Das Amt und die verstümmelte Katze

Das Staats­sekretariat für Migration informierte vor einem Jahr über «schwere kriminelle Handlungen» gegen eine seiner Mitarbeiterinnen in Basel. Die Täterschaft: Links­extreme. Die Medien nahmen die Geschichte breit auf. Polizei­dokumente wecken nun Zweifel an den Darstellungen der Bundes­behörde.

Von Daniel Ryser (Text) und Jonathan Hoffboll (Illustration), 01.07.2022

Synthetische Stimme
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Eins ist vollkommen sicher, wenn eine tote Katze auf den Esstisch geworfen wird – und ich meine nicht, dass die Leute empört, aufgeschreckt, angewidert sein werden. Das ist wahr, aber irrelevant. Der entscheidende Punkt (…) ist, dass jeder schreien wird: «Du meine Güte, Kumpel, da liegt eine tote Katze auf dem Tisch!»

Boris Johnson, britischer Premier, über die «Strategie der toten Katze» seines Beraters Lynton Crosby.

Die Katze, sagte Reto Kormann, Sprecher des Staats­sekretariats für Migration, sei knapp mit dem Leben davon­gekommen: «Der Tierarzt konnte die Katze gerade noch retten.»

Das war Ende April 2021, und der «Blick» schrieb: «In Basel haben Links­extremisten eine Hetzjagd gegen eine Mitarbeiterin des Bundesasyl­zentrums gestartet. Dabei ist ihnen jedes Mittel recht – und Gewalt kein Tabu.» In einem anderen Artikel hiess es: «In derselben Zeit verletzen Unbekannte die Katze der Familie beinahe tödlich. Unfassbar: Dem Tier wurde bei lebendigem Leib teilweise das Fell abgezogen.»

Ähnlich klang es bei diversen anderen Nachrichten­portalen:

  • «Unbekannte manipulieren Autobremsen – Bundes­polizei ermittelt», hiess es bei SRF. «Im Verdacht stehen links­extreme Gruppen.»

  • In der NZZ: «Verstümmelte Katze und manipulierte Brems­kabel: Angriffe gegen Mitarbeiterin eines Basler Asyl­zentrums.»

Ausgelöst hatte die Berichte das Staats­sekretariat für Migration (SEM), das am 27. April 2021 in einer Medien­mitteilung über die «schweren kriminellen Handlungen gegen Mitarbeitende und Sach­beschädigungen in Millionen­höhe» informierte. Darin hiess es: «In Basel haben die persönlichen Angriffe anonymer Kreise gegen einzelne Personen, die im Bundesasyl­zentrum Basel arbeiten, in den letzten Monaten jedoch ein neues und besorgnis­erregendes Ausmass angenommen. Im privaten Umfeld zumindest einer Mitarbeiterin des SEM und ihrer Familie kam es gar zu massiven Sach­beschädigungen und schweren kriminellen Handlungen».

Das SEM informierte die Öffentlichkeit zu einem bemerkens­werten Zeitpunkt über diese Angriffe. Die Migrations­behörde wusste, dass eine brisante Recherche von WOZ, SRF und RTS kurz vor der Veröffentlichung stand. Im Zentrum der Medien­recherche: gewalt­tätige Übergriffe von Sicherheits­personal auf Asyl­suchende in Bundesasyl­zentren. Verantwortlich: das Staats­sekretariat für Migration.

Als die Recherche Anfang Mai 2021 veröffentlicht wurde, schrieb die WOZ, das SEM habe die Gewalt­vorwürfe relativiert und herunter­gespielt und die Existenz solcher Vorfälle abgestritten, «bis ander­weitige Belege für deren Vorhanden­sein auftauchten».

Fast zur gleichen Zeit wandte sich die Behörde jedoch von sich aus an die Öffentlichkeit, um über die Katze zu informieren, verstümmelt von Links­extremen. Eine Geschichte, die die Medien gerne aufnahmen.

