Strassberg

Die Erschöpfungs­gesellschaft

Menschen sind keine Dampfmaschinen. Weshalb es seltsam ist, davon zu sprechen, dass sie ausbrennen.

Von Daniel Strassberg, 14.06.2022

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
0:00 / 14:35

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Eigentlich wollte ich meine Kolumne für drei Monate aussetzen, um einem Burn-out vorzubeugen. Die Work-Life-Balance war aus dem Gleich­gewicht geraten, und meine Energie­reserven gingen allmählich zur Neige. Ich musste dringend auftanken.

Als mich die Redaktion aber bat, die Pause zu verkürzen, gab ich nach. Das Gefühl, unentbehrlich zu sein, schmeichelte meinem Narzissmus doch zu sehr. Allerdings nahm ich mir vor, das Burn-out selbst zum Thema zu machen, gleichsam als Revanche.

Das Burn-out ist das Leiden unserer Zeit schlechthin. Es beschreibt eine unüberwindbare Erschöpfung, die im Unter­schied zur Depression, zur Fatigue oder zu Long Covid nur superachiever trifft. Der Psycho­analytiker Herbert Freudenberger, der das Burn-out 1974 erstmals beschrieb, sprach deshalb von der super-achiever sickness. Ausgebrochen war die Epidemie in den Pflege­berufen, sie sprang bald auf die Lehrerschaft über und wurde dann von den Managern gekapert. Heute hat sie bereits die alternative Szene erreicht, wo viele Aktivistinnen über Burn-out klagen. Von Journalistinnen ganz zu schweigen.

Im Gegensatz zur Depression adelt das Burn-out die Betroffenen. Wer unter Burn-out leidet, beweist damit, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt pausenlos gearbeitet hat und dennoch nicht zur Maschine mutiert ist. Sie ist ein ermüdbares menschliches Wesen geblieben.

Folgerichtig gehört das öffentliche Bekenntnis beinahe obligat zum Burn-out. Ein besonders bizarres Schauspiel bot die St. Galler Professorin Miriam Meckel, die 2010 an einem Burn-out litt, noch während des Burn-outs ein Buch darüber schrieb – und mit der Empfehlung, kürzer­zutreten, während Monaten von Talkshow zu Talkshow hetzte.

Ausgebrannt, Energie, Auftanken, Balance, Leistung: Die gesamte Metaphorik des Burn-outs entstammt der Welt der Motoren. Das Feuer, das lange, zu lange gebrannt hat, ist nun erloschen. Zu stark hat es den Körper beansprucht, die Energie ist aufgebraucht, er muss neu betankt werden. Der Mensch versteht sich offenbar als Verbrennungs­motor, der Wärme in Arbeit umwandelt und dabei Energie verbraucht.

Wie eine Dampf­maschine.

Tatsächlich veränderte die Dampf­maschine, die James Watt Ende des 18. Jahrhunderts in Glasgow erfand, nicht nur die Technologie, die Ökonomie und die soziale Struktur der westlichen Welt – Stichwort industrielle Revolution –, sie wurde auch zum Kondensations­keim eines neuen Denkens über den Menschen und die Natur.

Das Unerhörte, Unglaubliche, Revolutionäre und Wunderbare der Dampf­maschine war nämlich die Tatsache, dass sie selbst Kraft erzeugte; sie war nicht mehr auf eine externe natürliche Kraft­quelle wie Wind, Wasser oder Ochse angewiesen. Damit war sie nicht ortsgebunden.

Bislang war die Erzeugung von Kraft Gott vorbehalten gewesen, der Mensch konnte die natürlichen Kräfte höchstens nutzen. Nun aber konnten Menschen auch die letzte Gott vorbehaltene Kunst selbst übernehmen.

Damit gab es keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen Gott und den Menschen, beide waren in der Lage, Leben zu erschaffen, was damals hiess, eine Maschine zu bauen, die Wärme in Arbeit (Kraft mal Weg) umwandelt: Gott schuf den menschlichen Körper, der Mensch baute die Dampf­maschine.

Ein Herr Alderson (ich nehme mal an, dass es ein Herr war) gab im Jahre 1834 seiner Begeisterung darüber Ausdruck:

In der Eigenschaft der Dampfmaschine, sich selbst zu regulieren und alle Bedürfnisse zu befriedigen, liegt die grosse Schönheit dieser Erfindung. Es ist gesagt worden, dass nichts, was von Menschen­hand geschaffen wurde, dem tierischen Leben so nahe kommt. Die Wärme ist das Prinzip ihrer Bewegung; ihre Röhren haben einen Kreislauf, der dem des Blutes in den Adern der Tiere gleicht, mit Ventilen, die sich in bestimmten Zeitabständen öffnen und schliessen; sie ernähren sich selbst, scheiden nutzlose Teile ihrer Nahrung aus und beziehen aus ihrer eigenen Arbeit alles, was für ihren eigenen Unterhalt notwendig ist.

