtet vom 333 Jahre zurück­liegenden Ereignis, als sei er selbst dabei gewesen.

Die Geschichte geht so: Ende 1688, als sich Protestanten und Katholiken um den englischen Thron stritten – Irland war eine Kolonie –, versuchte eine katholische Armee im protestantisch beherrschten Derry einzumarschieren (die Stadt wurde 1613 offiziell in London­derry umbenannt; aber die nationalistische Mehrheit bevorzugt den ursprünglichen Namen Derry). Doch die Lehrlinge, eben die apprentice boys, schlossen die Stadttore, worauf der Ort mehrere Monate lang belagert wurde. Am Ende kam eine protestantische Armee den Fluss Foyle herauf und rettete die Stadt­bewohnerinnen aus ihrer Not.

David Hoey in der Apprentice Boys Memorial Hall in Derry.
Willkommen in der freien Stadt Derry.
Vor dem Büro der Hilfsorganisation für irisch-republikanische Gefangene.
Grosser Aufmarsch der Apprentice Boys of Derry am 13. August.

«Morgen ist der Tag, an dem wir der Befreiung von Derry gedenken», sagt Hoey. Die moderne Organisation der Apprentice Boys wurde einige Jahrzehnte später als Ehren­verein gegründet, seither wird in jedem August marschiert. Etwa 10’000 Unionisten aus ganz Nordirland und darüber hinaus kommen nach Derry und veranstalten mit Trommeln, Flöten und Flaggen die grösste loyalistische Parade überhaupt. «Der Tag ist eine Möglichkeit für die Protestanten, ihre Kultur zum Ausdruck zu bringen, ihre Rolle in der Geschichte der Stadt», sagt Hoey.

Ich will es genauer wissen: Protestantisch, unionistisch oder loyalistisch?

Die Bezeichnungen werden oft synonym verwendet, aber es bestehen feine Unterschiede. Unionistinnen sind jene Nordirinnen, die den Status Nord­irlands als britische Provinz beibehalten wollen; sie sind mehrheitlich protestantisch. Als Loyalisten werden jene Unionisten bezeichnet, die eine härtere Haltung vertreten und sich voll und ganz mit Gross­britannien identifizieren. Viele befürworteten während des Bürgerkriegs zwischen Protestanten und Katholiken (1969–1998) den bewaffneten Kampf, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Nationalisten hingegen sind jene – mehrheitlich katholischen – Nordiren, die gern eine Wieder­vereinigung mit der Republik Irland sehen würden. Nationalistinnen, die den britischen Status der Provinz als illegitim erachten und während des Konflikts den Wider­stand befürworteten, werden in der Regel als Republikaner bezeichnet.

Auf beiden Seiten gilt: Die religiöse Komponente dieser Identitäten ist im Lauf der Jahrzehnte weit weniger wichtig geworden, insbesondere bei jüngeren Generationen. Viele Leute wurden als Protestantinnen oder Katholiken geboren, sind heute aber Atheistinnen und würden sich bloss als Unionisten beziehungs­weise Nationalistinnen bezeichnen. Oder als gar nichts: Die Identitäten sind weit weniger starr, als zuweilen suggeriert wird.

Aber mit der Rolle der Unionisten in Nordirland ist es so eine Sache. Dieser Tage sorgen sich viele von ihnen, dass sie zunehmend an den Rand gedrängt werden, politisch wie auch gesellschaftlich. Waren die Protestanten vor hundert Jahren noch die absolut dominante Kraft in Nordirland, haben demografische und politische Entwicklungen ihre Vorherrschaft immer weiter ausgehöhlt.

Mittlerweile ist die katholische Bevölkerung etwa gleich gross wie die protestantische, und die stärkste nationalistische Partei, Sinn Féin, schrieb im Mai Geschichte, als sie zum ersten Mal die grösste Partei im nord­irischen Parlament in Belfast wurde.

Die explosive Frage einer möglichen Abspaltung

Und dann ist da noch der Brexit. Wie viele Unionisten hat David Hoey vor sechs Jahren für den Austritt aus der EU gestimmt – nicht zuletzt hoffte er, dass dadurch die britische Union gestärkt würde. Aber eingetreten ist das genaue Gegenteil: Um zu verhindern, dass an der inner­irischen Grenze Kontrollen stattfinden, die den Friedens­prozess gefährden könnten, einigte sich die britische Regierung unter Boris Johnson mit der EU auf das sogenannte Nordirland-Protokoll. Dieses verlegt die Zollgrenze stattdessen in die Irische See, also zwischen Nordirland und Grossbritannien. Jetzt müssen etliche nordirische Unternehmen zusätzlichen Papierkram erledigen, wenn sie von Mainland Britain, der britischen Hauptinsel, importieren.