Aber ist sie auch wahr?

Eine neue Version der Geschichte entsteht

Der Republik liegen Polizei­berichte, Einvernahmen und Beweis­fotos vor – die gesamten Unter­suchungs­akten in diesem Fall. Sie zeigen: So, wie die Geschichte im Frühling 2021 erzählt wurde, haben sich die Dinge nicht abgespielt. Viele der erhobenen Vorwürfe sind inzwischen im Nichts verpufft, einige Darstellungen sind zumindest zweifelhaft, das Verfahren gegen eine beschuldigte Person wurde mittler­weile eingestellt und die Verfahren gegen unbekannt sistiert.

SEM-Sprecher Reto Kormann sagt heute, er habe damals die Bilder der verstümmelten Katze selber gesehen, und sein Chef, Daniel Bach, der habe sie auch gesehen. Bilder, sagt der SEM-Sprecher, die er den eigenen Kindern niemals gezeigt hätte. Doch als die Republik die Bilder sehen will, verweigert das der SEM-Sprecher – trotz anfänglicher Zusage.

Im Tierarztbericht, welcher der Republik vorliegt, heisst es, die Katze sei am 11. März 2021 nach einem nächtlichen Streifzug am Schwanz verletzt gewesen: «Freigänger, ging gestern abends raus. Heute Morgen mit Verletzungen nach Hause gekommen. Ansonsten war alles normal.» Weiter heisst es im Bericht: «Fremd­einwirkung kann bei dieser Verletzung leider nicht ausgeschlossen werden.»

Obwohl von einem Angriff durch Menschen nicht die Rede ist, wurde aus einem «kann nicht ausgeschlossen werden» ein «bei lebendigem Leib teilweise das Fell abgezogen» – und zwar von Links­extremen. Aus den Akten geht hervor, dass für diesen Dreh der ehemalige Staats­sekretär Mario Gattiker verantwortlich ist.

In der Strafanzeige zuhanden der Kantons­polizei durch die Katzen­besitzerin am 11. März 2021 hatte es noch geheissen: «Gemäss Tierarzt­bericht kann eine Fremd­einwirkung nicht ausgeschlossen werden.»

Eine Woche später schreibt der damalige SEM-Vorsteher Gattiker in seiner Strafanzeige an die Bundes­anwaltschaft: «Die Abklärungen in der Tierklinik haben ergeben, dass aufgrund der Art der Verletzungen eine mutwillige Fremd­einwirkung wahrscheinlich ist.»

Im «Nachtragsrapport» der Kantons­polizei Solothurn vom 5. Juli 2021, verfasst vom Regionen­chef Jura-Nord der Kantons­polizei Solothurn, steht: «In der Presse konnte man dann entnehmen, dass sogar ihre Hauskatze durch die unbekannte Täterschaft verstümmelt und ihr Fell rasiert wurde.» Es sei unbestritten, dass die Katze stark verletzt zum Tierarzt habe gebracht werden müssen, schreibt der Kantons­polizist. «Damit man sie operieren konnte, musste man natürlich vorher die entsprechende Stelle an ihrem Körper rasieren. Der Tierärztin und der Familie war jedoch bekannt, dass dies erst in der Klinik passiert und nicht durch die unbekannte Täterschaft zugefügt wurde.»

Wie kam das SEM dazu, der Geschichte einen derartigen Spin zu geben, dass sogar die ermittelnde Polizei ihren Augen nicht traute? Wie kam der frühere SEM-Chef Gattiker dazu, ganz anders als im Tierarzt­bericht und in der Anzeige bei der Kantons­polizei Solothurn zu behaupten, eine «mutwillige Fremd­einwirkung» sei «wahrscheinlich»? Wie kam SEM-Sprecher Kormann dazu, dem «Blick» zu erzählen, der Katze sei bei lebendigem Leib das Fell abgezogen worden, wenn das nicht stimmte?

