Am Gericht

Mit dem Vermieter auf dem Dach

Die Wohnungskündigung flattert ins Haus, betroffen ist die gesamte Mieter­schaft. Diese schliesst sich zusammen und geht gemeinsam gegen den Rauswurf vor. Erste Etappe: Schlichtungs­verhandlung.

Von Sina Bühler, 13.07.2022

Synthetische Stimme
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Das Zivilrecht ist in der Schweiz bereits über ein Jahrhundert lang schweizweit vereinheitlicht. Das dazugehörige Prozess­recht blieb noch bis vor kurzem in der Hand der Kantone. Und war entsprechend divers. Nur das Verfahren vor dem Bundes­gericht, der höchsten Instanz, war national geregelt.

Die unübersichtliche Situation auf der kantonalen Ebene änderte sich erst 2011, als die vereinheitlichte Zivilprozess­ordnung (ZPO) schweizweit in Kraft trat. Seither gilt bei zivil­rechtlichen Auseinander­setzungen überall: Bevor ein Gericht angerufen werden darf, muss in der Regel obligatorisch ein Schlichtungs­verfahren durchlaufen werden (Artikel 197 ZPO). Die nicht wenigen Ausnahmen zu diesem Grundsatz sind im Folgeartikel aufgeführt.

Nur wenn die Schlichtung scheitert, gelangt die Sache vor ein Gericht. Mit dieser Zweiteilung soll einerseits Zeit und Geld gespart und anderseits eine Aussöhnung privilegiert werden. Im Kanton Zürich werden die meisten Schlichtungen von Friedens­richterinnen behandelt. Mietstreitigkeiten hingegen kommen vor eine besondere Schlichtungs­behörde, die den Bezirks­gerichten angegliedert ist. Sie ist paritätisch zusammen­gesetzt, besteht aus je einer Vertreterin der Mieter- und der Vermieter­organisationen.

Das Verfahren ist kostenlos und offensichtlich ein Erfolgs­modell: Im zweiten Halbjahr 2021 konnten gerade mal 16,4 Prozent der Fälle nicht durch die Schlichtungs­behörde abgeschlossen werden.

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 12. Mai 2022, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: MO211658-L/K_V84/jc
Thema: Mietschlichtung

Im Mai 2018 stand ich mit meinem künftigen Vermieter auf dem Hausdach.

Er hatte mich unmittelbar nach der Wohnungs­besichtigung nach oben geführt und erzählte mir dort stolz, dass ihm beinahe wöchentlich Millionen für sein Elternhaus angeboten würden; ein Mehrfamilien­haus, das mitten in einem der beliebtesten Quartiere der Stadt Zürich steht.

Ich fragte ihn damals, ob er einen Verkauf in Erwägung ziehe. Dann hätte ich mich nämlich nicht als neue Mieterin beworben. Noch wohnte ich drei Strassen von diesem Haus entfernt, in einer zwar lottrigen, aber wunder­schönen Wohnung ohne Zentral­heizung, die nach dem Tod der betagten Besitzerin verkauft werden sollte.

Der Mann auf dem Dach war zwar auch schon über achtzig, doch er beruhigte mich sofort. Nein, er verkaufe bestimmt nicht. Niemand müsse ausziehen.

Weil er keine Erben habe, so der Eigentümer weiter, werde er eine Stiftung gründen, die das Haus zu verwalten habe. Drei Monate später zog ich dort ein. Die Dach­terrasse sollte ich allerdings nie mehr betreten dürfen. Es muss vor über zehn Jahren einen «Vorfall» gegeben haben, wie mir angedeutet wurde. Ich weiss heute noch nicht, warum der Vermieter sie beim ersten Treffen überhaupt gezeigt hat.

Und alle seine Versprechen hat er auch nicht gehalten.

Kurz vor Weihnachten letzten Jahres bekamen sämtliche Mieterinnen im Haus die Kündigung. Es war schon ein paar Tage lang Thema in unserem Haus-Chat, bevor ich es offiziell erfuhr. Denn ich weigerte mich vorüber­gehend, den Briefkasten zu leeren oder auf Telefon­anrufe und Klingeln an der Tür zu reagieren.

Eine kindische und vor allem hilflose Reaktion, das war mir voll bewusst, die Kündigung trifft ja trotzdem ein (und sonst gilt übrigens die sogenannte Zustellfiktion). Sie kam sogar zweimal. Zuerst ausführlich begründet, als persönlicher Brief vom Vermieter; und ein paar Tage später auch noch auf dem offiziellen Formular, das der Haus­eigentümer zunächst vermutlich vergessen hatte.

