Auf lange Sicht

Wo sind alle hin?

Kaum sind die Einschränkungen der Pandemie verdaut, trifft der nächste Schlag die Unternehmen: Sie finden kein Personal mehr.

Von Philipp Albrecht und Felix Michel, 11.07.2022

Synthetische Stimme
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Warten. Warten auf den Abflug, auf die Koffer, auf die Bedienung, auf die Therapie. Wir warten gerade viel. Weil das Personal fehlt. An den Flughäfen, im Restaurant, im Hotel, im Spital. Geduld ist gefragt.

Mit dem Ende der Corona-Lockdowns begann der Arbeitskräfte­mangel. Die Situation ist ernst, die Unter­nehmen schlagen Alarm, weil sie ihre Versprechen nicht mehr einlösen können. Ihre Auftrags­bücher sind voll, aber es fehlt an Personal, das die Aufträge ausführt.

Was in einzelnen Branchen immer wieder mal vorkommen kann, betrifft nun fast die komplette Unter­nehmens­welt. Und alle fragen sich: Wo sind die Leute hin?

Eine einzige treffende Antwort gibt es nicht. Und einige Antworten sind erst Thesen, weil die Datenlage noch unscharf ist. Aber von Anfang an.

Mehr offene Stellen als Jobsuchende

Ende März waren 114’000 Stellen offen. Das sind 2,1 Prozent aller Arbeits­plätze in der Schweiz. Was auf den ersten Blick nach wenig aussieht, ist tatsächlich ein historischer Höchst­stand – zumindest seit Mess­beginn 2003. Bisheriger vorpandemischer Rekord waren 1,7 Prozent Anfang 2008.

Historisch hohe Anzahl unbesetzter Stellen

Quote der offenen Stellen

20032009201620222,1 %0,01,53,0 % Rekord vor der Pandemie

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Den 114’000 Stellen stehen 92’000 Jobsuchende gegenüber. Würde man nun sämtliche unbesetzten Stellen mit Arbeits­losen füllen – was wegen unterschiedlicher Qualifikationen und vieler anderer Gründe nicht geht – wären noch immer 22’000 Stellen offen.

«Irgendwo muss es ein Loch geben, das die Arbeits­kräfte absaugt und in ein Parallel­universum verschiebt», vermutet Claude Meier, Direktor des Verbands Hotellerie­suisse. «Nein, im Ernst: Egal wo ich hingehe, überall sagen mir die Arbeit­geber das Gleiche: Es fehlt an Personal.»

Und das betrifft nicht nur Meiers Branche, zu der statistisch auch die Gastronomie zählt. Dort ist die Quote offener Stellen zwar gemeinsam mit der IT-Branche am höchsten, doch in praktisch allen Bereichen stieg sie im Vergleich zur vorpandemischen Zeit an.

Gastgewerbe und IT-Branche haben den höchsten Bedarf an Arbeitskräften

Quote der offenen Stellen

Hotellerie und Gastronomie
Informationstechnologie und Informationsdienstleistungen
20182019202120224,3 %4,3 %036 %

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Spricht man mit Hotelverbands­chef Meier, erhält man das Bild einer Branche im totalen Umbruch. Ein Umbruch, der schon vor Corona eingesetzt hat, aber durch die Pandemie so derart beschleunigt wurde, dass jetzt erst einmal Feuerwehr­übungen nötig sind, bevor man die Strukturen angehen kann.

Ähnlich klingt es in einer Branche, die im Gegensatz zur Hotellerie eher zu den Pandemie­profiteuren zählt: im Detail­handel. Obwohl viele Läden schliessen mussten, profitierte er als Ganzes wegen der explodierten Nachfrage im Online- und Lebensmittel­handel.