Das SEM, das 2021 angesichts der kritischen Recherche von WOZ, SRF und RTS und trotz laufender Ermittlungen der Bundes­anwaltschaft gern mittels Medien­mitteilung und Sprecher Kormann seine Version der Geschichte erzählte, schweigt nun plötzlich, als es mit Unstimmigkeiten konfrontiert wird. Man könne und wolle keine Stellung zu den Fragen der Republik nehmen, teilt SEM-Sprecher Daniel Bach mit. Fragen zum Verfahren müssen laut Bach nun plötzlich an die zuständige Strafverfolgungs­behörde gerichtet werden.

Es gibt noch weitere Unstimmigkeiten in der Version der Geschichte, die das SEM verbreitete.

Aus dem Polizeibericht geht auch hervor, dass Links­extreme noch für weitere Vorfälle verantwortlich gemacht wurden, bei denen nicht erwiesen ist, dass Menschen im Spiel waren – oder das Gegenteil nachgewiesen wurde. In einem Fall geht die Polizei sogar davon aus, dass die zur Anzeige gebrachte Geschichte nie stattgefunden hat.

Es stellt sich aufgrund der Dokumente die Frage, ob das von einer Schmäh­kampagne betroffene Ehepaar irgendwann so ängstlich wurde, dass es anfing, Gespenster zu sehen. Oder aber, ob es aktiv daran beteiligt war, eine medial breit­getretene Kampagne zu schüren über Angriffe, die so nie stattgefunden haben.

Die Ermittlungen führen zu einem Fuchs

Ein Jahr bevor das SEM die Öffentlichkeit über angeblich «politisch motivierte Gewalt­taten» informierte, hatten die SRF-Sendung «Rundschau» («Prügel-Klima im Basler Asyl­zentrum») und die WOZ ein erstes Mal über Gewalt an Asyl­suchenden im Basler Bundesasyl­zentrum Bässlergut berichtet. Im Zentrum der Kritik stand damals ein sogenannter «Besinnungs­raum». Asylsuchende gaben den Journalistinnen zu Protokoll, dort spitalreif geschlagen worden zu sein. Auch Securitas-Mitarbeiter sprachen von einer extrem angespannten Situation und mehreren körperlichen Auseinander­setzungen pro Woche. Ende Dezember 2019 hatte sich zudem ein Asyl­suchender erhängt. Die Proteste gegen das Bundesasyl­zentrum häuften sich.

Schliesslich geriet neben einem Mitarbeiter der Betreuungs­firma ORS sowie einem Securitas-Mitarbeiter speziell eine Frau in den Fokus, die im Bundesasyl­zentrum als Fach­spezialistin des Staats­sekretariats für Migration arbeitete und gleichzeitig für die SP für den Solothurner Kantonsrat kandidierte. Beatrice Muster, die in Wirklichkeit anders heisst, wurde auf der linken Online­plattform Barrikade.info Mitte März 2021 gedoxt: Das Portal bezeichnete sie als Leiterin des Zentrums (wobei gemäss Akten nicht klar wird, ob diese Bezeichnung korrekt ist) und veröffentlichte ihr Foto, ihre E-Mail-Adresse und ihre Telefon­nummer mit der Aufforderung, sie zum Rücktritt von ihren Posten aufzufordern.

Daraufhin gingen sowohl bei der Solothurner SP wie auch bei Beatrice Muster persönlich Anrufe und Mails ein, in denen sich Personen – meistens mit Klarnamen – über die Zustände im Lager beschwerten.

Bereits zwei Wochen vor dem Aufruf auf der Website waren Ende Februar 2021 drei Reifen am einen Auto des Ehepaars zerstochen und die Karosserie zerkratzt worden. Anfang März wurde das zweite Auto zerkratzt mit dem Schriftzug «Fight SEM».