M. A. Alderson: «An Essay of the Nature and Application of Steam. With an Historical Notice of the Rise and Progressive Improvement of the Steam-Engine», Seite 44–45, 1834.

Ein neues Bild der Natur war entstanden: Der Kosmos ist ein geschlossenes System, das aus unendlich vielen kleinen Wärmekraft­maschinen besteht, die in beständigem Austausch miteinander stehen. Die Bewegung, die eine Maschine aus Wärme produziert, braucht eine andere Maschine, um aus ihr wieder Wärme zu erzeugen. Die in der Dampf­maschine produzierte Wärme setzt beispiels­weise Räder in Bewegung, die wiederum einen Generator antreiben.

Am 23. Juli 1847 gab der Arzt und Physiker Hermann von Helmholtz in einem Vortrag unter dem Titel «Über die Erhaltung der Kraft» vor der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin dieser schönen neuen Welt eine mathematisch fundierte Theorie: In einem geschlossenen System geht keine lebendige Kraft verloren. Später wurde die lebendige Kraft Energie genannt, und der erste Hauptsatz der Thermo­dynamik war formuliert. Demzufolge gibt es Energie an sich nicht, sie ist bloss das, was verschiedene Formen – Wärme, mechanische Kraft, Bewegung, Magnetismus, Elektrizität – annehmen und nicht verloren gehen kann.

Die herausragende Leistung von Helmholtz bestand darin, den Gedanken, dass der Kosmos ein geschlossenes System sei, in welchem Energie laufend umgewandelt wird, bis ans Ende gedacht und mathematisch schlüssig bewiesen zu haben. Er hatte Gott als erste Quelle der Kraft gleichsam aus dem Universum gerechnet. Zudem wies er nach, dass auch Muskeln Wärme in Kraft umwandeln. Jahre später schrieb ihm sein Freund Emil du Bois-Reymond enthusiastisch:

Die Muskelfaser ist eine Arbeitsmaschine, aufgebaut aus eiweissartigem Material. Ähnlich wie eine Dampfmaschine aus Stahl, Eisen und Messing, etc. Wie nun in der Dampfmaschine zur Krafterzeugung Kohle verbrannt wurde, so wurde in der Muskel­maschine Fett oder Kohlenhydrat verbrannt.

Menschen und Maschinen sind gleichwertige Teile eines universellen Tausch­systems, in dessen Epizentrum die Energie steht. Die Leistungen, die Dampf­maschinen, Wind, Wasser, Pferde oder Arbeiter erbringen – die Menge der Energie, die in Kraft umgewandelt wird, gemessen in PS oder Watt –, können nun präzise berechnet und damit auch miteinander verrechnet werden.

Pikanterweise fand ein Bierbrauer die entsprechende Formel: James Prescott Joule. Joule wollte heraus­finden, wie er sein Bier billiger produzieren konnte, deshalb musste er die physikalische Leistung seiner Maschine in Geldwert umrechnen können. Dies ermöglichte ihm, den Wert von Menschen mit dem Wert von Maschinen zu vergleichen. Eine Dampf­maschine entspricht etwa zwanzig Arbeits­kräften, fand er heraus.

Oder wie es Karl Marx ausdrückt: «Der Tausch­wert der Ware ist vorhanden als Materiatur derselben gleich­förmigen Arbeits­zeit.» Arbeit ist mit anderen Worten die Lebens­zeit, die der Arbeiter verkaufen muss, um zu überleben.

Es ist übrigens nicht ohne Ironie, dass an der Universität Glasgow, nur einige Büros neben James Watts Werkstatt, gerade eine bahnbrechende ökonomische Arbeit verfasst wurde, die die Welt auch als universelles Tausch­system betrachtete. Adam Smith schrieb an «The Wealth of Nations» («Der Wohlstand der Nationen»).

Diese schöne neue Welt wäre perfekt und der Fortschritt unaufhaltsam gewesen, wäre da nicht dieser kleine, aber entscheidende Unterschied zwischen Maschinen und Menschen. Im Unterschied zu Maschinen ermüden Menschen. Die Menschen waren die schwächsten Glieder der Tausch­kette und die Ermüdung das grösste Hindernis für den ungebremsten Erfolg des Kapitalismus.

Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden deshalb enorme Anstrengungen unternommen, die Ermüdung zu erforschen. Die Umwandlung von Wärme in Kraft im menschlichen Körper erhielt bald auch einen eigenen medizinischen Namen, sie hiess fortan Stoff­wechsel. Man kann ohne Über­treibung behaupten, dass sich die medizinischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts wesentlich dem Problem der Ermüdbarkeit verdanken. Muskeln, Stoff­wechsel, Atmung, Herz wurden untersucht, um einen Weg zu finden, die Menschen «effizienter», das heisst weniger ermüdbar zu machen.

Helmholtz selbst, der den Satz von der Erhaltung der Energie formuliert hatte, erforschte zum Beispiel die Ermüdbarkeit von Frosch­muskeln.

