Harte Kritik der Uno an China, schwere Überschwemmungen in Pakistan und die Ukraine startet ihre Gegenoffensive
Woche 35/2022 – das Nachrichtenbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Christian Andiel, Reto Aschwanden, Theresa Hein, Boas Ruh und Cinzia Venafro, 02.09.2022
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Ukraine: Internationale Fachleute im umkämpften AKW, Gazprom meldet Rekordgewinn
Das Kriegsgeschehen: Die Ukraine meldet, dass am Montag die lange erwartete Gegenoffensive an der Frontlinie im Süden des Landes begonnen habe. Die regionale Verwaltung in Odessa sagte: «Es ist offiziell. Die Schlacht um Cherson hat begonnen.» Cherson war zu Beginn des Krieges von Russland erobert worden. In den vergangenen Wochen hatte die ukrainische Armee gezielt Nachschubwege der russischen Truppen in dieser Gegend angegriffen. Gemäss dem britischen Geheimdienst setzt die Ukraine bei ihrer Offensive auch Langstreckenraketen ein. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte die Angriffe, behauptet aber, diese seien «jämmerlich gescheitert». Die Regierung in Kiew forderte die Menschen in den umkämpften Gebieten im Osten und im Süden des Landes auf, noch vor Einbruch des Winters zu fliehen.
Die Situation ums AKW Saporischschja: Am Dienstag meldete die von Russland eingesetzte Verwaltung des Atomkraftwerks Saporischschja erneut einen Beschuss des Geländes durch ukrainische Soldaten. Der ukrainische Betreiberkonzern Enerhoatom erklärte, die Infrastruktur sei beschädigt. Es drohten Brände, und zudem bestehe die Gefahr, dass radioaktive Stoffe und Wasserstoff freigesetzt werden könnten.
Am Montag machte sich eine Delegation der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) auf den Weg nach Saporischschja. Es kam zu einer Verzögerung, weil die geplante Route unter Beschuss kam. Russland und die Ukraine machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Am Donnerstag dann trafen die Experten im AKW ein. Die IAEA plant eine dauerhafte Präsenz vor Ort. Russland unterstützt nach eigenen Angaben diesen Vorschlag.
Die internationalen Entwicklungen: Die EU wird ein Abkommen zur Erleichterung der Visavergabe für Reisende aus Russland komplett aussetzen. Damit könnte die Visaerteilung künftig Monate dauern. Bisher galt die Massnahme nur für Geschäftsleute, Regierungsvertreter und Diplomatinnen.
In Bern hat der Bundesrat am Mittwoch die Schweizer Sanktionen aktualisiert. Dabei geht es unter anderem um ein Verbot, öffentliche Aufträge an russische Bürger oder Organisationen zu vergeben. Davon ausgenommen sind Russen, die in der Schweiz ansässig sind, sowie Schweizer Unternehmen in russischem Besitz.
Der russische Energiekonzern Gazprom profitiert von den steigenden Gas- und Ölpreisen und meldet für das erste Halbjahr einen Rekordgewinn von umgerechnet rund 40 Milliarden Franken. Davon fliesst etwa ein Viertel in die russische Staatskasse. In der Nacht auf Mittwoch hat Russland erneut die Pipeline Nord Stream 1 geschlossen. Der Unterbruch sei wegen Wartungsarbeiten nötig und solle bis Samstag dauern.
Die Aussenminister der EU planen eine Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten. Bisher haben nur einzelne europäische Staaten ukrainische Armeeangehörige ausgebildet. Stattfinden sollen Lehrgänge der EU aber keinesfalls auf ukrainischem Boden.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Russland Zwangsumsiedlungen vor, betroffen seien namentlich Menschen aus den Gebieten um Mariupol oder Charkiw.
Irak: Tote und Verletzte bei Gefechten in Bagdad
Darum geht es: In Bagdad ist es zu schweren Unruhen gekommen. Bewaffnete Milizen und staatliche Sicherheitskräfte lieferten sich in der sogenannten Grünen Zone im Zentrum der irakischen Hauptstadt seit Montag heftige Gefechte. Nach Angaben der irakischen Armee wurde das Regierungsviertel mit Raketen beschossen. Auslöser war, dass der einflussreiche Schiitenführer Muqtada al-Sadr seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte. Mindestens 400 Personen wurden verletzt, 25 kamen ums Leben.