Beizer, Bühnenbauerinnen, Coiffeusen oder Flug­begleiter, die während der Lockdowns nicht arbeiten durften, wechselten etwa in die Waren­lager und den Kunden­dienst von Galaxus, Brack und Co. Inzwischen sind viele wieder in ihre Berufe zurück­gekehrt, obwohl die Betriebe die Leute gerne behalten hätten, wie Patrick Kessler, Geschäftsführer von Handels­verband.swiss, sagt. Im Onlinehandel sei der Personal­engpass im Moment aber noch nicht so gravierend wie im stationären Handel: «Viele unserer Mitglieder suchen insbesondere für den persönlichen Verkauf auf der Fläche händeringend nach qualifiziertem Personal, offene Stellen lassen sich nur noch sehr schwer besetzen.»

Keine Kündigungs­welle

Kessler und Meier sind in der Wirtschaft Vertreter der Mikrowelt. Als Verbands­leute stehen sie in ständigem Kontakt mit den Menschen an der Front. Fragt man sie, wohin die Leute alle gegangen sind, antworten sie mit einer Handvoll Thesen. Bevor wir genauer darauf eingehen, machen wir aber einen kleinen Umweg über die Makrowelt – also jene Welt, in der die Ökonominnen walten.

Was diese für die Schweiz ausschliessen können, ist ein Effekt, wie man ihn letztes Jahr in den USA festgestellt hat und der als Great Resignation oder Kündigungs­welle bekannt wurde. Innerhalb eines Jahres hatten dort rekordhohe 48 Millionen Menschen gekündigt, was 29 Prozent aller Erwerbs­tätigen entspricht. Ökonomen sehen darin eine dauerhafte Verschiebung der persönlichen Einstellung zur Arbeit – ausgelöst durch die Corona-Krise.

In der Schweiz gibt es keine Massen­kündigungen vonseiten der Angestellten, wie der Thinktank Avenir Suisse ermittelt hat. Die sogenannte Rotations­quote, die Stellen­wechsel ermittelt, schlug im Vergleich zu den letzten zehn Jahren nicht aus.

Der Personalmangel sei vielmehr auf einen einmaligen Aufschwung­effekt zurückzuführen, sagen Ökonominnen. Während Aufschwünge normaler­weise in den verschiedenen Branchen zeitlich verschoben eintreten, komme diesmal alles aufs Mal. Seit dem Ende der Corona-Massnahmen suchen alle zur gleichen Zeit neues Personal.

Personal, das der Arbeitsmarkt in so kurzer Zeit nicht bieten kann.

Ein Teil des Problems dürften die Ausfälle in den letzten zwei Jahren gewesen sein. Ein Blick auf die Absenzen­quote zeigt das Ausmass. Die Grafik illustriert, wie oft die Angestellten abwesend waren – sei dies wegen Krankheit, Kurz­arbeit, Mutterschafts­urlaub, Militär, Zivildienst, Zivilschutz, Arbeits­konflikten oder schlechten Wetters. Betrug dieser Wert in den Jahren vor der Pandemie konstant etwas mehr als 4 Prozent der Arbeitszeit, schoss er 2020 auf fast das Dreifache und erreichte auch 2021 immer noch knapp das Doppelte.

2020 fielen Angestellte für fast 12 Prozent ihrer Gesamtarbeitszeit aus

Absenzenquote der Vollzeitarbeitnehmenden

201720182019202020210,07,515,0 % 11,7 %

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Die Unternehmen mussten also viele Löcher stopfen. Die Frage ist nun: Was passierte in dieser Zeit der Abwesenheit in den Köpfen der Arbeit­nehmerinnen?

Rückkehre­rinnen und Familien­gründer

Das führt uns zurück zu den Thesen von Kessler und Meier. Sie gehen etwa davon aus, dass viele Angestellte ihr Pensum reduzierten. Das würde bedeuten, dass sie – anders als in den USA – nicht kündigten, um sich eine sinnvollere Arbeit zu suchen, sondern ihr Pensum um 10 oder 20 Prozent verringerten. Die gewonnene Zeit investieren sie möglicher­weise in ihr Privatleben, sie gründen eine Familie, pflegen Verwandte oder widmen sich intensiver ihrem Hobby.