David Hoey berichtet von einem Freund, der zuvor Surfbretter von England an die nordirische Küste importierte. «Aber jetzt sagt er mir, er müsse Seiten über Seiten an Formularen ausfüllen. Es sei einfach unmöglich.» Aber es geht um mehr als Papierkram, denn den wirtschaftlichen Reibereien wohnt auch eine Symbolik inne: Das Protokoll treibt im Prinzip einen Keil zwischen Nordirland und Mainland Britain. Es passiert also genau das, was die Unionisten seit Jahrzehnten verhindern wollen. Seitdem 2019 der Brexit-Deal geschlossen wurde, spukt in der unionistischen Community das Gespenst einer möglichen Wieder­vereinigung mit der Republik Irland, ihr grösster Albtraum. Umfragen legen nahe, dass die nordirische Bevölkerung sich zunehmend mit einer möglichen Abspaltung von Grossbritannien anfreundet.

Die Apprentice Boys kennen keine Altersbeschränkung, weder nach oben …
… noch nach unten: «Mein Schreien ist keine Kapitulation.»
Holz stapeln für das Freudenfeuer in der Bogside Area in Derry.

Hoey winkt ab: «Ich glaube nicht, dass es eine border poll geben wird» – so heisst die Volks­abstimmung, die über eine Aufhebung der Grenze zu Irland entscheiden würde. Aber während er spricht, entsteht das Gefühl, er wolle jede Diskussion von vorneweg abwürgen, als ob eine Wieder­vereinigung allein durch die Nennung wahrscheinlicher würde.

Was würde ein vereinigtes Irland für ihn bedeuten? «Hör zu: Dazu wird es nicht kommen.»

Die Frustration der Unionisten über das Nordirland-Protokoll hat zu einer tiefen Staats­krise geführt. Die grösste unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), weigert sich seit Monaten, Minister in die Regierung in Belfast zu entsenden – womit sie eine Regierungs­bildung verunmöglicht. Denn laut dem Prinzip der Gewalten­teilung, das seit 1998 gilt, kann ohne die DUP keine Exekutive zustande kommen.

Seit Anfang 2021 ist es immer wieder zu Anti-Protokoll-Krawallen gekommen, in Belfast und in anderen Orten. Autos gingen in Flammen auf, die Polizei wurde mit Steinen beworfen. Besonders düster waren Vorfälle im letzten Jahr, bei denen maskierte und bewaffnete Männer Linien­busse in Belfast anhielten, um sie zunächst zu räumen und dann abzufackeln. «No Irish Sea border», sagen sie – keine Grenze in der Irischen See.

Die Regierung in Westminster verurteilt solche Zwischen­fälle freilich aufs Schärfste, aber die Unionisten finden hier Gehör: Aussen­ministerin Liz Truss, die vor wenigen Tagen zur neuen Premier­ministerin erkoren wurde, hat ein Gesetz vorgelegt, das es London erlaubt, Teile des Nordirland-Protokolls aufzuheben. Das verstosse gegen inter­nationales Recht, sagen Experten, und Brüssel sagt: Das ist eine Frechheit. Aber der britischen Regierung ist das egal. Truss hat mittlerweile sogar angekündigt, das Nordirland-Protokoll ganz auszusetzen.

Auch David Hoey schert sich wenig um die Kritik. Für ihn ist die Vorlage ein guter Anfang: «Das Gesetz ist das Mindeste, was die Regierung tun sollte.»

«Wir zeigen, dass wir hier bleiben werden»

So sehen es viele Unionisten. Einige Stunden später, kurz vor Mitternacht, versammelt sich eine Menge von mehreren hundert Leuten im Fountain Estate, unweit der Memorial Hall. Die schmucklose Wohn­siedlung ist eine protestantisch-unionistische Enklave im katholisch-nationalistischen Stadt­zentrum. Auf einer schwarz gestrichenen Mauer steht in weissen Lettern der berüchtigte Schlachtruf der Loyalisten: No surrender – keine Kapitulation. In der Mitte der freien Fläche vor der Stadt­mauer ist ein grosser Scheiter­haufen aus Holz­paletten aufgebaut worden, daran hängen Spruch­bänder mit irisch-republikanischen Slogans. Ganz oben weht die irische Trikolore.

Die Atmosphäre erinnert an einen Fussball­match, an dem alle Fans schon völlig besoffen auftauchen. Viele der jungen Männer stehen mit nackten Ober­körpern da und stellen ihre Tattoos zur Schau. Immer wieder verfallen sie in heisere Gesänge, die Arme ausgestreckt, in einer Hand die Bierdose.