Im Obligationenrecht, wozu auch Mietverträge gehören, gilt der Grundsatz der Vertrags­freiheit. Das heisst, Verträge können abgeschlossen werden mit wem, worüber und wie man will. Und: Das Vertrags­verhältnis kann auch wieder beendet werden, von allen Vertrags­parteien. Weil im Mietrecht die Mieterinnen jedoch als die schwächere Vertrags­partei gelten, die einen besonderen gesetzlichen Schutz geniessen, gelten für die Kündigung strenge Regeln. Eben unter anderem diese Formular­pflicht.

Doch in beiden Briefen stand ohnehin dasselbe: In 13 Monaten hätten wir unsere Wohnungen zu räumen.

Der Vermieter schrieb, er plane eine umfassende Sanierung von Küche, Bad, Balkon sowie eine Isolation. Das sei nur im unbewohnten Zustand möglich. In «unserem» Haus gibt es zehn Wohnungen und zwei Büros. Eine Familie war wenige Tage vor der Kündigung ausgezogen, sie hatte von den Plänen des Eigentümers gewusst. Die anderen Wohnungs­mieter hingegen fielen aus allen Wolken. Ein 86-jähriger Nachbar, der seit bald 40 Jahren im Haus lebt, sagte mir im Treppen­haus, er hoffe, er sterbe innerhalb dieser Kündigungs­frist.

Wir organisierten uns schnell.

Über die Hälfte der Haus­bewohnerinnen war bereits Mitglied im Mieter­verband, die übrigen traten nun bei, und wir verabredeten einen Termin mit den Fachleuten. Einsprachen gegen eine Wohnungs­kündigung müssen innerhalb von 30 Tagen eingereicht werden – Feiertage über Weihnachten und Neujahr hin oder her. Der Mieter­verband bereitete uns einen Brief an die Schlichtungs­behörde vor.

Wir fochten die Kündigung als ungültig und missbräuchlich an.

Der erste Schritt in einem Streitfall in Miet­angelegenheiten ist, wie erwähnt, das obligatorische Schlichtungs­verfahren. Die Schlichtungs­richterinnen versuchen, einen Konsens zwischen den Parteien herbei­zuführen. Sie schlagen einen Kompromiss vor, von dem sie annehmen, dass er für beide Seiten akzeptierbar ist. Gelingt dies nicht, stellen sie eine Klage­bewilligung aus. Damit ist der Weg ans Miet­gericht geebnet. Ein solcher Prozess ist allerdings zeit- und kosten­aufwendig – und immer mit dem Risiko einer Niederlage verbunden.

Bereits für die Schlichtungs­verhandlung mussten wir Mieterinnen belegen, dass wir uns intensiv für neue Wohnungen beworben hatten, und zwar erfolglos. Das zu belegen, ist in der Stadt Zürich kein Problem – leider. Die Situation auf dem Wohnungs­markt ist seit Jahren angespannt und die Tendenz zunehmend. Wir alle konnten haufenweise Absagen vorlegen. Das Wohnungs­suchen ist unglaublich aufwendig und wegen der vielen Absagen auch zermürbend.

An einem warmen Maimorgen fand schliesslich die Verhandlung vor der Schlichtungs­stelle statt, angesiedelt beim Bezirks­gericht Zürich. Die Gruppe der Mieterinnen, die gegen die Kündigung vorgehen wollte, traf mit ihrer Anwältin auf den Vermieter und dessen Anwalt. Inzwischen bestand unsere Gruppe noch aus sieben Parteien. Ein Paar hatte inzwischen eine neue Wohnung gefunden, eine Mieterin hatte sich entschieden, ohne Anwältin zu kämpfen.

Sie würde eine knappe Stunde nach uns vor der Schlichtungs­behörde stehen. Und zur selben Lösung kommen.

Doch zuerst waren wir dran.

Folgendes ist passiert:

Unsere Anwältin legt der Schlichtungs­behörde dar, weshalb die Kündigung als missbräuchlich einzustufen sei. Die Sanierungs­pläne des Vermieters seien reine Luftschlösser. Tatsächlich war erst sechs Wochen nach der Kündigung eine junge Architektin durch die eine Wohnung gegangen, sie fotografierte links und rechts und verschwand so wortkarg und grusslos, wie sie gekommen war, in die nächste.

Der Bauplan, der dann plötzlich im Treppen­haus hing, war auch nicht mehr als eine Excel-Tabelle mit Wunsch­terminen. Mehrere Monate später bestätigte sich unsere Einschätzung nochmals: Wir hatten alle angeben müssen, ob wir nach dem Umbau wieder einziehen wollten. Die meisten sagten Ja. Der Vermieter dankte uns zwar für die Info, wollte uns aber doch keine Zusage geben. Er könne die künftigen Konditionen nicht einschätzen, seine Architektinnen hätten erst vor kurzem das Vor­projekt abgeschlossen.