Auch Karl Marx stimmte der Vorstellung zu, dass die Natur, die Ökonomie und das menschliche Leben auf dem Prinzip der ständigen Umwandlung von Wärme in Kraft beruhen. In ihrer ursprünglichen Form ist Arbeit Aneignung und Umwandlung der Natur, schreibt er. Durch den unmittelbaren Austausch mit der Natur fügt sich der Mensch in den universellen Kreislauf und wird selbst Teil der Natur – damit verwirklicht er sich selbst.

So weit sind sich Helmholtz und Marx einig.

Doch für Marx ist unter den Bedingungen des Kapitalismus Arbeit als Selbst­verwirklichung unmöglich, denn der Kapitalismus erlaubt nur Arbeit, die die Arbeiterin einem fremden Zweck unterwirft: Sie verkauft ihr Leben an den Kapitalisten, um überleben zu können. Der Tausch von Lebenszeit in Geld ist Ausdruck entfremdeter Arbeit, die physikalistische Reduktion des Menschen auf seine Leistung – Arbeitszeit mal Muskelkraft – ist eine Verletzung der Menschen­würde.

In einem Vortrag vor Arbeitern in Köln erklärt Marx: «Er [der Arbeiter] rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer seines Lebens. (…) Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit aufhört, am Tisch, auf der Wirtshaus­bank, im Bett.»

Angesichts der Zustände in den Fabriken wäre es auch ein Hohn gewesen, Arbeit als Selbst­verwirklichung zu bezeichnen. In den Fabriken haben die Maschinen die Macht übernommen, sie herrschen über die Körper der Arbeiter, sie bestimmen ihre Bewegungen, sie verfügen über ihre Zeit, und sie prägen ihr Denken. Die Maschine ist nicht mehr eine Erweiterung des Menschen, um dessen Arbeit zu erleichtern. Der Mensch ist vielmehr umgekehrt eine Prothese der Maschine geworden – wegen seiner Ermüdbarkeit überdies eine schlechte.

Gegen diese Herab­setzung des Menschen zur Maschinen­prothese erscheint im Jahre 1848, also kaum ein Jahr nach Helmholtz’ Entdeckung, ein flammender Aufruf, der zur revolutionären Verbesserung der menschen­unwürdigen Situation der Arbeiter aufrief: «Das kommunistische Manifest» von Karl Marx und Friedrich Engels. Dass der Arbeiter, so der Tenor, zu einem Energie­reservoir und zu einem Maschinen­teil degradiert worden sei, ist nicht natur­gegeben, sondern ein Skandal, der den Namen Entfremdung trägt.

Die Erschöpfung ist nur für den Kapitalisten ein rein quantitatives Problem. Für den Arbeiter ist Erschöpfung eine Folge davon, dass er über den Zweck seiner Arbeit nicht verfügen kann, dass er sein Leben verkaufen muss, um zu überleben, dass er zu einem blossen Anhängsel der Maschinen degradiert wird. Kurz: Sein Problem ist nicht die Ermüdung, sondern die Entfremdung.

Die heutige Medizin schliesst sich den Kapitalisten des 19. Jahrhunderts und den Ärzten in ihren Diensten an, wenn sie in der Erschöpfung ein rein quantitatives Problem sieht, das man mit ein wenig Kürzer­treten, ein paar Entspannungs­übungen und mit Achtsamkeits­training wieder in den Griff bekommt.

Der Ausdruck Burn-out verschleiert, dass die Erschöpfung kein quantitatives Problem ist, sondern auch mit der Sinnlosigkeit der Arbeit zu tun haben könnte, damit, nicht selbst über die Ziele der Arbeit bestimmen zu können, damit, gegen die eigenen Interessen oder moralischen Über­zeugungen handeln zu müssen, oder mit dem Gefühl, nichts bewirken zu können. Er verschleiert auch, dass die Erschöpfung, die inzwischen ja selbst (oder gerade?) in Aktivistinnen­kreisen ein zunehmendes Problem darstellen soll, weniger eine Folge der Arbeits­menge als eine Folge der nagenden Furcht ist, letztlich könnte alles für die Füchse gewesen sein.

Was tun? Vielleicht könnten wir damit anfangen, wenigstens den Begriff Burn-out fallen zu lassen. Denn wer sich selbst ein Burn-out andiagnostiziert, versteht sich, ohne es zu merken, als Dampf­maschine. Er spielt dabei den Mächtigen in die Hände, für die es weniger ermüdend ist, über Quantitäten zu streiten als über Inhalte, über Arbeits­mengen als über politische und soziale Konflikte.

Illustration: Alex Solman

Buchhinweis

Im März hat Daniel Strassberg «Spektakuläre Maschinen. Eine Affekt­geschichte der Technik» veröffentlicht. Darin wird unter anderem die Geistes­geschichte der Dampf­maschine aufgerollt.

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