Auf die Frage, was das alles bedeute, folgen zunächst argwöhnische Blicke, dann treten drei bullige Männer näher, einer sagt: «Wir zeigen heute, dass wir hier bleiben werden» – im Original mit Fluch­wörtern unterstrichen. «Das hier ist Gross­britannien, und wir werden immer britisch sein.» Erneut wird das historische Leid angesprochen. Schlimm sei sie gewesen, die monate­lange Belagerung vor dreihundert Jahren, ohne Essen und so, sagt einer. Sein Kumpel haut ihm auf die dicke Wampe und sagt: «Ja, aber das hätte dir wohl gut getan.» Grölendes Gelächter.

«Vereint stehen wir, loyal bleiben wir – und wir kapitulieren nicht.»
Die Apprentice Boys lassen es sich in der Memorial Hall gut gehen.

Kurz darauf wird der Scheiter­haufen angezündet, ein junger Mann schüttet aus einem Kessel Sprit nach, bald züngeln die Flammen hinauf zur irischen Flagge. Als sie Feuer fängt, geht ein kurzer Freudenruf durch die Menge. Nach und nach werden die Leute von der Hitze zurück­gedrängt, sie suchen Zuflucht unter dem Stadttor, bevor es auch dort zu heiss wird. Die Polizei beobachtet das Ganze im Hinter­grund. Nur nicht provozieren, bald wird es vorbei sein.

Die Vergangenheit als wichtiger Teil der Identität

Nur zwei Minuten entfernt sitzen im Hinterhof der Bennigans Bar Matthew Crossan, Luke McLaughlin und Jason Feenan, sie nippen an ihrem Guinness und rauchen Zigaretten. Die drei Männer, Anfang bis Mitte zwanzig, stammen aus der katholischen Arbeiter­klasse von Derry. Angesprochen auf den Marsch und das Feuer der Loyalisten, stöhnen sie zunächst, sagen dann aber, man müsse die Parade einfach ignorieren. «I don’t give a fuck», sagt Crossan. Ein Satz, den er im Lauf des Gesprächs noch oft sagen wird.

Die drei nennen sich Touts. Es ist ein angemessen provokativer Name für eine Punkband, denn ein tout war während des Bürger­kriegs in Nordirland ein Informant, also jemand, der bei der Polizei petzt – wer erwischt wurde, den erschoss man. Als sie die Band gründeten, waren die Touts noch in der Schule, mittlerweile ist Musik ihr Beruf. Zum Gesprächs­termin im Pub bringen sie ihre neuste Single mit: «Shane McGowans New Teeth». «Wir hatten nicht geplant, eine Punkband zu werden», sagt Jason Feenan, der Schlagzeuger. «Aber wir wollten schnell und laut sein. Wir sind die lauteste Band in Derry.»

Auch für die Touts ist die Vergangenheit ein wichtiger Teil ihrer Identität. Sie wurden zwar erst nach dem Ende der Troubles geboren, wie der Konflikt in Irland genannt wird, aber die Geschichte ist im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Musiker reden von der Diskriminierung der katholischen Bevölkerung in den 1960er-Jahren oder vom Bloody Sunday von 1972, als die britische Armee in Derry 13 Zivilisten aus der katholischen Community erschoss. Das Trauma, das solche Ereignisse ausgelöst hätten, werde auch an die jüngeren Generationen weiter­gegeben, sagt McLaughlin, der Sänger der Band.

Zu einer kurzen Geschichte der Troubles

Nordirland ist jener Teil der irischen Insel, der im 17. Jahrhundert am stärksten von Protestanten aus England und Schottland kolonisiert wurde – die englische Krone sah die Kolonisierung der katholischen Insel als eine Zivilisierungs­mission. Als Irland 1922 die Unabhängigkeit erlangte, blieben diese Gebiete Teil Gross­britanniens. Die Grenze zum Freistaat Irland wurde damals bewusst so gezogen, dass die Protestanten in Nordirland in der deutlichen Überzahl waren.

Die Diskriminierung gegenüber der katholischen Bevölkerung führte in den 1960er-Jahren zu einer Bürgerrechts­bewegung, die ein Ende der Benachteiligung forderte – vor allem bei der Job- und Wohnungs­suche sowie der politischen Repräsentation. Die Proteste wurden von der nordirischen Polizei nieder­geschlagen, es kam zu Zusammen­stössen mit protestantischen Hardlinern. Ende der 1960er-Jahre begann der Konflikt zu eskalieren, es war der Beginn der Troubles, wie der Bürgerkrieg genannt wird. Die britische Armee griff ein, und die Irisch-Republikanische Armee (IRA) begann ihren terroristisch geprägten Kampf, dessen Ziel die Vertreibung der britischen Truppen war – und die Vereinigung mit der Republik Irland. Auch auf protestantisch-unionistischer Seite hatten sich paramilitärische Gruppen gebildet, die oft mit den britischen Geheim­diensten zusammen­arbeiteten.