Das hat Auswirkungen auf die Arbeitgeber­seite. Patrick Kessler macht ein Beispiel: «Wenn in einer Firma mit 100 Angestellten 10 Leute ihr Pensum von 100 auf 80 Prozent reduzieren, fehlen plötzlich 200 Stellenprozente. Das sind Verschiebungen, die an den Grund­festen des Arbeits­marktes kratzen.»

Eine weitere These betrifft ausländische Arbeits­kräfte. Man geht davon aus, dass nicht wenige während der Pandemie in ihre Heimat zurück­gekehrt sind, wo sie dann blieben, weil der Arbeits­markt dort in der Zwischenzeit attraktiver geworden ist. Schliesslich ist der Personal­mangel kein exklusives Schweizer Problem, und der Wettbewerb um gute Arbeits­kräfte kennt keine Grenzen.

Nun treffen die corona­bedingten Ausfälle auf zwei grössere Phänomene: das Nachwuchs­problem und die aus dem Arbeits­markt scheidenden Baby­boomer. Gemeinsam – da sind sich Mikro- und Makrowelt weitgehend einig – ergeben sie eine toxische Mischung.

Der Nachwuchs fehlt in vielen Bereichen schon seit Jahren. Nehmen wir das Gast­gewerbe: Dort ist die Zahl der Menschen, die eine Lehre beginnen, seit 2010 um 25 Prozent geschrumpft. Das ist ein markanter Einbruch, gerade im Vergleich zu den kumulierten Ausbildungs­feldern in der Schweizer Unternehmens­welt, wo die Zahl der Eintritte in die Berufs­ausbildung stagniert. (Die Gründe dazu würden wiederum eine eigene «lange Sicht» füllen.)

Immer weniger Lernende im Gastgewerbe

Berufseintritte, indexiert

Total
Gastgewerbe
2010201420172021100 %75 %050110 %

Quellen: Bundesamt für Statistik, Hotelleriesuisse.

Es wird Jahr für Jahr schlimmer

Auf der Seite der Erwerbs­tätigen, die in Rente gehen, schlägt nun durch, was unter Ökonominnen als «demografische Zeitbombe» bezeichnet wird: Die Zahl der Baby­boomer, die aus der Arbeits­welt ausscheiden, ist nun höher als jene der beruflichen Einsteiger. Und sie wächst stetig weiter.

«Vielen ist nicht bewusst, dass wir erst am Anfang dieser Entwicklung stehen und dass es noch schlimmer wird», warnt der Basler Arbeitsmarkt­ökonom Manuel Buchmann. Nach seiner Prognose, die auf Daten des Bundesamtes für Statistik beruht, dürfte sich die Situation bis 2030 jedes Jahr weiter verschärfen. Erst wenn die Pensionierung der Babyboomer vorüber sei, könne man eine Stabilisierung erwarten.

Babyboomer verabschieden sich aus dem Arbeitsmarkt – der Nachwuchs fehlt

Anzahl 20- und 65-Jährige in der Schweiz

Achse gekürzt2009202320362050 65 Jahre 20 Jahre80’000110’000140’000 Personen

Quelle: Demografik.

Die Menschen haben also nicht in Massen gekündigt, um sich aus den Zwängen von ungeliebten Jobs zu befreien. Aber die Pandemie gab den Entwicklungen in der Arbeits­welt einen Schub: «Sie hat eine Schock­bewegung ausgelöst, die den bereits existierenden Fachkräfte­mangel punktuell verstärkt hat», beschreibt es Buchmann.

Und offensichtlich hat sie Menschen, die schon vorher über Selbst­ständigkeit, Früh­pensionierung, Familien­planung oder die Rückkehr in die Heimat nachgedacht haben, die Entscheidung erleichtert.

Vielleicht hilft uns diese Erkenntnis, wenn wir demnächst ungeduldig am Förder­band auf unseren Koffer warten.

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