Warum das wichtig ist: Muqtada al-Sadr hatte im Oktober mit seiner Partei die Parlamentswahlen klar gewonnen, konnte jedoch seither keine Regierung bilden. Daraufhin forderte er Neuwahlen. Seither steckt der Irak in einer tiefen politischen Krise. Bereits 2014 hatte Sadr seinen Rückzug aus der Politik angekündigt.
Was als Nächstes geschieht: Nach zweitägigen Protesten forderte Sadr seine Anhänger zum Rückzug auf. Danach hat sich die Lage in Bagdad beruhigt. Seine Rivalen haben unterdessen einen eigenen Kandidaten als Premier vorgestellt. Die Lage bleibt angespannt. Laut Beobachtern könnte im Irak ein Bürgerkrieg drohen.
Pakistan: Mehr als 1000 Tote nach schweren Überschwemmungen
Darum geht es: In Pakistan ist es zu einer verheerenden Flutkatastrophe gekommen, die Regierung hat den Notstand ausgerufen. Rund 33 Millionen Menschen sind von den Überschwemmungen betroffen, Schätzungen gehen von mehr als 1100 Toten und etwa einer Million beschädigter und zerstörter Häuser aus. Eine halbe Million Menschen sind obdachlos. Weitere starke Regenfälle verursachen Erdrutsche.
Warum das wichtig ist: Seit Mitte Juni leidet das Land unter ungewöhnlich starkem Regen. Die daraus resultierenden Überflutungen gehen weit über jene des jährlich wiederkehrenden Monsunregens hinaus. Ganze Provinzen stehen unter Wasser. «Es sieht aus, als sei der Ozean übers Land gekommen», zitierte ein Korrespondent vor Ort gegenüber SRF die Klimaschutzministerin. Laut Experten ist der Klimawandel verantwortlich für die Zunahme von Naturkatastrophen in dem südasiatischen Land.
Was als Nächstes geschieht: Die Uno hat in einem ersten Hilfsplan 116 Millionen Dollar für sechs Monate gesprochen, in der Schweiz sammelt die Glückskette für Pakistan. Zudem sind Experten des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe ins Land gereist. Laut dem pakistanischen Aussenminister Bilawal Bhutto Zardari wird sich die Lage weiter zuspitzen. Die Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen. Die Menschen trinken verschmutztes Wasser, es drohen Krankheiten.
China: Uno fordert Ende der willkürlichen Inhaftierungen von Uiguren
Darum geht es: Die Vereinten Nationen kritisieren China hart für den Umgang mit der muslimischen Minderheit der Uiguren. Die Uno-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet veröffentlichte in der Nacht auf Donnerstag einen seit langem erwarteten Bericht zur Situation in Xinjiang: Das Ausmass der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderer überwiegend muslimischer Gruppen könne ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Bachelet fordert die chinesische Regierung auf, unverzüglich die Freilassung aller willkürlich inhaftierten Personen einzuleiten.
Warum das wichtig ist: Die Uno bestätigt mit dem Bericht, worauf zivilgesellschaftliche Gruppen seit Jahren hinweisen: In der chinesischen Provinz Xinjiang verschwinden systematisch Uigurinnen. Betroffene berichten von willkürlicher Inhaftierung, von Folter und sexueller Gewalt sowie von Zwangsarbeit. Ein grosses Datenleak, die «Xinjiang Police Files», bestätigte im Mai 2022 diese Vorwürfe. China hatte die Uno gedrängt, den Bericht nicht zu veröffentlichen. Die Untersuchung sei eine von westlichen Mächten arrangierte «Farce».
Was als Nächstes geschieht: Michelle Bachelets Amtszeit als Uno-Menschenrechtskommissarin endete am 31. August. Der Bericht wurde an ihrem letzten Arbeitstag zwölf Minuten vor Mitternacht veröffentlicht. Bachelet stand zuletzt enorm unter Druck: Rund 40 Regierungen wollten den chinakritischen Bericht verhindern. Andere Länder wiederum – darunter Deutschland – kritisierten sie nach einer Chinareise für einen zu laschen Umgang mit Peking. Wer die frühere chilenische Präsidentin auf dem Posten als Menschenrechtskommissarin beerben wird, ist unklar. Der Job gilt als der schwierigste Spitzenposten im ganzen Uno-Apparat.