Drei Jahrzehnte lang wütete der Konflikt, auf beiden Seiten wurden Hunderte Zivilisten getötet, insgesamt forderten die Troubles über 3500 Todesopfer. 1994 rief die IRA einen Waffen­stillstand aus, es folgten Friedens­verhandlungen. 1998 wurde der Konflikt mit dem Karfreitags­abkommen offiziell beendet. Seither teilen sich Unionisten und Nationalisten in einem fein abgestimmten Kompromiss die Macht in Belfast.

Aber andererseits finden sie auch: Das ist alles lange her. Junge Leute wollten nach vorne schauen, sagen sie. Umso weniger Verständnis haben sie für die Democratic Unionist Party, die eine Regierung verhindere und alte Konflikte schüre. «Die sollten sich endlich mal zusammen­reissen», sagt McLaughlin. Das Protokoll funktioniere eigentlich ganz gut, findet Feenan, es könne Nordirland viel Prosperität bringen. «Dies wegen Fragen der Identität aufs Spiel zu setzen, scheint mir töricht.» Eine Umfrage Ende Juni ergab, dass 55 Prozent der Nordiren das Protokoll unterstützen, ein Jahr zuvor waren es nur 47 Prozent gewesen.

Die tiefe Kluft zwischen den politischen Parteien in Belfast spüre man in der Bevölkerung weit weniger, sagt McLaughlin – auch wenn er selber manche Pubs auf der unionistischen Seite nicht besuchen würde und die Schulen kaum gemischt seien. «Aber es gibt mehr, was uns verbindet, als uns trennt. Gerade die Musik zeigt uns das: Sie zwingt uns, andere Leute zu treffen.» So sei es immer gewesen: «Auch während der Troubles war die nordirische Punk­szene offen für Leute aus allen Communitys.»

Fluchen über die Tories

Viel wichtiger als die alten Gegensätze sei die Tatsache, dass Nordirland – wie der Rest des Landes – auf eine massive soziale Krise zusteuere: exorbitante Energie­preise, steigende Lebensmittel­kosten, sinkende Löhne. «Der Winter wird richtig schlimm», sagt Feenan. Die drei wettern über die grossen Energie­konzerne, die dicke Profite schreiben, während die Zahl der Gassen­küchen unerbittlich ansteigt; sie klagen über die Finanznot des Gesundheits­diensts und sie fluchen über die Tories.

Denn die Gleichgültigkeit, die die Tories gegenüber der steigenden Armut zeigten, sei dieselbe, die sie gegenüber Nordirland an den Tag legten: «Die britische Regierung weiss, dass Nordirland irgendwann nicht mehr ihr Problem sein wird», sagt Feenan: «Vielleicht in hundert Jahren, vielleicht schon nächstes Jahr – irgendwann werden wir nicht mehr Teil Gross­britanniens sein. Warum sollen sie sich also jetzt um uns kümmern?»

Vor der Peadar O’Donnell’s Bar in der Waterloo Street im Zentrum von Derry.
Ein Wandgemälde erinnert an die «Troubles».
Punk und Pub: Luke McLaughlin, Matthew Crossan und Jason Feenan sind die Touts.

Wenn die Touts durch die Gassen von Derry spazieren, grüssen sie alle paar Schritte Bekannte, plaudern, verabreden sich zu einem baldigen Pint. Die Stadt wirkt lebendig, am frühen Abend füllen sich die Pubs schnell, beim Rathaus spielt eine Liveband irische Musik, fröhliche Teenager laufen laut palavernd die Strasse hinunter. Doch Feenan sagt: «Derry bietet jungen Leuten nicht viel. Sicher, für Musiker wie mich gibt es jede Menge Arbeit. Aber sonst sind die Jobs schlecht: Bars, Restaurants, Cafés – nichts, was man auf Dauer machen will.»

Tatsächlich hat Derry die höchste Armutsrate in Nordirland, laut einer Statistik vom letzten Jahr leben 27 Prozent der Bevölkerung des Bezirks Derry City and Strabane in Armut. Etwa die Hälfte der Leute, die mit ihm den Schul­abschluss gemacht hätten, sei weggezogen, sagt Feenan.