Schliesslich hingen Anfang März am Wohnort der SP-Politikerin und im Hinblick auf die anstehenden Wahlen Plakate: Zu sehen war ihr Foto neben jenem von zwei Securitas-Mitarbeitern, dazu die Namen, E-Mail-Adressen und Handy­nummern. Die Nachricht: Diese beiden Securitas-Mitarbeiter schlügen Asylsuchende, die SP-Kandidatin dulde das.

Eine Woche später kam die Katze verletzt nach Hause. Alles schien zusammen­zuhängen: Die verletzte Katze konnte nur Teil der Kampagne gegen die SEM-Mitarbeiterin sein.

Dann kam es zum schwersten Vorfall: Am 20. April 2021 meldete Beatrice Muster, sie sei abends kurz nach 21 Uhr nach Hause gekommen und habe zwei Personen erwischt, die sich an ihrem Fahrzeug zu schaffen gemacht hätten. Die Personen seien geflüchtet. Ihr Ehemann, ein Polizist, habe das Auto untersucht und dabei festgestellt, dass sowohl Brems­schlauch wie auch ABS-Sensoren angeschnitten worden seien (was die Kantons­polizei später bestätigte).

Am Auto einer weiteren SEM-Mitarbeiterin hatte laut deren Aussage ein paar Wochen zuvor die Anzeige für die Brems­flüssigkeit geleuchtet. In einer Auto­garage habe man dann Anfang April festgestellt, so ihre Aussage, dass das Bremsventil locker sei. Die Mitarbeiterin brachte diese Sache zur Anzeige, nachdem sie vom SEM über die anderen Vorfälle informiert worden war.

Beim Ereignis mit den Bremskabeln fehlte, wie auch beim Vorfall mit der Katze, ein Bekenner­schreiben von politischen Kreisen, wie das sonst üblich ist. Für das SEM war es dennoch klar, dass es sich dabei um «politisch motivierte Gewalt­taten» handelte. Auf Anzeige des SEM leitete die Bundes­anwaltschaft, wie das bei vermutetem politischem Extremismus der Fall ist, Ende März 2021 eine Strafuntersuchung ein – wegen Nötigung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, später auch wegen Sach­beschädigung und Tierquälerei. Bis dahin hatte die Staats­anwaltschaft Solothurn die Unter­suchung geleitet.

Mitte Juni 2021 erstattete der Ehemann der SEM-Mitarbeiterin ein weiteres Mal bei der Kantons­polizei Solothurn Anzeige, diesmal, weil sich eine unbekannte Täterschaft dem Haus genähert und aus einem Unter­stand einen Schuh entwendet habe. Die Kantons­polizei nahm die Ermittlungen auf. Bald darauf war sie sich sicher, die unbekannte Täterschaft gefunden zu haben: einen Fuchs.

In der Tatnacht seien im ganzen Quartier einzelne Schuhe verschwunden. Die Spuren an wieder­gefundenen Schuhen hätten eindeutig auf Wildtiere hingewiesen.

Dann nahm die Geschichte eine sonderbare Wendung.

«Berechtigte Zweifel»

Am 13. Juni 2021 meldete die SEM-Mitarbeiterin, Unbekannte hätten an ihrem Haus ein Plakat angebracht, auf dem zu einer «Demo gegen das Lager­system» aufgerufen werde. Als die Spuren­sicherung vor Ort auftauchte, hatte die Frau entgegen den Anweisungen der Polizei das Plakat bereits entfernt und entsorgt. Als Beweis für die Existenz des Plakats legte sie etwas anderes vor: ein Foto. Sie machte dabei sehr genaue Angaben: «Ich putzte die Fassade mit einem Schwamm.» Das Plakat habe sie dann, nach Rück­sprache mit einem Beamten des Bundesamts für Polizei, entsorgt.