Wohlgemerkt, das war im März, ein Vierteljahr nach der Kündigung.

Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts muss ein Sanierungs­plan bereits im Zeitpunkt der Kündigung feststehen. Ist das Projekt «nicht hinreichend fortgeschritten und ausgearbeitet (…), um das Ausmass der geplanten Arbeiten abschätzen zu können und so zu bestimmen, ob diese einen Wegzug des Mieters erfordern», so ist die Kündigung missbräuchlich und damit hinfällig.

Falls die Schlichtungs­behörde eine andere Auffassung vertreten sollte, verlangt unsere Anwältin vor der Schlichtungs­behörde eine Miet­erstreckung. Mieter können die Kündigungs­frist ihrer Wohnung um maximal vier Jahre verlängern, je nach Härte­situation. Entweder wird die Erstreckung für jede Partei individuell vereinbart, oder es gibt eine Abmachung fürs ganze Haus.

Für uns Betroffene ist die Ausgangs­lage äusserst unterschiedlich. Die Gruppe ist heterogen: eine Familie mit soeben geborenem Baby, eine Ärztin, zwei Pensionierte, eine Studentin, um nur einige zu erwähnen. Aber abgesehen davon stellt der tiefe Leerwohnungs­stand von aktuell 0,17 Prozent in der Stadt Zürich generell schon eine Härte­situation dar. Unsere bisherigen Wohnungen sind bezahlbar, nicht derart überteuert wie viele in der Stadt.

Für die meisten von uns liegt eine viel höhere Miete schlicht nicht drin.

So also unsere Argumente, vorgebracht durch die gemeinsame Anwältin.

Als sie mit ihren Ausführungen fertig ist, ergreift der Anwalt unseres Vermieters das Wort und schildert die Situation aus der Sicht des Haus­eigentümers. Zählt detailliert auf, was im Haus alles saniert werden müsse. Spricht von defekten Entwässerungs­leitungen, einem Sicherheits­mangel beim Balkon­geländer, dringendem energetischem Sanierungs­bedarf. Weil die Fassade unter Denkmal­schutz stehe, könne sie nicht von aussen her gedämmt werden. Und bei einer inneren Dämmung müssten die Wohnungen eben leer stehen, das sei zwingend. Die letzte Renovation habe 1982 stattgefunden, seither sei nichts mehr gemacht worden.

Eine Mieterstreckung habe für seinen Mandanten einen erheblichen finanziellen Ausfall zur Folge, betont der Anwalt.

Die vorsitzende Richterin, Claudia Tscharner, hört beiden Seiten aufmerksam zu. Dann wendet sie sich an die Mieterschaft. Sie hat viele Fragen. Tscharner erkundigt sich nach unserer finanziellen Situation, die wir wahlweise laut sagen oder auf ein Zettelchen aufschreiben können. Sie will den Radius wissen, in welchem wir eine neue Wohnung suchten, oder wo wir beruflich und privat stünden.

Nach dieser Fragerunde ergreifen erneut die Anwältinnen das Wort – und dann verlassen alle den Saal. In einer halben Stunde würde uns ein Vergleichs­vorschlag präsentiert.

Wie wir wieder drinnen sitzen, spricht die Richterin von einem Spagat. Und meint damit die doch sehr unterschiedlichen Bedürfnisse jener, die vor ihr sitzen.

Die Kündigung halte sie eher für gültig – zwar nicht über alle Zweifel erhaben, aber mehr unbedarft als missbräuchlich. Also geht sie sogleich zu unserem zweiten Begehren über: 14 Monate definitive Miet­erstreckung schlage sie uns vor, sprich: Wir müssten statt im Februar 2023 erst im April 2024 ausziehen.

Die gleiche Lösung für alle.

Wir beraten uns kurz.

Und sagen dann zu.

Unser Vermieter ist ebenfalls einverstanden.

Fall erledigt. Schlichtung gelungen. Es kommt zu keinem Prozess.

Wie wir den Saal verlassen, spricht uns der Vermieter freundlich an und erwähnt die unbefriedigende Parkplatz­situation für die Velos. Die gelte es ebenfalls zu lösen.

Von den Versprechen, die er damals, im Mai 2018, auf der Dach­terrasse abgegeben hat, wird er immerhin eines doch noch einlösen: Vier Tage nach der Schlichtungs­verhandlung gründete er eine Stiftung.

Illustration: Till Lauer

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