Politisches Erwachen

Auch Ciara O’Connor-Pozo wollte eigentlich weg. «Ich hatte gerade mein Studium in Glasgow abgeschlossen und überlegte, nach Frankreich zu gehen oder nach Spanien, wo ich Familie habe», sagt die 25-Jährige. «Aber dann kam die Pandemie, und ich kehrte hierher zurück.»

O’Connor-Pozo sitzt in der Küche des Museum of Free Derry. Es liegt in der Bogside, dem katholischen Quartier, in dem irische Flaggen und Wand­gemälde von nationalistischen Widerstands­kämpfern dominieren. Auch Bilder von Nelson Mandela sind zu sehen und immer wieder Palästina-Flaggen – die Solidarität mit anderen Menschen, die unter Unter­drückung leiden, sei stark, sagt O’Connor-Pozo.

In den Anfangsjahren der Troubles war die Bogside eine No-go-Zone für die britische Armee – die Republikaner nannten es das «Freie Derry». «Ich bin mit Geschichten über jene Zeit aufgewachsen», sagt O’Connor-Pozo, die mit ruhiger, aber bestimmter Stimme spricht. «Ich fühle mich damit sehr verbunden.» Sie begann, in Teilzeit für das Museum zu arbeiten, und als die Pandemie sich hinzog, engagierte sie sich immer mehr, mittlerweile ist sie für die Organisation von Events verantwortlich.

Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist cross community: gemeinsame Anlässe mit Unionisten und Nationalisten. Wenn sie Ausflüge mit Schulen aus beiden Communitys organisiert, reden die Schüler mit den Apprentice Boys und danach mit Leuten aus der nationalistischen Gemeinschaft, die am Bloody Sunday Angehörige verloren haben. «Es ist wichtig für junge Leute, sich mit dieser schwierigen Geschichte auseinander­zusetzen und Fragen zu stellen, ohne dass sie Angst haben müssen, etwas Falsches zu sagen.»

Aber ihre Arbeit ist nicht einfacher geworden – der Brexit und die Diskussionen um das Nordirland-Protokoll haben neue Spannungen ausgelöst. «Besonders auf der unionistischen Seite haben viele Leute Angst vor den extremistischeren Elementen in ihren Reihen, darum zögern sie, mit uns zusammen­zuarbeiten.»

Dabei gingen 2021 die Krawalle gegen das Nordirland-Protokoll auf das Konto einer sehr kleinen Minderheit. «Die meisten dieser Jungs wissen überhaupt nicht, was das Protokoll eigentlich ist. Es ist antisoziales Verhalten, das sich als politisches Engagement ausgibt. Wenn diese Leute Jobs hätten, würden sie keine Steine werfen oder Mülleimer anzünden.» Die ganzen Debatten über das Nordirland-Protokoll hält O’Connor-Pozo für einen Vorwand der unionistischen Parteien, um einen Streit anzuzetteln. «Was ich so nervig finde: Das Protokoll wird hier viel weniger diskutiert, als es die Medien in Grossbritannien suggerieren.»

Aber auf nationalistischer Seite gibt es auch andere Frustrationen. Die Tatsache, dass Nordirland gegen seinen Willen – die Provinz stimmte mit 56 Prozent gegen den Brexit – aus der EU gezerrt worden ist, habe ein «politisches Erwachen» bewirkt, sagt O’Connor-Pozo. Auch sie sieht eine langsame Bewegung hin zu einer border poll – je weiter die britische Regierung in eine rechts­konservativ-autoritäre Richtung gehe, desto mehr würden sich die Leute fragen: Wieso sollen wir Teil dieses politischen Konstrukts bleiben?

Was O’Connor-Pozo jedoch wichtig ist: «Wir müssen den Unionisten klarmachen, dass wir ihre Rechte und ihre Identität schützen werden: Niemand kann sie ihnen wegnehmen. Sie werden weiterhin britisch sein, einfach in einem wieder­vereinten Irland.» Auf keinen Fall solle die Bevölkerung so schlecht behandelt werden wie die katholische Community in den ersten siebzig Jahren des Bestehens von Nordirland.

Und die Parade der Apprentice Boys? Die werde sie sich ansehen, trotz ihrer republikanischen Überzeugung. Eine spanische Freundin komme vorbei, und sie würden gemeinsam hingehen, sagt O’Connor-Pozo: «Es ist ein weiterer interessanter Aspekt der Kultur dieses Irlands.»

Zum Autor

Peter Stäuber ist freier Journalist in London. Seit mehr als zehn Jahren berichtet er unter anderem für die WOZ, die «Zeit» und den «Freitag» über britische Politik und Wirtschaft, schwerpunkt­mässig über soziale Themen.

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