Die Polizei untersuchte den Vorfall akribisch, begutachtete und fotografierte den Tatort aus allen möglichen Perspektiven. Am Ende kam sie zum Schluss, dass die Wand auf dem Foto nicht identisch war mit der Wand, an die das Plakat angeblich hingeklebt worden war: Die Oberflächen­struktur der Hauswand der betreffenden Liegenschaft «unterscheidet sich deutlich von den Strukturen der Wand mit dem Plakat», heisst es in der Dutzende Seiten umfassenden Spuren­analyse vom 24. Juni 2021.

Auch die Aufnahmen einer zuvor angebrachten Überwachungs­kamera hätten nichts ergeben. Zudem konnte die Spuren­sicherung vor Ort keine Reinigungs­spuren feststellen. Als sich die Kriminal­techniker nach dem Reinigungs­mittel erkundigten, sagte die SEM-Mitarbeiterin, sie habe dieses vom lokalen SP-Sekretariat ausgeliehen und es mittler­weile zurück­gegeben.

Die Techniker kontaktierten das SP-Sekretariat, aber dort verneinte man, «irgendwelche Reinigungs­mittel erhalten zu haben oder solche bei Frau Muster abgeholt zu haben».

Vermerkt ist im Polizei­bericht auch ein Telefon­gespräch mit einem weiteren SP-Mitarbeiter, der als möglicher Empfänger des Reinigungs­mittels angegeben worden war: «Er hat nie irgendwelche Reinigungs­mittel erhalten oder gesehen. Er hat noch vor seinem Haus nachgeschaut, konnte aber keine Reinigungs­mittel feststellen und hat auch nie irgendwelche von Frau Muster erhalten.»

Die weiteren Ausführungen des Solothurner Kantons­polizisten lassen einen ziemlich ratlos zurück: Während des Telefonats habe es plötzlich an der Tür des SP-Mitarbeiters geklingelt, heisst es. «Als dieser darauf die Tür öffnete, veränderte sich seine Haltung. Er wirkte plötzlich gestresst und wollte das Telefonat so schnell wie möglich beenden.»

Die Polizei hatte laut internem Bericht «berechtigte Zweifel an den Aussagen der Geschädigten». Und weiter: «Gemäss dem Untersuchungs­bericht des Kriminal­technischen Dienstes muss davon ausgegangen werden, dass das fragliche Plakat nie an der Hausfassade der Liegenschaft Muster war.»

Beatrice Muster hielt jedoch an ihrer Darstellung fest. Auch nachdem die Bundes­anwaltschaft die Ermittlungen übernommen hatte.

Bei einer Befragung sagte sie der Bundes­anwaltschaft am 3. März 2022, sie habe das Plakat einfach so schnell wie möglich weghaben wollen, und die Spuren­sicherung habe sich drei Tage Zeit gelassen. «Mit dem Regen, welcher zwischen­zeitlich fiel, wundert mich das auch nicht ganz, dass sie nichts mehr gefunden hatten», sagte Muster der Staats­anwältin des Bundes.

Die Solothurner Polizei gibt sich im «Nachtrags­rapport» vom 5. Juli 2021 frustriert, weil das Ehepaar Muster nicht wirklich an der Aufklärung der Ereignisse interessiert gewesen sei. Es stehe ausser Frage, dass Frau Muster Ende Februar 2021 zusammen mit anderen Angestellten des SEM durch eine unbekannte Täterschaft bedroht worden sei, hält die Kantonspolizei Solothurn fest. Doch: «Während die Kapo SO jedoch intensiv und mit sehr grossem Aufwand die Täterschaft zu ermitteln versuchte, fehlte uns später oft die Unterstützung von Frau Muster», heisst es im Rapport. «Sie erstattete nie direkt und sofort eine Anzeige bei der örtlichen Polizei, obwohl ihr das richtige Vorgehen mehrmals durch den Schreibenden und durch Kollegen der Bundes­behörden aufgezeigt wurde.» Sie habe leider immer zuerst ihre Vorgesetzten und den Bundes­sicherheits­dienst informiert.

Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Herrn Muster um einen Polizei­beamten handelt, ist auch die folgende Aussage aus dem Polizei­bericht erstaunlich: «Erschwerend kam für uns dazu, dass trotz entsprechender Orientierung nie richtig eine Spuren­sicherung durchgeführt werden konnte, weil die Familie Muster die Spuren nicht geschützt oder wie im jüngsten Fall auch vernichtet hat.»

Der «jüngste Fall» bezieht sich auf die Angelegenheit mit dem Plakat an der Hauswand.

Weiter heisst es im Polizeibericht: «Auch als angeblich Wahlplakate der SP beschädigt oder entfernt wurden, wollte Frau Muster das in den Medien veröffentlichen.» Dabei habe sich durch die Ermittlungen dann gezeigt, «dass diverse Plakate nach einem Sturm am Boden lagen und sämtliche Parteien davon betroffen waren».

Beatrice Muster sagte gegenüber der Bundes­anwaltschaft, sie habe die Polizei nicht direkt informiert, weil sie deren Vorgehen als «sehr unprofessionell» empfunden habe. Sie habe sich, anders als vom Staats­sekretariat für Migration und vom Bundes­sicherheits­dienst (BSD), von der Kantons­polizei nicht ernst genommen gefühlt.

«Ich habe das auch SEM-intern angesprochen, dass die Zusammen­arbeit mit der Kapo doch schwierig war», hält sie fest. «Die Unterstützung durch den BSD war viel grösser. Ich war aber so froh, dass es bei uns intern einen solchen Zusammenhalt gab. Es war nicht ganz einfach. Wenn man in einer solchen Situation war, ist man froh, dass man einen solchen Rückhalt hat. Und das fehlte mir bei der Kantons­polizei. Die Zusammen­arbeit war schlecht. Man tat diese Geschehnisse ab mit Worten ‹jaja, das war sicher nur ein Kinder­streich›, man tat es als Lappalie ab. Beim Vorfall mit den Schuhen sagte man mir beispiels­weise, das sei ein Fuchs gewesen.» Beatrice Muster wollte sich auf Anfrage der Republik nicht äussern.

Verdächtig, weil sie die Aussage verweigerte

Auch der Regionen­chef Jura-Nord der Kantons­polizei Solothurn wollte sich auf Anfrage nicht zu seinem Bericht äussern. Das sei Sache der Bundes­anwaltschaft, sagte er. Die Bundes­anwaltschaft hat die Wider­sprüchlich­keiten in den Aussagen des Ehepaars Muster nie weiter untersucht. Stattdessen vernahm sie junge Frauen und Männer aus der Region als Auskunfts­personen ein, die sich telefonisch oder per E-Mail bei Beatrice Muster über die Zustände beschwert hatten. Vom Zerschneiden von Bremskabeln oder vom Verstümmeln einer Katze distanzierten diese sich ausnahmslos.

Damit beginnt die nächste erstaunliche Episode dieser Geschichte. Denn bei einer dieser Personen konstruierte Simone Meyer-Burger, die Staats­anwältin des Bundes, einen «dringenden Tatverdacht».

Gegen die junge Frau, nennen wir sie Karin Müller, lag nämlich nichts vor ausser der Tatsache, dass sie bei der Einvernahme durch die Bundes­anwaltschaft von ihrem Recht der Aussage­verweigerung Gebrauch gemacht hatte.

Das machte ihr die Staats­anwältin zum Vorwurf.

Im Schweizer Straf­prozess­recht heisst es: «Als allgemeiner Grundsatz des Straf­prozess­rechts ist anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu seiner Belastung beizutragen. Der in einem Strafverfahren Beschuldigte ist demnach aufgrund seines Aussage­verweigerungs­rechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen.»