USA: Bundesstaaten ringen um Recht auf Abtreibung
Darum geht es: In drei weiteren US-Bundesstaaten – Idaho, Tennessee und Texas – gilt seit etwas mehr als einer Woche ein rigides Abtreibungsverbot. In Texas riskieren Ärzte, die eine Abtreibung vornehmen, eine lebenslange Haftstrafe. Im traditionell konservativen Kansas dagegen sprach sich die Bevölkerung bei einem Referendum Anfang August mit einer klaren Mehrheit dafür aus, dass Abtreibungen bis zur 22. Schwangerschaftswoche erlaubt bleiben. In North Dakota wurde ein Abtreibungsverbot, das letzten Freitag hätte in Kraft treten sollen, schon zum zweiten Mal richterlich blockiert.
Warum das wichtig ist: Nachdem der Oberste Gerichtshof das seit dem Fall «Roe v. Wade» landesweit garantierte Recht auf Abtreibungen im Juni gekippt hat, können die Bundesstaaten dazu ihre eigenen Regeln erlassen. Dadurch entsteht ein Flickenteppich: Republikanisch regierte Bundesstaaten versuchen, Abtreibungen weitgehend zu verbieten. Zum Teil geschieht das durch bereits jahrelang vorbereitete trigger laws, die in Kraft treten sollten, sollte «Roe v. Wade» einmal aufgehoben werden, also jetzt. Demokratisch regierte Bundesstaaten bemühen sich, die Legalität von Abtreibungen zu wahren oder auszuweiten und ein safe haven für Frauen zu sein, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Der Ausgang des Referendums in Kansas spiegelt die Stimmung in der Bevölkerung wider: Landesweit befürworten an die 60 Prozent ein Recht auf Abtreibung.
Was als Nächstes geschieht: Vielerorts wird in Gerichtssälen noch über das Recht auf Abtreibung gestritten. Erwartet wird, dass Abtreibungen in etwa der Hälfte der Bundesstaaten verboten werden. Laut der «Washington Post» hat bereits eine von drei Frauen in den USA keine Möglichkeit mehr auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch. Wissenschaftlerinnen rechnen in restriktiven Bundesstaaten mit einer Zunahme von Todesfällen als Folge von illegalen und deshalb oft unsachgemäss durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen. Die verschärfte Rechtslage gibt der Demokratischen Partei Rückenwind für die Midterm-Wahlen im November.
Zum Schluss: Der Mann, der die Welt auf den Kopf stellte
Glasnost und perestroika. Zwei russische Wörter sorgten Ende der 1980er-Jahre für Furore. «Offenheit» und «Umgestaltung» waren die zentralen Begriffe von Michail Sergejewitsch Gorbatschow, nachdem er am 11. März 1985 mit 54 Jahren zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (und später zum Präsidenten der UdSSR) gewählt wurde. Was folgte, stellte die Welt auf den Kopf: Gorbatschow sah das Wettrüsten mit dem Westen in erster Linie als ökonomische Bedrohung, er zog die Sowjetarmee aus Afghanistan ab und ermöglichte sämtlichen Sowjetstaaten die Eigenständigkeit. Das führte 1991 zum Ende der Sowjetunion und zum Fall des Eisernen Vorhangs. Damit wurde Gorbatschow im Westen zum Demokratiehelden. Man nannte ihn «Gorbi», und 1990 erhielt er den Friedensnobelpreis. In seinem Heimatland aber ist er heute unbeliebt. Putin nannte das Ende der Sowjetunion die «grösste politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Allerdings verteidigte Gorbatschow die russische Annexion der Krim und warf den USA vor, die Ukraine nur als Vorwand für ihren Anspruch nach Vormacht zu benutzen. Nun ist Gorbatschow im Alter von 91 Jahren gestorben, er wird auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof neben seiner 1999 verstorbenen Gattin Raissa beerdigt.