Aber genau das geschah im Fall von Karin Müller: Weil sie bei ihrer Befragung als Auskunfts­person im August 2021 von ihrem Recht Gebrauch machte, die Aussage zu verweigern, stellte die Staatsanwältin des Bundes sie unter «dringenden Tatverdacht» für die vorliegenden Delikte: von Tierquälerei bis zum Durch­schneiden der Bremskabel. Sie beantragte zudem eine rückwirkende Telefon­überwachung von sechs Monaten, die vom Gericht prompt bewilligt wurde.

Aufgefallen war der Staatsanwältin auch die Tatsache, dass Karin Müllers E-Mail-Nachricht «selbst redigiert» gewesen sei, also eigene kritische Gedanken zu den Vorgängen im Bundesasyl­zentrum enthielt: Das sei in der Summe verdächtig und stelle einen «relevanten Bezug zu den mutmasslichen Straftaten her».

Im «Gesuch um Genehmigung einer Überwachung des Post- und Fernmelde­verkehrs» der Bundes­anwaltschaft vom 6. August 2021 klingt die Konstruktion zur Tatverdächtigen so: «Karin Müller wurde am 4. August 2021 zum Versand ihrer Mail an Beatrice Muster befragt, wobei sie jedoch – nach Bekanntgabe ihrer Personalien – die Aussage vollumfänglich verweigerte. Karin Müller verhielt sich während der gesamten Befragung, wie es in links­extremistischen Kreisen praktiziert und auf einschlägigen Seiten proklamiert wird, wobei dieser Eindruck durch ihr persönliches Auftreten unterstrichen wurde. Im Vorfeld zu dieser Befragung konnte zudem festgestellt werden, dass sie das Drehkreuz, um auf das Areal des Verwaltungs­gebäudes am Guisanplatz 1 zu gelangen, zusammen, das heisst gemeinsam, mit einer unbekannten, männlichen Person passierte. In der Folge wurde das Verfahren mit heutiger Verfügung auf Karin Müller ausgedehnt.»

Die Bundes­anwaltschaft schreibt auf Anfrage der Republik, die Aussage­verweigerung sei nur Teil des Sachverhalts, nicht aber des Tatverdachts. «Seitens Bundes­anwaltschaft halten wir fest, dass einer beschuldigten Person beziehungs­weise einer Auskunfts­person kein Nachteil erwächst, wenn sie von ihrem Aussage­verweigerungs­recht Gebrauch macht; so auch nicht in diesem Fall.» Der dringende Tatverdacht habe sich durch die verfasste Mail und den Umstand ergeben, dass Karin Müller bei der Einvernahme zu zweit aufgetaucht sei, wo man doch aufgrund der Zeugen­aussage von Beatrice Muster auch von zwei Tätern ausgegangen sei. Zudem wohne sie in der Region Basel, wo sich die Vorfälle abgespielt hätten.

Die E-Mail, die Karin Müller gemäss den Akten mit ihrem Klarnamen am 17. März 2021 an Beatrice Muster geschrieben hatte, war offensichtlich keine Drohung, keine Ehrverletzung, keine «politisch motivierte Gewalttat».

Sie war eine Aufforderung, die Vorfälle und Vorwürfe im Bundes­asylzentrum Bässlergut zu untersuchen: «Es kann nicht sein, dass rassistische und menschenrechts­verletzende Tätigkeiten von Menschen begangen werden, die die Sicherheit und den Schutz von bedürftigen Menschen zu gewährleisten haben. Wir fordern, dass umgehend Untersuchungen eingeleitet, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und diese unmenschliche Gewalt gestoppt wird. Kämpfen wir zusammen für eine solidarischere Welt!»

Im März 2022, so bestätigt die Bundesanwaltschaft auf Anfrage der Republik, wurde das Strafverfahren gegen Karin Müller rechtskräftig eingestellt und das Verfahren gegen unbekannt sistiert.

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