Was sonst noch wichtig war
Corona: Innert Wochenfrist wurden 15’302 neue positive Tests gemeldet, 9 Prozent weniger als in der Vorwoche. Leicht gestiegen ist die Zahl der hospitalisierten Covid-Patienten. Anfang Woche hat das Heilmittelinstitut Swissmedic dem angepassten Covid-19-Booster-Impfstoff von Moderna die Zulassung für Menschen ab 18 Jahren erteilt. Der neue Impfstoff wirkt gegen das ursprüngliche Sars-CoV-2-Virus genauso gut wie sein Vorgänger und besser gegen die Omikronvarianten BA.1 und BA.4/5. Ende letzter Woche hat Moderna in den USA und in Deutschland Klagen gegen Biontech und deren Partner Pfizer eingereicht. Die Konkurrenten im Impfstoffgeschäft hätten wichtige Patente im Bereich der mRNA-Technologie verletzt.
Schweiz: Die Inflation in der Schweiz ist im August erneut gestiegen, laut dem Bundesamt für Statistik gegenüber dem Juli von 3,4 auf 3,5 Prozent. Verteuert haben sich vor allem Importe. In der Eurozone lag die Teuerung im August bei 9,1 Prozent, der höchste Wert, seit die Gemeinschaftswährung 1999 eingeführt worden war.
Deutschland: Hans-Christian Ströbele ist tot. Als Rechtsanwalt verteidigte er in den Siebzigern RAF-Mitglieder. Später gehörte er zu den Gründern der Deutschen Grünen und der Tageszeitung TAZ. Als erster Grüner wurde er direkt in den Bundestag gewählt, wo er lange eine prägende Rolle spielte.
Serbien/Kosovo: Der Streit um die Einreiseregeln wurde vorläufig beigelegt. Serbien will künftig Menschen mit kosovarischen Papieren ohne weitere Dokumente einreisen lassen. Im Gegenzug verzichtet Kosovo auf verschärfte Einreiseregeln für serbische Staatsbürger.
Grossbritannien: Als Reaktion auf die steigenden Energiepreise will fast ein Viertel der Britinnen im kommenden Winter aufs Heizen verzichten. Laut einer Umfrage überlegen sich 17 Prozent der Eltern mit Kindern, einen Kredit aufzunehmen, um die Heizkosten bezahlen zu können.
Libyen: Bei Kämpfen zwischen Milizen der rivalisierenden Regierungen kamen am Wochenende in Tripolis mindestens 32 Menschen ums Leben, rund 160 wurden verletzt. Es waren die schwersten Kämpfe seit zwei Jahren.
USA: Bei einer Sonderabstimmung in Alaska haben die Demokraten überraschend einen Kongresssitz erobert. Mary Peltola setzte sich knapp gegen die ehemalige republikanische Gouverneurin Sarah Palin durch. Allerdings: Bei den regulären Zwischenwahlen im November wird der Sitz erneut vergeben.
Uno: Den Vereinten Nationen fehlt Geld für die Nothilfe. Zwar sei die Finanzierungsbereitschaft für die Ukraine gross. Für Krisenländer wie Haiti oder Burma hingegen stehen weniger als 20 Prozent der benötigten Hilfsgelder zur Verfügung.
Die Top-Storys
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Das Olympia-Attentat Was wäre geschehen, wenn ihr Vater damals keine Angst gehabt hätte, fragt sich eine Journalistin des Bayerischen Rundfunks. Wenn er sich den Geiselnehmern entgegengestellt hätte? Am 5. September 1972 nehmen palästinensische Terroristen an den Olympischen Spielen in München israelische Sportler als Geiseln. Am Ende sind 17 Menschen tot. Im ARD-Podcast «Himmelfahrtskommando» rollen Zeitzeugen die Ereignisse neu auf.
Gefrorener Horror Schon lange lassen Menschen ihre Körper nach dem Tod einfrieren. Sie hoffen, dereinst mit den Möglichkeiten einer weiterentwickelten Medizin zum Leben wiedererweckt zu werden. Doch manchmal wird der Traum von der Auferstehung zum Albtraum. «Big Think» erzählt reale Horrorgeschichten der Kryokonservierung.
Illustration: Till Lauer